„Der Krieg mit uns selbst“

Laut des russischen Verteidigungsministeriums sollen die „militärischen Aktivitäten“ in der Ukraine bei Kiew und Tschernihiw deutlich reduziert werden. Man wolle sich vor allem auf den Donbass konzentrieren. Allerdings gingen die Angriffe von russischer Seite auch nach dieser Ankündigung weiter. Es gab auch das erste Treffen seit Wochen zwischen Vertretern der Ukraine und Russland in Präsenz. Doch ob die Verhandlungen wirklich eine Annäherung gebracht haben, wird sich erst zeigen müssen. Bisher wird das eher skeptisch gesehen.

Belarussische Medien wie Zerkalo berichteten am Dienstag von einem Rückzug russischer Truppen aus der Ukraine nach Belarus, das der Kreml von Anfang an als Aufmarschgebiet für den Angriffskrieg genutzt hat. Immer wieder gab und gibt es Hinweise, dass der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko eigene Truppen in den Krieg schicken könnte, was bis heute allerdings nicht passiert ist. Ein Grund könnte sein, dass Lukaschenko die innenpolitischen Folgen eines solchen Schritts fürchtet. Denn die große Mehrheit der Belarussen scheint gegen den Krieg zu sein. Mittlerweile kämpfen mehrere Gruppen mit belarussischen Freiwilligen auf Seiten der Ukraine. Und im Land selbst haben Belarussen durch diverse Protestaktionen oder Sabotageakte beispielsweise an den Eisenbahnstrecken, über die russisches Gerät transportiert wird, ihren Unmut gegenüber dem Krieg zum Ausdruck gebracht. Ein weiterer Grund: Der Widerstand innerhalb der belarussischen Armee gegen den Kriegseinsatz ist einfach zu groß.

Die Belarussen befänden sich in einer komplexen moralischen und emotionalen Zwickmühle, meint der belarussische Autor Maksim Shbankou. Nach einer begonnenen friedlichen Revolution im Jahr 2020, die aber nicht zu einem Wechsel der Regierung geführt hat, seien sie nun Teil einer Gemengelage, die durch Lukaschenkos fatale Abhängigkeit vom Kreml entstanden ist. In dieser unheilvollen Situation würden sich auch bekannte Komplexe und Schuldgefühle bemerkbar machen und altbekannte Unsicherheiten in Bezug auf das kollektive Ich der Belarussen. In einem Stück für das belarussische Online-Portal SN Plus seziert der in Vilnius lebende Shbankou die momentanen Selbstvergewisserungsversuche und -möglichkeiten der Belarussen.

Belarussischer Protest gegen Russlands Krieg in der Ukraine / © Belarusian Canadian Alliance

Der Krieg arbeitet in zwei Richtungen: Er pustet die Hirne durch und erhöht den Grad des Wahnsinns. Klar, die Führung des Landes liegt im Koma. Unangenehm, wenn du selbst nicht im Land bist. Plötzlich schämst du dich, dass hier nicht geschossen wird und du nicht schießt. In die richtige Richtung. Irgendwie peinlich, jetzt shoppen zu gehen. Den Newsfeed zu scrollen – ist eine billige Ausrede: Scheinbar auf dem Laufenden zu sein, aber doch dran vorbei. Du wartest auf eine Invasion oder Raketen. Du weißt nicht mehr genau: Ist es gut oder schlecht, dass Vilnius so nah an Minsk liegt? Seltsam, Filme anzuschauen. Keine Filme zu schauen ist noch seltsamer. Uncool, Russisch zu sprechen. Und du weißt nicht, wo man eine kugelsichere Weste kauft. Unser Film hat Schnellvorlauf integriert. Der Plot schwimmt und schmilzt. Es bleiben nur die einfachen Dinge. Ohne Angst aufwachen. Rausgehen. Die Katze füttern. Sich selbst für schuldig an allem erklären. 

Die beste Frage des russisch-ukrainischen Krieges: Wie hält man es mit den Belarussen? Am häufigsten hört man das von den Belarussen. Alle anderen kümmert es nur schwach – im Zusammenhang mit Alltagsgeopolitik oder öffentlicher Rhetorik. Sie leben von anderem. Aber wir haben ja nur uns. Unsere Firmenstrategie ist die aggressive Selbstaufopferung: Wir verhören uns selbst, wir richten und verurteilen uns, wir nageln uns selbst ans Kreuz. Wenn man es durchschaut hat, tatsächlich eine hervorragende Form der traumatischen Eigenwerbung. 

Vielleicht nimmt man uns so wenigstens wahr. 

Wir sind schuld, dass wir Lukaschenko nicht besiegt haben

Die erste ukrainische Front ist dort, wo Kiew belagert wird, Iskander in Geburtskliniken einschlagen, ausgebrannte russische Panzer liegen und Wohngebiete flächenbombardiert werden. Die zweite ist in den Köpfen einzelner belarussischer Klugscheißer. Die sich nicht entscheiden können, was sie tun sollen: Reue zeigen oder gekränkt sein. Für alle Fälle wählen sie einfach beides.

Was hat uns gekränkt? Dass wir im Sandkasten vergessen wurden. Dass wir so großartig sind – aber nur schwach geliebt werden. Prag macht dicht, London will uns nicht, die Grenzer lächeln nicht.

Dass Europa uns einen Kampf schuldig ist – aber diese Schuld nicht einlöst. Dass Schengenvisa zu kurz sind und die Überweisungen zu lange dauern. Dass die Belarussen nicht im Trend und überhaupt kaum auf der Agenda sind – dabei war das Thema noch gar nicht durch. Dass sie uns blöde mit Lukaschenko verwechseln – und jetzt auch noch mit Putin.

Plus, wir sind schuld, dass wir Lukaschenko nicht besiegt haben. Und jetzt auch noch Putin.
Ein triumphales Tribunal. Humanitäre Selbstverstümmelung. Und was nun? Wir wurden so gemacht. Wir haben uns so gemacht. Vermeintliche Papierschiffkapitäne. 

In einer Situation, in der Dächer einstürzen und Züge brennen, fliegt unser kulturelles Gepäck wie der Koffer eines überstürzt Flüchtenden in alle Winde und legt intime Details grundlegender geistiger Übungen dem zufälligen Betrachter zum Urteil vor. Geistige Klammer namens postsowjetischer Intellektualismus.

Alles hier besteht aus populären Illusionen, ausgebremstem Transitiv und emotionalen Rückschlägen. In einer solchen nach fremden Vorbildern zusammengebauten Welt bewegen Klugscheißer die Massen und säen das ewig Gute, diktieren Bücher die Regeln, erhalten die Beleidigten Blümchen, triumphiert die Vernunft, herrschen höhere Werte. Und das klangvolle Wort eines Nobelpreisträgers wiegt mehr als eine Ladung Marschflugkörper aufs nächste heiße Ziel.

Wir warten auf private Tänze im Wahnsinn der globalen Katastrophe

Hier laufen zwei im postsowjetischen Raum populäre Legenden in einem gemeinsamen Schwung zusammen: intellektuelle Selbstverliebtheit und provinzielle Unterlegenheit. Erstere erlaubt es jedem beliebigen Individuum, das halbwegs „Habermas“ aussprechen kann, im Namen des besten Teils der Nation auf Sendung zu gehen. Letztere bringt einen dazu, sich beleidigt und minderwertig zu fühlen, selbst wenn man es in die höchste Liga geschafft hat. Der traumatische Messianismus bringt komplexbehaftete Helden zum Vorschein und fordert im Gegenzug obligatorische Knickse und regelmäßige Reue. Aber muss man überhaupt sagen, dass beide oben beschriebenen Märchen ausschließlich in unserer Fantasie existieren?

Die Nation ist eine Abstraktion. Das Volk eine Verallgemeinerung. Ein Konzept. Ein rhetorisches Mittel. Wollen die Russen Krieg? Eine inhaltslose Frage, die nach Konkretisierung schreit. Ist der Dichter schuld, dass er Schriftsteller und nicht Scharfschütze ist? Selbes Spiel. Oder: Ist Belarusse ein Makel oder ein Qualitätsmerkmal? Ebenso. Frag gefälligst konkreter.

Sich für die Hölle zu entschuldigen ist ausschließlich dann sinnvoll, wenn du – und zwar genau Du und nicht eine angenommene „Nation“ oder ein „Volk“ – irgendwie in der Lage warst, die Geschehnisse zu beeinflussen. Und das nicht getan hast. Mit anderen Worten, Reue erfordert Beteiligtsein.

Ein in Asphalt gewalztes Land möchte bestimmt nicht an einem Panzertango teilnehmen. Und ohne den verlieren alle Reueakte und weitere Wortakrobatik sofort ihren Wert, wenn wir den Mund aufmachen.
Noch eine Videoansprache. Noch eine Petition. Ein neues Wortpaket. Eine frische Geste. Und noch ein Kommentar hinterher. Wer hat denn gesagt, dass unsere Konzepte etwas wert sind? Wer hat entschieden, dass die Orks Partituren brauchen?

Wir sind schön, laut, leicht verbeult – und stehen noch auf einem leeren Bahnsteig. Wir warten auf private Tänze im Wahnsinn der globalen Katastrophe. Wir senden im Namen derer, denen das scheißegal ist. Wir sind bereit, fremde Schuld auf uns zu nehmen, die wir niemals begleichen können. Noch immer zu wenig Liebe? Stellt euch drauf ein, es wird schlimmer.

Es hat uns alle zugedeckt. So leben wir weiter.

Die zweite ukrainische Front – das ist der Krieg mit uns selbst. Mit der erdachten Mission und dem erträumten Status. Mit der Facebook-Brunft und der Youtube-Extase. Mit der ewigen Promo-Aktion der eigenen Minderwertigkeit und dem Pseudo-Partisanentum.

Ein jeder hat sein Gewicht. Seine Geschichte. Und seine Front. Wir brennen wie wir können.

Alles Weitere ist Agitation und Propaganda.
 

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