Mit einer analogen Kamera ausgerüstet, kehrt der 25-jährige Michail Kalaraschan aus Chisinau nach Transnistrien zurück. Er möchte die Fetzen seiner Kindheitserinnerungen zu einem Ganzen zusammenfügen und verstehen, wie die Menschen in dem De-facto-Staat, in dem er aufgewachsen ist, heute leben.
Als meine Eltern beschlossen, mich zu zeugen, dachten sie nicht, dass die Welt, in der sie bisher gelebt hatten, für immer zusammenbrechen würde. Und dass das große Land, das der Welt als Sowjetunion bekannt war, aufhören würde zu existieren – nicht nur auf dem Papier, das in der Belowesher Heide von den hohen Herrschaften unterzeichnet wurde, sondern auch in Wirklichkeit.
Moldauische Kampfjets, die über die Köpfe hinwegflogen, und Aufrufe, die Fenster mit Decken zu verhängen, damit die Scheiben bei den Explosionen nicht zersprangen, gaben noch nicht deutlich genug zu verstehen, dass die gewohnte Welt nie mehr wiederkommen würde. Das Verständnis dafür kam erst wesentlich später, als die Moderatoren auf den Fernsehbildschirmen im Ersten Kanal anfingen, von den Moldauern als „Arbeitsmigranten aus dem Nahen Ausland“ zu sprechen.
Ein Jahr danach wurde ich geboren. Als ich meinen ersten Atemzug tat, war mein Land bereits in zwei Teile gespalten: das linke und das rechte Ufer. Seitdem sind die Menschen, die jahrzehntelang Seite an Seite gelebt hatten, zu Feinden geworden. Sie haben eine Mauer des Unverständnisses errichtet und voneinander getrennt versucht, in dieser neuen, sich verändernden Welt zu sich selbst zu finden.
Transnistrien glich in vielem einem Jugendlichen, der versucht all dem zu trotzen, was die Vorfahren taten. Angefangen bei solch banalen Dingen wie Telefon, Währung, Armee und offizieller Rhetorik bis hin zum stolzen Ausruf der „Unabhängigen Republik“.
Weder 1993 noch 2017 hat es Unabhängigkeit gegeben. Im Grunde habe ich es nie wirklich verstanden: Ich bin in einer Familie geboren, wo der Vater Moldauer vom rechten Ufer ist und die Mutter Russin, aber auch vom rechten Ufer. All unsere Bekannten, Freunde, Verwandten lebten auch dort, am rechten Ufer. Noch zu Beginn der Perestroika, im Jahr 1985, beschlossen meine Eltern in eine sehr vielversprechende Industriestadt am linken Ufer zu ziehen und haben dort Wurzeln geschlagen. Auch ich musste sie dort schlagen.
Als kleiner Junge in kurzen Shorts und Sandalen sprang ich jede Woche in den alten, roten Saporoshez und fuhr mit meinen Eltern zu Oma und Opa ins Dorf am rechten Ufer, weg von Fabrikrohren und Politik. Mit dem Lauf der Zeit änderte sich nicht viel. Ich wurde größer, ging zur Schule, wo eine Transnistrien-Flagge hing, und Anfang September wurde zu Schulbeginn die transnistrische Hymne gespielt.
In der ersten Klasse saß ich da, mit einem Blumenstrauß in der Hand in einem etwas zu großen Sakko, und lauschte den Worten der Lehrerin zur Gründung der „Unabhängigen Republik“. „Mamalyshnik“, „Moldawaschka“ – solche Worte benutzten meine frischgebackenen Mitschüler, wenn sie jemanden beleidigen wollten.
Transnistrien umspülte mich, wie Wasser einen Stein umspült. Wasser formt den Stein, aber dafür braucht es viel Zeit. Ich beschloss, nicht so lange zu warten und machte mich nach der Schule auf ans rechte Ufer nach Chisinau.
Meine Muttersprache ist Russisch, auch wenn ich mich im Inneren als Moldauer fühle. Was bedeutet das für mich unterm Strich? In Transnistrien bin ich „der Moldauer“ und „innere Feind“. In Moldau bin ich russisch und „fremd“, trotz meiner Staatsangehörigkeit und inneren Zugehörigkeit zu dieser Nation.
Ich bin ein Fremder. Überall. Eine Heimat habe ich nicht. Es gibt nur Erinnerungsfetzen aus meiner Kindheit, die sich ganz und gar nicht mit der objektiven Realität jener Zeit decken. Mit diesem Gefühl lebe ich bis heute.
Solche wie mich bezeichnen die Dozenten meiner Universität, an der ich Vorlesung um Vorlesung drei Jahre lang studiert und meinen Master dennoch nicht gemacht habe, als „Personen mit diffuser Ethnoidentität“.
Wie dem auch sei, der Mensch ist ein neugieriges Wesen. Und so bin auch ich als Mensch neugierig – vor allem bei Fragen wie: Wer bin ich, woher komme ich, und warum ich?
Erfahrene Reisende sagen vielleicht, dass man sich selbst am besten versteht, wenn man in eine fremde Kultur eintaucht. Da wird dann sofort ein Marker von eigen und fremd aktiviert. Und so bin ich mit 23 nach Transnistrien zurückgegangen, um den Ort genauer zu erkunden, an dem ich geboren wurde und meine ersten 18 Lebensjahre verbracht habe.
Mit einem Dutzend 35 mm Filmen in der Hand entdecke ich meine Heimat für mich neu. Denn ab dem Moment meines ersten Atemzuges beschränkte sich meine „Heimat“ auf mein Elternhaus, die Betonstraße zur Schule, und ein Dutzend Dörfer, die ich in meinem ganzen Leben bloß aus dem Autofenster heraus auf dem Weg zu meinen Großeltern gesehen habe.
Ich fing an, Fotos zu machen – und das sind Fotos eines Menschen, der seine Heimat zum ersten Mal erblickt. Hin und wieder verstehe ich gar nichts, gelegentlich verspüre ich Angst, aber dennoch tauche ich weiter ein und verstehe, dass das „meins“ ist und dass mich niemand gefragt hat, ob ich überhaupt will, dass es meins ist. Diese Kultur ist ein Teil von mir und nichts ist dazu fähig, sie aus den Tiefen meiner Seele zu löschen.
Ich bin genauso alt wie Transnistrien, und wir durchleben beinahe zeitgleich dieselben psychologischen Krisen. Ich bin jetzt 25, fast 26, habe sondiert, wo mein Platz in der Welt ist. Von Transnistrien kann ich das nicht behaupten.
Alles, was ich tun kann, ist endlos viele Male Farbfilme in die Kamera einzulegen und genauso oft den Dnister zu überqueren, um die Atmosphäre dieses winzigen, von niemanden anerkannten Staates, praktisch im Herzen Europas, zu spüren. Um ihn mit den Augen eines Gleichaltrigen zu sehen.