Wer treibt hier wen vor sich her?

Lukaschenko muss zurücktreten, die Gewalt muss enden und die politischen Gefangenen müssen freigelassen werden: Diese drei Forderungen hatte Swetlana Tichanowskaja Mitte des Monats aufgestellt und dem Regime in Belarus eine Frist bis zum 25. Oktober gesetzt, andernfalls werde es einen landesweiten Generalstreik geben. 

Verschiedene Kommentatoren bewerteten diesen Schritt als gewagt. Denn sollten die Streiks, die heute begonnen haben, nicht so umfangreich und dauerhaft wie erwartet ausfallen, könnte das dem Ruf von Tichanowskaja und ihrem Team erheblich schaden.

Artyom Shraibman, unabhängiger Analyst und regelmäßiger Autor bei tut.by und Carnegie.ru, hatte sich zuvor ähnlich skeptisch geäußert. Nach den Massenprotesten vom Wochenende jedoch schreibt er auf seinem Telegram-Kanal, dass das Ultimatum schon jetzt erste Erfolge gezeigt habe. 

Im politischen Kampf ist kaum etwas so bedeutend wie die Frage, wer gerade den Ton angibt. Der September war ein Monat, in dem die Staatsmacht scheinbar dauerhaft den Ton angab. 

Nun passiert das Gegenteil, die Staatsmacht handelt inkonsistent: Mal wurde eine Demo [zur Unterstützung Lukaschenkos – dek] angesetzt, dann wieder abgesagt, mal gibt es politische Festnahmen, dann werden die Gefangenen wieder freigelassen, mal wird brutal auf der Straße eingegriffen, dann wieder nicht. 

Man kann es kaum anders beschreiben denn als nervöses Schwanken. Die Gründe für dieses Schwanken sind klar – es ist ist teuflisch schwer zu beurteilen, was nun mit dem Kredit von Russland ist, angesichts der Drohungen im [russischen staatsnahen Sender – dek] NTW und dem Druck wegen der Verfassungsreform. Flaut der Protest nun ab oder nicht? Und die Opposition lässt sich nicht spalten, wie sehr man auch draufhaut.

Vor diesem Hintergrund ist der erste Akt von Tichanowskajas Ultimatum gelungen. Der Protest ist zurück – zumindest in der Größenordnung des frühen September (über 100.000, vielleicht sogar 150.000 Teilnehmer). Morgen [Montag] ist natürlich der Tag X, aber selbst ohne landesweiten Generalstreik wäre das schon nicht mehr das völlige Versagen, das Skeptiker dem Ultimatum vorhergesagt haben.

Alles geschieht nach dem Muster, mit dem ich euch wohl schon auf die Nerven gehe: Wer den Ton angibt und ungewöhnliche Züge macht, der bringt seinen Gegner aus dem Gleichgewicht und bringt ihn dazu, Fehler zu machen.

Aus Angst vor wieder größeren Straßenprotesten ist die Staatsmacht gezwungen, ihre Taktik zu ändern. Das heißt: Entweder folgt eine neue Stufe an Repressionen oder ein noch deutlicheres Zurückweichen (die Freilassung von noch mehr politischen Gefangenen, ein schnellers Voranbringen der Verfassungsreform).

In beiden Fällen begibt man sich auf dünnes Eis, denn es könnte dem Protest ein Gefühl des Sieges vermitteln: das heißt, neuen Enthusiasmus, oder neuen Antrieb aus Wut über die Brutalität. Es wird eine wichtige Woche. 
 

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