Kampf der Kulturen

Auch Künstler, Musiker, Schriftsteller oder Kulturmanager sind seit dem 9. August 2020 Ziel staatlicher Repressionen in Belarus. Bei den sogenannten Hinterhofkonzerten im Herbst 2020 wurden dutzende Musiker festgenommen. Uladzimir Liankevich, der ehemalige Frontmann der Band TonqiXod, landete sogar zweimal im Gefängnis. Auch überprüfen staatliche Stellen aktuell, ob der Roman Die Hunde Europas von Alhierd Bacharevich als „extremistisch“ eingestuft und damit verboten wird. Zum Jahrestag des Beginns der Proteste haben bekannte Vertreter und Vertreterinnen dieser alternativen Kultur in einem dekoder-Special von der Erschütterung erzählt, die Belarus mit der Eskalation der Gewalt erfahren hat. In einer Erhebung stellt der unabhängige Schriftstellerverband Belarussisches Pen-Zentrum, der wie über 100 NGOs von den Behörden liqudiert wurde, 621 Fälle fest, bei denen die Rechte von Kulturschaffenden verletzt wurden – und zwar allein für das Jahr 2021. Ist das ein Zeichen dafür, wie machtvoll die neue Kultur tatsächlich ist?

Warum es die belarussischen Machthaber auf die sogenannte alternative Kultur abgesehen haben und was die aktuellen Entwicklungen für die Kulturszene bedeuten, analysiert der Philosoph, Kulturwissenschaftler und Medienanalytiker Maxim Shbankou in einem Beitrag für das belarussische Medium Belorusy i rynok.

Störung des Wertegleichgewichts

Es ist kein Geheimnis, dass bei uns – schon seit langer Zeit – nicht nur die eine Kultur existiert, sondern kulturelle Strömungen unterschiedlicher Qualität, Ausrichtung, ideeller Basis und Prinzipien. Wenn wir über die staatliche Kultur sprechen, so ist das stets, und in letzter Zeit verstärkt, eine Kultur der Loyalität, eine patriotismusgeleitete Kultur. Ihr zentrales Ziel war nicht die Entwicklung oder Suche nach neuen Formen, sondern vielmehr die Aufrechterhaltung quasisowjetischer Traditionen. Es ist also eine Kultur, und das sage ich auf Russisch, des „Bestandsschutzes“. Die auf staatlicher Ebene oft beschworene Stabilität wird im Kulturbereich durch eben diese Einförmigkeit sichergestellt, durch die Erziehung zu Staatsloyalität und zur Einsicht, dass Staat und Gesellschaft praktisch eins sind und all das geschützt werden muss, da das unser Schicksal ist, unser Land und so weiter und so fort.

Auf der anderen Seite entwickelte sich auf der Ebene der, sagen wir, nichtstaatlichen oder alternativen Kultur viel Interessanteres und Komplexeres. Dort gab es kreatives Suchen, Experimente, Versuche, neue Beziehungen zur Vergangenheit herzustellen, zu kulturellen Traditionen, zum globalen Kontext – als nichtlineare Entwicklung. Die staatliche Kultur war stets einer konventionellen ideologischen Linie unterworfen (da unser System aber nie eine eigene Ideologie hatte und sie auch jetzt nicht hat, gibt es lediglich sekundäre, aus der Sowjetzeit entliehene Prioritäten und Werte). Die andere Kultur hingegen zeichnete sich gerade durch ihre Vielfältigkeit aus, durch Buntheit, Patchwork, Mosaik, eine viel breiter gefasste und interessantere schöpferische Bandbreite – und selbstverständlich auch durch den Charakter aller am Prozess Beteiligten und natürlich die Ergebnisse. Ich kann mit vollem Ernst und Verantwortungsgefühl sagen, dass die wertvollsten und interessantesten Ereignisse im Kulturbetrieb der vergangenen 20 Jahre in der freien, nichtstaatlichen Sphäre verortet sind, in einer Kultur, die nicht auf das Züchten von Loyalität, sondern, im Gegenteil, auf die Herausbildung einer gewissen kulturellen Freiheit abzielt, und dabei die unterschiedlichsten kulturellen Strömungen und Traditionen umfasst.

Die politische Krise, in die wir im Sommer des vergangenen Jahres geraten sind, offenbarte die Stärke der unabhängigen Kultur, denn eben da begann ein sehr kraftvoller, explosiver kultureller Aktivismus, es entstanden unzählige neue visuelle Arbeiten, eine neue Street Art, eine neue literarische samt poetischer Lexik, neue musikalische Werke und vieles mehr. Es gab viele spontane Reaktionen auf die Situation, die eine für die stagnierende staatliche Kultur ungewöhnliche und komplett andere Dimension unserer Kunst bedeuteten. Es ist klar, dass in der Situation der politischen Konfrontation, in der der Staat sehr gewaltsam und energisch sein Recht zur Lenkung der Bevölkerung verteidigt, die kreative, „andere“ Kultur natürlicherweise zu einer Kultur des Dissens wird, einer Kultur der Unruhe, einer Kultur des intellektuellen Nonkonformismus und ideologischen Widerstandes. Und ebenso klar ist, dass eine solche Kultur des Dissens, eine Schule des freien Denkens und der unabhängigen Realitätsdeutung – in diesem Moment, meines Erachtens vollkommen angebracht, vom Staat als Problemquelle angesehen wird. 

Wobei sich die staatliche Kultur in dieser Situation zusehends selbst eliminierte. Gefragt waren starke Slogans und frische Ideen, doch die staatliche Kultur vermochte nur eine Sammlung vermoderter Schablonen und banaler Verweise auf sowjetische Heldensprüche hervorzubringen. Das System der staatlichen Kulturindustrie stand also völlig hilflos vor den Herausforderungen einer neuen Epoche. Und diese Selbsteliminierung parallel zur Kulturrevolution, die meiner Ansicht nach im Sommer und Herbst des vergangenen Jahres stattfand, führten in der Summe zu einer Störung des Wertegleichgewichts. Oder dem, was die Machthaber für ein Wertegleichgewicht hielten. 

Es zeigte sich, dass die ideologisch stabile Propaganda die Energie des Dissens, die zu jener Zeit im Umfeld der unabhängigen Kultur ausbrach, nicht blockieren konnte. Das Gefühl der Bedrohung, das mit der massenhaften Veränderung der grundlegenden Weltanschauung einherging, als ein beträchtlicher Teil der Nation plötzlich auf einer anderen Welle unterwegs war, führte daher tatsächlich zu einem Krieg der Kulturen, zu einer Konfrontation mit einer für den Staat völlig unverständlichen, feindlichen und verstörenden Sicht auf die Dinge.

Der Feind muss vernichtet werden, der Gegner muss vom Feld

Doch für einen Krieg der Kulturen braucht es einen angemessenen Gegner. In unserer Situation stand auf Seiten der offiziellen Kultur eine glatte Null: ein absolutes Kreativitätsdefizit, absolut unflexibles Schablonendenken und das Fehlen von energischen, markanten und überzeugenden Ausdrucksformen. Demgegenüber stand diese Kulturexplosion, die als ideologische Herausforderung, weltanschauliche Sabotage verstanden wurde. Aus ideologischer Konfrontation wurde Gewalt. Wenn ein Künstler nicht nur als Künstler, sondern auch als ideeller Gegner begriffen wird, wenn ein Musiker, ein Journalist oder wer auch immer aus dem kreativen Bereich nicht nur als anders, sondern als Feind aufgefasst wird, greifen plötzlich grundlegende Prinzipien des Selbstschutzes: Der Feind muss vernichtet werden, der Gegner muss vom Feld. Andere Mittel als die der Repression haben die Machthaber nicht gefunden. Das Standardvorgehen des bürokratischen Apparates wurde in Gang gesetzt: „Wer ist der Anstifter? Wer hat das genehmigt? Wer hat das losgetreten?“ Ein bürokratisches System, das ausschließlich auf Befehlen und Direktiven beruht, kann sich nicht vorstellen, dass die Gesellschaft in der Lage ist, eigenständig etwas umzusetzen. Der Dissens muss stets einen Regisseur haben, der Dissens braucht immer einen Strippenzieher. Und wen kann man am einfachsten als Strippenzieher abstempeln? Klare Sache: diejenigen, die herausstechen, diejenigen, die laut schreien, diejenigen, die sichtbare und markante künstlerische Zeichen setzen. 

Trauer über die Ausreisewelle? Das wäre falsch

Was die Frage der Emigration der Kulturschaffenden angeht, ob sie nun temporär ist oder nicht, so sei vorangestellt, dass jeder Mensch ein Recht auf die eigene Unversehrtheit hat. Jeder Mensch hat das Recht, sich und seine Nächsten zu schützen und zu verteidigen. Daher werde ich nie etwas Schlechtes über diejenigen sagen, die das Land verlassen. Der Mensch hat das Recht auf freie Entscheidung, Mobilität und Selbstschutz.

Zweitens scheint mir, dass unsere Überlegungen darüber, dass jemand das Land verlassen und uns hier im Stich gelassen hat, dass wir hier zurückbleiben und sie nicht bei uns sind und so weiter, auf Vorstellungen aus dem vorvergangenen Jahrhundert beruhen. Denn damals war es ein unglaublicher Verlust, wenn ein Mensch nicht mehr an deiner Seite war, da es nur minimale Möglichkeiten des Kontakts, geschweige denn der ideellen oder ästhetischen Kommunikation gab. Damals hatte eine Änderung deines geografischen Aufenthaltsortes mitunter tragische Folgen. Wie für so viele im Emigrantenmilieu kam ein Verlassen der Heimat faktisch einer Lebenskatastrophe, einem existenziellen Debakel gleich.

Heute bewegen wir uns jedoch in einem offenen, globalen Informationsraum. Heute ist die digitale Anwesenheit bedeutender und stärker als die physische Anwesenheit in einem konkreten Raum, vor allem im Bereich der Kultur. Darüber hinaus kann die physische Abwesenheit in einem Territorium der Gefahr und der zeitweise katastrophalen Ereignisse für Kulturschaffende durchaus zuträglich sein. Distanz schafft Reflexionsräume. Wenn du im Zentrum der Ereignisse stehst, bist du eine Geisel deiner Emotionen, eine Geisel der Gefühle. Um all das aber in Text, Musik, Bild, Film oder Ähnlichem abzubilden, braucht es eine gewisse Distanz. Deshalb können diese Distanzen und Grenzen dem kreativen Ausdruck seltsamerweise doch zum Vorteil gereichen.

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