Russland – coronaresistent?

Der Propagandaapparat der russischen Staatsmedien läuft in Corona-Zeiten auf Hochtouren: Der Virus, so heißt es oft, sei eine biologische Waffe der USA gegen China (oder Iran oder Russland). In der EU herrsche Chaos, die Menschen seien auf sich selbst gestellt, die aufziehende Wirtschaftskrise werde massive Opfer fordern. Insgesamt sei das liberal-demokratische System am Ende, die Ohnmacht der westlichen Politiker gleiche einer Bankrotterklärung.

Laut Staatsmedien gibt es jedoch eine Lösung: Wenn der Westen seine Sanktionen aufhebt, dann könnten China und Russland die restliche Welt retten. China habe bereits eindrückliche Erfolge im Krisenmanagement nachgewiesen, und Russland habe sowieso alles unter Kontrolle: Offiziell gibt es keine Corona-Toten und auch die vergleichsweise niedrige offizielle Zahl von 438 Corona-Infizierten sei Zeugnis für die umsichtige Politik des Kreml.

Viele russische Experten jedoch zweifeln sowohl diese Zahlen an als auch die Wirksamkeit der bislang beschlossenen Maßnahmen gegen den Coronavirus. Auch Wassili Wlassow gehört dazu: In The Insider fragt der Epidemiologe nach der Verlässlichkeit russischer Statistiken – und ob die Gesundheitspolitik des Landes tatsächlich gewappnet ist für die Pandemie. 

Russische Statistiken sollte man weder für zutreffend noch für vertrauenswürdig halten. Sogar die Statistiken zu Geburten- und Sterberaten sind in Russland unzuverlässig. Russische Demographen, die im internationalen Vergleich zu den Bestqualifizierten auf ihrem Gebiet gehören, haben die Zuverlässigkeit der Statistiken zu Geburtenraten und Sterblichkeit untersucht und kamen zu dem Schluss, dass man lediglich den Ganzjahresergebnissen vertrauen könne. Die Quartalsergebnisse dagegen seien äußerst zweifelhaft und würden teilweise ganze Regionen aussparen. Und dies, obwohl wir es hier mit langsamen Entwicklungen und gut berechenbaren Ereignissen zu tun haben: Geburt und Tod. Doch sogar diese Daten schwanken, und es ist oftmals nicht nachzuvollziehen, wo der Fehler liegt. Darüber hinaus gibt es sogar hier Raum für Manipulation.

Noch keine Corona-Routine

Was die derzeitige Situation betrifft, so ist sie erstens viel weniger geregelt und sehr viel ungenauer einzuschätzen. Das liegt daran, dass jede Statistik auf entsprechenden Daten beruht. Diese statistischen Daten werden in regelmäßigen Abständen erhoben – einmal im Monat oder einmal in der Woche. Daten zu epidemischen Erkrankungen – wie Tuberkulose, Ruhr und so weiter – werden routinemäßig häufiger erhoben. Ich bin jedoch sicher, dass das Coronavirus nicht dazugehört und daher noch keine tägliche Routine besteht. Wahrscheinlich wissen die Menschen, dass sie jeden Tag berichten müssen, nur ist es noch keine alltägliche Routine. 

Zweitens herrscht in allen Regionen ein Kampf. Und je nachdem, was im Kopf eines Funktionärs im Gesundheitsamt vorgeht, kann er den Informationsstrom verlangsamen oder die Dinge anders darstellen als sie sind. Es gibt viele Gründe, Meldungen zurückzuhalten oder Fakten absichtlich zu verzerren.

Probleme mit der Diagnostik 

Und schließlich drittens: Es gibt sowohl in Russland als auch in anderen Ländern Probleme mit der Diagnostik. Wenn sich eine Epidemie ausbreitet, so stellt man die Zahl der Erkrankten fest, indem man diejenigen Personen erfasst, die mit ihren Symptomen den „Normkriterien“ entsprechen. Zunächst fällt unter diese Definition ein Mensch, der sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort aufhielt und nun unter Fieber und trockenem Husten leidet – dann wird er statistisch erfasst. Mit dem Aufkommen neuer diagnostischer Mittel verändert sich die Definition der Normkriterien jedoch, und es kommt zu einer Neuberechnung. Wenn man sich die Grafiken über die Entwicklung in China anguckt, kann man sehen, dass die Zahl der Erkrankten um den 8. Februar herum einen Höhepunkt erreicht. Und warum? Weil die Chinesen ihre Normkriterien neu definiert haben, woraufhin Menschen, die mit ihren Symptomen am Tag zuvor der Definition der Krankheit noch nicht entsprachen, plötzlich ebenfalls in die Kategorie fielen.

Die Fallzahlen sind noch nicht allzu hoch, aber um die Entwicklung einzuschätzen, schauen wir uns an, mit welcher Geschwindigkeit die Zahlen steigen. Derzeit erleben wir einen raschen Anstieg der Erkrankungsfälle, wir haben zur Zeit eine sehr hohe Wachstumsrate. Die Anfangsphase einer Epidemie ist durch exponentielles Wachstum gekennzeichnet. Während die Verdopplungszeit der Fälle bei den schweren Epidemien in Europa, in Italien und Frankreich, drei bis fünf Tage betrug, betrug sie bei uns in den letzten Tagen, in denen der Anstieg der Zahlen begann, weniger als zwei Tage. Das bedeutet, dass in zehn Tagen die Zahlen um das Tausendfache zunehmen werden.

Manipulation von Meinung 

Darüber hinaus möchte ich noch einmal unterstreichen, dass wir den Zahlen, die uns vorliegen, nicht uneingeschränkt vertrauen können. Kürzlich sagte der angesehene Politologe Waleri Solowei, man habe ihm zugetragen, dass bereits 1600 Menschen [in Russland – dek] am Coronavirus gestorben seien. Er verweist sehr oft auf unbekannte Staatsdiener, die ihm Informationen „zugespielt“ hätten. So auch diesmal. Wie können wir sicher sein, dass er nicht selbst Opfer von Fehlinformationen ist? Umso mehr, da die Situation im Land momentan so ist, dass man aus politischen Erwägungen die öffentliche Meinung gezielt manipulieren kann. 

Als Beispiel für eine solche Manipulation kann man den Erlass sehen, am 22. April über die Verfassungsänderung abzustimmen. Dies ist auch eine Folge dessen, dass die Regierung so stark ist – in jedem beliebigen Moment kann sie sagen: „Kommt, wir verschieben es um einen Monat. Das kostet uns ein paar Milliarden, aber was soll’s.“ Den Obersten ist das egal, sie können die Dinge jederzeit ändern, wenn sie wollen.

Ist der Virus in Russland weniger bösartig?

Es ist unmöglich, Vorhersagen darüber zu treffen, wie sich die Situation in Russland entwickeln wird: ob so ähnlich wie in Italien oder schlimmer. Jeder, der sich darüber mit Überzeugung äußert, ist ein Schwachkopf. Erstens herrscht eine starke Ungewissheit hinsichtlich der Zahl der Erkrankten. Zweitens, wenn sich die Epidemie bei uns tatsächlich langsamer ausbreitet und die Daten stimmen sollten, kann dies zum Beispiel auch bedeuten, dass wir eine weniger bösartige Form des Virus haben. Der Virus mutiert schnell, seit November sind mehr als 20 Mutationen aufgetreten. Die Italiener haben möglicherweise eine besonders bösartige Form und die Koreaner vielleicht nicht.

Das Problem ist auch, dass die Möglichkeit unseres Gesundheitssystems, Massen von schwerkranken Patienten zu behandeln, gegen Null geht. Darüber hinaus haben wir ein sehr schlechtes Verwaltungssystem. So befindet sich zum Beispiel das epidemiologische Kontrollzentrum beim Rospotrebnadsor, während die Gesundheitsversorgung dem Gesundheitsministerium untersteht. Dieses wird jedoch nicht gerade von Experten geführt.

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