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„Du weißt nie, welche Risiken du eingehst”

Russland gilt nicht als attraktiver Investitionsstandort: Zwar sind die Personalkosten hier recht niedrig und die Qualifikation der Arbeitskräfte ist relativ hoch, doch bleiben notwendige Reformen zur Diversifizierung der Wirtschaft seit Jahren weitgehend aus. Mangelnde Rechtssicherheit erhöht die Investitionsrisiken, die Korruption belastet das Investitionsklima. Die rückläufigen Auslandsinvestitionen sind nicht zuletzt auch auf die westlichen Sanktionen zurückzuführen. 

Vor diesem Hintergrund war es für manche Wirtschaftsexperten nicht überraschend, als im Mai bekannt wurde, dass Morgan Stanley sich Anfang 2020 vom russischen Markt zurückziehen wird. Und das, obwohl es schon seit fast 25 Jahren in Russland aktiv ist. Nicht einmal während der massiven Wirtschaftskrise 1998 zog das US-amerikanische Investmentbanking- und Wertpapierhandelsunternehmen die Reißleine. Morgan Stanley plante und begleitete unter anderem die Börsengänge der Giganten Lukoil und Rosneft, in erheblichem Umfang bildete und prägte das Unternehmen die russischen Finanzmärkte.

Mit gewisser Wehmut schaut Rair Simonjan nun zurück auf das Vierteljahrhundert Geschichte von Morgan Stanley in Russland. Der langjährige Leiter der Investmentbank ist ein auch im Ausland bekannter und geschätzter Finanzfachmann. 

Vor dem Internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg erklärt er im Interview mit The Bell die Gründe für den Rückzug und führt auf, was getan werden müsse, damit Russland zu einem attraktiven Investitionsstandort wird.  

The Bell/Anastasia Stogney: Vor einigen Jahren haben Sie gesagt, dass die ausländischen Banken in Russland zwei Optionen hätten: bleiben und auf bessere Zeiten warten, oder gehen, ohne sich umzudrehen. Morgan Stanley, an dessen Spitze Sie 14 Jahre lang gestanden haben, hat vor Kurzem die zweite Option gewählt. Viele andere westliche Investmentbanken sind denselben Weg gegangen. Heißt das, dass niemand mehr an bessere Zeiten glaubt?

Rair Simonjan: In diesem Jahr ist es 25 Jahre her, dass Morgan Stanley seine Vertretung in Russland eröffnet hat. Es ist ein Jubiläum mit Tränen in den Augen. Alles hat sich seither verändert. Damals war Russland ein Land, das für alle interessant war, eine Terra incognita. Allen war klar, dass da die große Sowjetunion war, die sich öffnet, und man schnell seine Positionen abstecken muss. Alle wollten ein Stück vom russischen Kuchen abhaben.

Investmentbanken denken kurzfristig. Die Entscheidungsfindung läuft so: Lässt sich schnell Geld verdienen, eröffnen wir eine Niederlassung. Falls nicht, packen wir ein. Diese Art zu denken war vor allem bis 1998 typisch. Die Krise war eine kalte Dusche, und es war unklar – soll man bleiben oder gehen? Wir sind geblieben, weil der Optionswert [der Preis, den Standort angesichts einer ungewissen Zukunft zu behalten – dek] sehr gering war: Das Büro war nicht groß, die Kosten niedrig. Und als sich der Markt wieder öffnete, erwies sich das als richtig. 

Die ersten Jahre nach 2000 waren eine Zeit der Chancen mit dutzenden, wenn nicht hunderten von Börsengängen (IPOs). Allein Morgan Stanley hat in jenen Jahren hunderte Milliarden Dollar durch Anleihen und dutzende Milliarden Dollar durch IPOs nach Russland gebracht. Man kann sagen, wir waren der Inkubator der Milliardäre.

Was hat sich geändert? Warum glauben die Banken jetzt nicht mehr, dass man einfach abwarten muss?

Nach der Krise von 2008 wurde Russland schnell zu einem marginalen Markt, das Geschäft schrumpfte. Dann kamen die Sanktionen, und die Investmentbanken hatten nun wirklich nichts mehr zu tun. Ihre Beteiligung an der Privatisierung verlor ihren Sinn, denn wegen der Sanktionen stellte sich die Frage: Wenn wir dem Staat dieses Geld in die Kasse bringen, wissen wir denn, was er damit anfangen wird? 

Es wurde schwierig zu entscheiden, mit welchen Unternehmen man noch arbeiten kann und welche Papiere noch gefahrlos in der Bilanz auftauchen dürfen. Während die Amerikaner noch bei der OFAC oder ihrem Außenministerium nachfragen konnten, verfielen die Europäer schlicht in Starre. 
Die Compliance-Kosten wurden so exorbitant hoch, dass es schließlich einfacher war, sich nicht auf russische Vermögenswerte einzulassen. 

Es wurde schwierig zu entscheiden, mit welchen Unternehmen man noch arbeiten kann 

Eine Formel zur Berechnung der Rentabilität zu erstellen ist derzeit unmöglich. Denn es gibt zu viele Unsicherheitsfaktoren, zu viele „uncertainties“. Man kann das nicht mit der Effizienz von Investitionen in anderen Regionen vergleichen. Das Länderrisiko ist nicht nur einfach hoch, sondern verboten hoch.

Russisches Geld ist toxisch geworden, aber gleichzeitig steigen die Kapitalabflüsse. Wie passt das zusammen? Wohin fließt dieses Geld, wenn die Banken es nicht haben wollen?

Kapitalabfluss ist ein ziemlich unklarer Begriff. Darunter fällt tatsächlich ausgeführtes Geld, aber beispielsweise auch Verrechnungen russischer Firmen mit ihren Offshore-Ablegern. Wie man den Nettoabfluss daraus ersehen soll, ist unklar. Natürlich gibt es den. Aber ich kann mit Bestimmtheit sagen, dass der Kundenstamm der Banken, die das Geld von Großkunden verwalten, schrumpft. Auch die verwalteten Summen und die Bedeutung der russischen Kunden sind rückläufig.

Was glauben Sie: Sind Maßnahmen wie eine weitere Amnestie oder die Schaffung von Binnen-Offshoregebieten geeignet, um den Abfluss zu stoppen und zu erreichen, dass dieses Geld hier arbeitet?

Die Finanzmärkte im Westen sind deutlich komfortabler, schneller und transparenter. In Russland ist die Geldzirkulation langsamer. Aber vor allem weißt du nie, welche Risiken du eingehst, was man dir vorwerfen und zu welchen Zahlungen man dich heranziehen wird. Es gibt keine klaren Spielregeln und keine verbürgten Rechte. 

Es gibt keine klaren Spielregeln und keine verbürgten Rechte

Einer meiner Bekannten, der Eigentümer eines der größten Unternehmen Russlands, hat sein Vermögen gemacht, aber egal wie viele Anlagemöglichkeiten man ihm präsentiert – er lagert dieses Geld beharrlich auf Sparkonten. Ich kann ihn verstehen. Wenn sich die wirtschaftliche Lage plötzlich ändert, ist jedes Investment mit einem erhöhten Risiko verbunden.
Genau so denken auch die ausländischen Investoren. Ein ehemaliger Kollege von mir hat Ende 2012 einen Fonds aufgelegt, um in Startups zu investieren. Die Idee war einfach: in Produkte zu investieren, die es im Westen schon gibt, bei uns aber noch am Anfang stehen, wie Dienstleistungen, Internet und Hightech. Mir gefiel das, und ich habe dort eigenes Geld investiert. Dann kam 2014, der Rubel wertete um die Hälfte bis zwei Drittel ab, und alle Investments dieses Fonds in Rubel-Aktiva verloren einen Großteil ihres Wertes. 
Heute hat der Fonds weniger russische Startups im Portfolio als finnische. Die Zahl der russischen Startups ist um 90 Prozent gesunken, und die Rendite auf das in Russland investierte Kapital hat sich als deutlich geringer erwiesen als erwartet.

Zu den aktivsten westlichen Investoren in Russland gehörten die Fonds von Baring Vostok. Kennen Sie Michael Calvey? Was halten Sie von dem Fall?

Ich weiß nicht, was die eigentliche Crux bei diesem unternehmensinternen Konflikt ist. Aber gegenüber einem Investor wie Calvey, der seit mehr als 20 Jahren am Markt aktiv ist und einen tadellosen Ruf genießt, hätte man derartige Maßnahmen nicht ergreifen dürfen. Calvey hätte vor vielen Jahren aussteigen und sich mitsamt allen Vor- und Nachfahren ein schönes Leben machen können. 
Noch einmal: Ich weiß nicht, worum es bei dem Konflikt im Kern geht. Aber selbst wenn er einen Fehler gemacht hat, gibt es gesetzliche Wege, um damit umzugehen: die Gerichte in London und Russland. Aber doch nicht eine Verhaftung.
Das hat dem Investitionsklima in Russland enorm geschadet. Da hat sich jemand dem russischen Markt verschrieben, erfolgreich in hunderte Firmen investiert und ihnen geholfen zu wachsen. Und alle sehen, was man mit ihm machen kann, und denken sich: „Das wird mir auch passieren.“ Wer will da noch investieren?

Stimmt es, dass Investoren ein kurzes Gedächtnis haben? Was muss sich ändern, um zu garantieren, dass sie zurückkehren?

Es ist alles möglich, und wir haben ja gesehen, was nach der Krise von 1998 passiert ist. Aber es muss neue Möglichkeiten geben. Dafür müssen die Sanktionen aufgehoben werden. Sonst kann man nicht arbeiten. 

Glauben Sie persönlich, dass die Sanktionen aufgehoben werden?

Früher oder später wahrscheinlich ja. Ich bin zu Sowjetzeiten aufgewachsen und wir haben sozusagen die ganze Zeit mit Sanktionen gelebt. Man kann in einem solchen Regime überleben, und das sehr lange.
Aber aus Wachstumssicht ist ein autarker Weg zum Scheitern verurteilt. Bei Gefahr von außen beginnt sich eine Psychologie der belagerten Festung zu entwickeln. Du bist von Feinden umringt und nutzt alle Mittel der Mobilmachung. Das führt in die Sackgasse. Das ist die Sowjetunion Ende der 1970er Jahre

Was die Integration in die globalen Prozesse in Wissenschaft und Technik betrifft, sind wir an diesem Punkt angelangt. Wobei die Versuche zur Lösung der Situation heute oft nicht so radikal sind wie Ende der 1970er, als klar war, dass das System zum Scheitern verurteilt ist.

Im US-Kongress wird viel darüber gestritten, ob die Sanktionen gegen Russland gut funktionieren und ob sie überhaupt Wirkung haben. Wie beurteilen Sie das?

Sie funktionieren nach dem Prinzip der Schlinge um den Hals: Das Atmen fällt schwer, aber man überlebt. Sanktionen helfen nicht, das ist schlicht unmöglich. Aber sie bringen niemanden um. Dafür gibt es einfach keine Beispiele – schauen Sie sich Kuba oder den Iran an. Selbst kleinere Staaten als Russland schaffen es, über Jahre trotz Sanktionen zu überleben. 

Sanktionen helfen nicht, das ist schlicht unmöglich. Aber sie bringen niemanden um

Überhaupt ist das für Russland typisch: mobil zu werden, wenn sich die Schlinge um den Hals legt. So sehen das offensichtlich diejenigen, die sagen, dass die Sanktionen unsere Entwicklung voranbringen.

Die russische Regierung sagt seit Verhängung der Sanktionen gern, dass sie uns in gewisser Weise nutzen: In der Isolation könnten unsere Industrie und unsere Technologien wachsen. Finden Sie diese Logik falsch?

Das ist sowjetische Rhetorik. Natürlich kann man in der Isolation etwas produzieren. Aber das Produkt wird teurer und die Qualität wahrscheinlich schlechter sein. Es wird viel davon gesprochen, dass das Importembargo sich günstig auf die Landwirtschaft auswirke. Vielleicht ist das in einigen Bereichen auch so. Aber die Kosten dafür trägt der Verbraucher. Er erhält entweder keine Waren, oder aber Waren von geringerer Qualität oder zu höheren Preisen. 

Sanktionen können nicht helfen. Sie können Maßnahmen erzwingen, die man auch ohne sie hätte treffen können. Das ist das Prinzip „Not macht erfinderisch“. Das Ziel eines Staates besteht darin, ein transparentes Regelsystem zu schaffen, Bedingungen, unter denen sich die Menschen bemühen werden, etwas zu erreichen. 

Der Wirtschaftsexperte Sergej Gurijew hat in einem Interview vor Kurzem zwei wichtige Faktoren genannt, damit die Wirtschaft des Landes insgesamt prosperieren kann: die Möglichkeit eines Machtwechsels und den Kampf gegen Korruption. Welche würden Sie benennen?

Ich stimme Sergej zu, aber das klingt natürlich ziemlich abstrakt. Wenn die Wirtschaft wachsen soll, muss das Umfeld stimmen. Damit ein Mensch gewillt ist, zu investieren, muss er sich sicher sein, dass man ihn weder umbringt noch sein Geld wegnimmt. 

Damit ein Mensch gewillt ist, zu investieren, muss er sich sicher sein, dass  man ihn weder umbringt noch sein Geld wegnimmt 

Es muss ein unantastbares Eigentumsrecht und transparente Spielregeln geben mit einem funktionierenden Steuersystem, ohne unvorhergesehene Zahlungen und ohne lokale Kriminalität. Es läuft alles darauf hinaus, ob das Umfeld günstig ist oder nicht. Derzeit ist es nicht sehr günstig, aber das ist nicht tödlich.

Morgan Stanley war ein wichtiger Personallieferant für russische Großunternehmen, beispielsweise für Rosneft. Braucht Russland denn jetzt von woanders her Arbeitskräfte?

Die Arbeitskultur ist in der Tat komplett anders. Ich kenne russische Unternehmen ein wenig, und sie sind deutlich hierarchischer. Morgan Stanley hat eine flache Hierarchie – dort wirst du eingestellt, um Geld zu verdienen. Wenn du Unterstützung brauchst, wendest du dich an London oder New York. Aber du bestimmst selbst über die Deals. 

In Russland funktionieren die Großunternehmen nach dem Prinzip einer One-Man-Show, wie Feudalstaaten. Die Russen glauben nicht an Institutionen, sie glauben an konkrete Personen und an die Möglichkeiten, Befehle zu erteilen und Kontrolle auszuüben. Dieses System unterdrückt die Initiative. Das Risiko etwas zu tun ist höher als das Risiko es nicht zu tun.
 

 

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