Putin und der Weimar-Komplex

Die wahren Lehren aus 75 Jahren Kriegsende – unter diesem Titel ist dieser Tage ein umfangreicher Gastbeitrag im National Interest erschienen, einem konservativen US-Fachmagazin für internationale Beziehungen. Der Autor: Wladimir Putin. Ein Artikel, der schon seit längerer Zeit angekündigt war und eigentlich schon zum Tag des Sieges erscheinen sollte.

Die wohl größte Resonanz erfuhr der Artikel in Russland selbst: Historiker Alexej Miller schätzt in einem Interview auf Colta, dass Putins Text – verfasst in einer „Atmosphäre der Erinnerungskriege“ – eine „Bereitschaft zu einem respektvollen Dialog über komplizierte Fragen der Vergangenheit“ ausdrückt.

Für Kritik sorgte unter anderem die Darstellung, wonach die „Inkorporation“ der baltischen Staaten in die Sowjetunion 1939 „in Übereinstimmung mit völkerrechtlichen Normen und den Staatsgesetzen jener Zeit“ geschehen sei. Historiker Ivan Kurilla schreibt dazu auf Znak: „[…] das erinnert gleich an die jüngste Geschichte der Krim. […] Es wäre ehrlicher gewesen, gleich zu schreiben, dass die Annexion des Baltikums nicht dem System des Völkerrechts, sondern den nationalen Interessen der UdSSR entsprach.“

Der Soziologe Grigori Judin sieht in The New Times Parallelen zwischen Putins Blick auf Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg und auf Russland nach dem Kalten Krieg.

In Putins Artikel über die Ursachen des Zweiten Weltkriegs (wo neben offenkundigem Unsinn und verantwortungslosen Ausfälligkeiten übrigens auch völlig vernünftige Sachen drinstehen) sticht eine Auslassung besonders hervor. Mehrfach werden dort die Schuldigen der Katastrophe benannt: England, Frankreich, Polen, Wlassow, Bandera, Lenin und so weiter und so fort, verklausuliert sogar Stalins UdSSR.

Doch wer fast nicht genannt ist: Deutschland und der gesamte nazifaschistische Block.

Putins zwischenkriegsdeutsche Position

Das ließe sich natürlich so verstehen, dass Deutschlands Schuld offensichtlich ist; zu den Nazis gibt es keine Fragen, zu klären ist, warum man Deutschland derart wüten ließ. Doch das will Putin nicht sagen. Er nimmt von Anfang an eine [zwischenkriegs-]deutsche Position ein, eine Theorie, wonach der Zweite Weltkrieg vorbestimmt war durch die unehrlichen und erniedrigenden Bedingungen des Versailler Friedens nach dem Ersten Weltkrieg. An dieser Theorie ist natürlich beträchtlich viel Wahres. Jedoch ist Putin kein unbeteiligter Historiker, sondern der Präsident eines Landes, in dem Millionen ihr Leben gelassen haben, weil Deutschland sich entschlossen hatte, sich für die Kränkung und Erniedrigung an ganz Europa zu rächen.

Es ist durchaus verständlich, dass Putin mit den Augen Deutschlands auf die Zwischenkriegszeit schauen möchte: wegen des Weimar-Komplexes, des Empfindens von „Russlands“ „Niederlage“ im Kalten Krieg als Erniedrigung, die Rache fordert. Über die Parallelen zwischen Weimar-Deutschland und dem heutigen Russland ist genug gesagt und geschrieben worden. Nun fügt Putin dem noch eine hinzu: Man hat Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ungerecht erniedrigt, hat sich den Völkerbund untertan gemacht und die Nazis bekommen, „die geschickt mit den Gefühlen der Menschen arbeiteten“ und versprachen, „dem Land die einstige Stärke zurückzubringen“. Und nun hat man Russland nach dem Kalten Krieg erniedrigt, sich die UN untertan gemacht und es ist „bestens bekannt, wie das endete“ beim letzten Mal.

Putin unterscheidet sich von der gesamten intellektuellen Tradition Europas

Putin ist natürlich kein Nazi und hat kein Mitgefühl mit Hitler. Dennoch erscheint ihm das Auftauchen der Nationalsozialisten an der Macht und die Faschisierung der deutschen Gesellschaft als natürlich, vorhersehbar und nicht sehr interessant. Die Ursachen des Zweiten Weltkriegs müssen in der Architektur der globalen Politik gesucht werden: „Die deutsche Aggression gegenüber Polen war Ergebnis einer Vielzahl von Tendenzen und Faktoren der Weltpolitik jener Zeit.“

Und darin unterscheidet sich Putin natürlich radikal von der gesamten intellektuellen Tradition Europas, die sich nach dem Krieg der Frage verschrieb, wie Derartiges mit Deutschland geschehen konnte. Es gibt meterweise Fachliteratur darüber, wie die präsidiale Weimarer Republik mutierte. Doch für Putin ist mit Deutschland überhaupt nichts ungewöhnliches geschehen: Eine Nation wurde erniedrigt, Radikale übernahmen die Macht und entschieden sich zur Rache. Das gab es und wird es noch öfters geben. Die Frage ist, wie die internationalen Beziehungen zu gestalten sind, damit derartige Folgen vermieden werden können.

Wie immer ist für ihn die Innenpolitik nur eine Projektionsfläche für die Außenpolitik

Vermutlich wird ihn deswegen in Europa auch niemand hören: All die 75 Jahre waren die Europäer damit beschäftigt, ihre politischen Systeme so zu regulieren, dass sie das Erwachen eines inneren Monsters verhindern (ob erfolgreich oder nicht, ist eine andere Frage), um einen Dritten Weltkrieg zu vermeiden. Putin interessiert das alles nicht: Wie immer ist für ihn die Innenpolitik nur eine Projektionsfläche für die Außenpolitik: Wenn es auf der Straße Krawalle gibt, muss ausländisches Geld dahinterstecken, wenn Faschisten an die Macht kommen, muss eine Kränkung der Nation dahinterstecken. 
 

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