„Putin und Lukaschenko sehen sich als Sieger“

Früher hat Tamara Eidelman Geschichte an der Moskauer Schule № 67 unterrichtet. Nach dem russischen Großangriff auf die Ukraine im Februar 2022 hat sie ihre Heimat verlassen. Seitdem lebt sie in Portugal, gibt aber weiter Geschichtsstunden für ein russischsprachiges Publikum: Mehr als 1,3 Millionen Menschen haben ihren YouTube-Kanal abonniert. 

Im Interview mit dem belarussischen Online-Medium Zerkalo spricht die russische Historikerin über Themen, die sowohl Belarus als auch Russland betreffen: das Machtverständnis von Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin, imperialistische Denkweisen, Russlands Blick auf Belarus sowie die Instrumentalisierung von Geschichte in beiden Ländern.

Zerkalo: Manche vergleichen Wladimir Putin mit russischen Zaren oder mit Adolf Hitler. Mit welchen historischen Persönlichkeiten würden Sie ihn vergleichen?

Tamara Eidelman: Wissen Sie, ich möchte diese Frage nicht beantworten. Tut mir leid. Putin kann sich mit jedem vergleichen, mit dem er will, von mir aus mit dem Herrgott. Die Propaganda benutzt Vergleiche, um ihm zu schmeicheln. Wenn er einen auf Peter der Große macht, so ist er doch in jeder Hinsicht zu mickrig dafür, nichts für ungut.

Mit Hitler hat er nun nichts gemein, und das sage ich nicht, um Putin zu verteidigen. Natürlich sind beide Diktatoren und haben aggressive Kriege entfesselt, aber bis zur Massenvernichtung reicht es bei Putin Gott sei Dank noch nicht. 

Jede historische Persönlichkeit, zumal jeder Diktator, lebt in seiner jeweiligen Epoche und muss vor diesem Hintergrund betrachtet werden. Wenn wir jetzt anfangen, darüber zu sprechen, wie viel Ähnlichkeit Russland mit Hitler-Deutschland hat, dann haben wir für unser Verständnis nichts gewonnen. Russland hat eine ganz andere Struktur, es folgt einem anderen historischen Weg und anderen Traditionen, die Zeiten sind andere. Es war nach 1938 praktisch unmöglich nachzuvollziehen, was in Deutschland passiert, heute haben wir unzählige Fakten dazu, was in Russland geschieht. Das ist wichtig, weil es sowohl eine öffentliche Meinung in Russland als auch eine internationale gibt. Und wie man es dreht und wendet, die Machthaber schauen darauf. Wenn es diese öffentliche Meinung nicht gäbe, kein Internet, keine Handys, dann würden zum Beispiel politische Gegner mit Haut und Haaren gefressen und ausgespuckt werden. Niemand wäre mehr am Leben. Ja, sie bekommen riesige Haftstrafen, aber Gott sei Dank leben sie. Das ist wichtig.

Wenn Putin einen auf Peter der Große macht, so ist er doch in jeder Hinsicht zu mickrig dafür, nichts für ungut

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs verübten die Deutschen schreckliche Dinge in Polen, von denen praktisch niemand wusste, außer denen, die es selbst gesehen haben. Das volle Ausmaß der Gräueltaten wurde erst nach dem Krieg sichtbar, als man ausreichend Material gesammelt hatte. Sie können jetzt sagen, dass man auch heute nicht alles weiß, aber wenn man mit halbwegs ungetrübtem Verstand an die Masse der existierenden Informationen zu dem herangeht, was in diesem Krieg, was in Russland und in Belarus passiert, ändert das viel.

Als nächstes kommt meistens die Frage: „Und womit wird das alles enden?“ Wenn wir davon ausgehen, dass man Russland mit [Deutschland in] den 1930er Jahren vergleichen kann, dann würde als nächstes ein Weltkrieg kommen, der Faschismus würde besiegt werden und so weiter. Aber es ist überhaupt nicht gesagt, dass es so sein wird. Zum Beispiel, weil es damals keine Atomwaffen gab. Ich mag diese Vergleiche nicht.

War und bleibt Russland für immer ein Problem für seine Nachbarn?

Solange dieses Regime in Russland besteht, natürlich. Ich will anmerken, dass auch das Regime in Belarus so lange bestehen wird wie das Regime in Russland. Russland wollte sich so weit wie möglich ausdehnen, aber das galt für alle starken Staaten des 18. und 19. Jahrhunderts. Bloß ist Russland an dem Punkt stehen geblieben, der für Großmächte vor 150 bis 200 Jahren normal war. Europa hingegen hat verstanden, dass man sich nicht so verhalten sollte. Daraus schließe ich, dass auch Russland das irgendwann verstehen wird.

Meine Eltern wurden in der UdSSR geboren, lebten eine Zeitlang in Russland und dann in Belarus. An ihrem Denken gibt es nichts Imperialistisches, während unsere Verwandten, die so alt sind wie sie und ihr ganzes Leben in Russland verbracht haben, dahin tendieren. Warum ist das so?

Das spricht wohl einfach für Ihre Eltern. Es gibt ja auch in Belarus Menschen, die das Land als Teil Russlands sehen, eines Imperiums, der UdSSR. Es geht nicht darum, wo man geboren wurde. Diese Haltung macht das Leben leichter, denn wenn du dich als Teil von etwas Großem, Grandiosem begreifst, dann werden all deine Strapazen, dein armseliges Leben, deine Probleme unwichtig. Ja, wir produzieren Raketen, wir sind Teil von diesem großartigen Land. Das flößt uns die Propaganda unermüdlich ein. Dein Privatleben ist weniger wert als das, was dich umgibt.

Politische Haltungen und Moralvorstellungen werden nicht genetisch vererbt

Aber politische Haltungen und Moralvorstellungen werden nicht genetisch vererbt. Das sind alles Märchen. Genau auf diesen Märchen baute die nationalsozialistische Rassenpolitik auf. Das dürfen wir auf keinen Fall schlucken. Es zählt nicht nur der Ort, an dem du lebst, sondern auch die Erziehung, deine Familie, dein sozialer Umgang.

Lukaschenko und Putin schwelgen ständig in der Vergangenheit und ihren Kindheitserinnerungen. Wollen sie, dass wir so leben wie damals, und tun alles dafür?

Ich glaube, im Grunde sind wir ihnen völlig schnuppe. Sie selbst wollen in einem – aus ihrer Sicht – mächtigen Land leben, vor dem alle Angst haben, und in ihrer Macht baden.

Ich glaube, bei solchen Leuten legt sich irgendwann ein Schalter um, und sie beginnen zu denken, dass das, was für sie gut ist, auch für alle anderen gut ist. „Was würdet ihr denn ohne mich machen? Ihr seid kleine Kinder, ihr müsst mir gehorchen. Was ich mir für euch überlege, das wird für euch gut sein.“

Alle erinnern sich gern an ihre Kindheit – ja, Plombir war lecker. Mir scheint das eher ein Propagandatrick. Sie brauchen vor allem Macht.

Und wenn der Diktator stirbt, wird es besser?

Ja. Im Moment versucht man uns schreckliche Angst einzujagen, dass danach alles in Blut und Chaos versinkt. Historisch gesehen ist alles möglich, und natürlich wird es auch auf irgendeine Art Chaos geben. Andererseits wird der erste Schritt zur Veränderung nach dem Tod des Diktators von Leuten aus seinem Umfeld getan. Sie verstehen, dass sie nicht so werden können wie er und ein neues Leben aufbauen müssen. Sie müssen sich mit der internationalen Gemeinschaft verständigen und für Stabilität sorgen. Das konnte man gut in der Tauwetterperiode beobachten, sowohl in der UdSSR als auch in Spanien [unter Franco] oder Portugal [unter Salazar]. Die ersten Veränderungen werden von Leuten aus dem Inneren des Systems herbeigeführt.

Der erste Schritt zur Veränderung nach dem Tod des Diktators wird von Leuten aus seinem Umfeld getan

Die spannende Frage ist die, was danach passiert. Das Tauwetter hat in der UdSSR ein bisschen getröpfelt, dann kam wieder der Frost. Das Regime hat sich nicht verändert, alles ist in den Händen der Leute aus demselben System geblieben. In Spanien wurden die Veränderungen zunächst von Menschen aus dem System angestoßen, aber dann von verschiedenen Parteien und Organisationen aufgegriffen, unterschiedliche soziale Schichten haben sich eingeklinkt und Druck ausgeübt, weil das System weicher geworden war. Sie bekamen die Möglichkeit zu handeln und veränderten das Regime.

Das ist ein großes Problem für uns alle: Was werden wir tun, wenn die Regime fallen? Werden wir die Chance nutzen oder ein weiteres Mal alles verschlafen, während wir uns gegenseitig bekriegen und auf Hexenjagd gehen, und das Regime wird sich hinüberretten und alles wieder von vorne beginnen? Auf der zweiten Etappe wird sehr viel von uns abhängen.

Was wussten Sie vor 2020 von Belarus und den Belarussen?

Das spricht nicht gerade für mich. Abgesehen von der Band Pesnjary und ein paar groben Vorstellungen davon, was bei euch während des Kriegs und der Partisanenbewegung passierte, wusste ich kaum etwas. Und das ist falsch. Ich hatte absolut keine Vorstellung von eurer Kultur und Geschichte. Für viele, nicht nur für mich, war 2020 eine Erschütterung, weil wir Belarus als sehr sowjetische Republik wahrgenommen hatten. Aber ich glaube, das war eher Lukaschenkos Propaganda zu verdanken. Er hat dieses Bild erschaffen: Wir halten an den sowjetischen Traditionen fest. Wir dachten, bei euch ist alles noch schlimmer als bei uns. Aber dann kam dieser wundervolle Protest – wir müssen noch einiges von Belarus lernen.

Eine der wichtigsten Epochen in der belarussischen Geschichte ist das Großfürstentum Litauen. Wie wird die Geschichte dieses Staates in Russland gelehrt?

Gar nicht. Vielleicht wird es hier und da erwähnt. Der Geschichtsunterricht geht in den verschiedenen Teilen der ehemaligen Sowjetunion auf die sowjetische Tradition zurück, und die sowjetische Tradition auf das russische 19. Jahrhundert. Es wird Staatsgeschichte gelehrt, und alles, was außerhalb des Staates liegt, ist entweder eine Lüge oder völlig uninteressant. Und die Geschichte des russischen Staates ist die Geschichte von Moskau und Sankt Petersburg. Alles andere ist zweitrangig. Dabei sind das 14. und 15. Jahrhundert sowohl für Russland als auch für die Ukraine, Litauen und Belarus unglaublich interessant. Aber es wird alles nur aus dem Blickwinkel Moskaus präsentiert.

Die Geschichte des russischen Staates ist die Geschichte von Moskau und Sankt Petersburg. Alles andere ist zweitrangig

Ich würde mir wünschen, dass diese Epochen in der Zukunft nicht als Geschichte des einen oder anderen Staates gelehrt werden, sondern als Geschichte von Völkern. Dann würden wir ein Kaleidoskop von verschiedenen Menschen, Kulturen und Sprachen erhalten und sehen, wie vielfältig alles war.

Die belarussischen Behörden bauen ihre Propaganda und Ideologie auf der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs auf. Warum ist das so, was denken Sie?

Sie handeln im Rahmen des sowjetischen und aktuellen Narrativs. Die Machthaber schlugen seit 1945 Kapital aus dem Krieg, indem sie seine Geschichte verzerrten. Der Philologe Jewgeni Dobrenko hat ein Buch namens Posdni Stalinism (dt. Der Spätstalinismus) geschrieben, das ich gerne zitiere: „Die Geschichte des Kriegs wird zu einer Geschichte des Sieges.“

Nach außen hin gelten alle Worte den Opfern. In der belarussischen Geschichte waren das Chatyn und andere verbrannte Dörfer. Doch das Hauptnarrativ lautet: Es gab schreckliche Leiden, aber wir haben trotzdem gesiegt, wir haben’s ihnen richtig gezeigt. Rollende Panzer, die Operation Bagration, „Da sdrawstwujet towarischtsch Stalin!“ (dt. „Hoch lebe Genosse Stalin!“). Aber in der Geschichte des Krieges ist nicht alles so einfach. Übrigens waren es die belarussischen Historiker, die davon sprachen, dass Themen wie die Partisanenbewegung – und das ist die heilige Kuh – sehr komplex seien.

Das Hauptnarrativ lautet: Es gab schreckliche Leiden, aber wir haben trotzdem gesiegt, wir haben’s ihnen richtig gezeigt

Daher wissen wir, dass das Bild von den Partisanen, die aus dem Wald kommen und von den Dorfbewohnern jubelnd mit den Worten: „Hurra, unsere guten Jungs sind da!“ empfangen werden, falsch ist. Auch die Partisanen waren gefürchtet. Das allein galt als schreckliche Häresie und Lästerung der Heldentaten des sowjetischen Volks. 

Wie derzeit über den Krieg gesprochen wird, das gibt den Propagandisten die Möglichkeit zu erklären, es wäre damals nicht um Blut, Dreck und Gräueltaten gegangen, sondern um den Triumph unserer Heerführer, allen voran Genosse Stalin. Das waren die wahren Sieger, nicht die Menschen, die in den Schützengräben verfaulten. Diese Vorstellung kommt sowohl Putin als auch Lukaschenko sehr entgegen. Sie sehen sich als eben solche alle besiegenden Sieger.

Wie wird man Lukaschenko in den Lehrbüchern beschreiben, wenn er nicht mehr an der Macht ist?

Man wird schreiben, was für ein großer Diktator er war, das ist klar. Aber ich glaube, dass es interessanter sein wird, über Lukaschenko zu schreiben als zum Beispiel über Putin. Wie er raffiniert seinen Weg zur Macht geebnet und die Karte der Sowjetnostalgie ausgespielt hat. Natürlich hat Putin dasselbe gemacht, aber Lukaschenko war viel früher. Er hat mit irgendeinem sechsten Sinn gespürt, dass das der Köder ist, mit dem man viele Menschen kriegt. Man wird ihn als interessanten, blutrünstigen und hinterlistigen Diktator erforschen.

Was denken Sie, wäre Lukaschenko bereit, alles Belarussische in Belarus abzuschaffen und sich selbst und die Belarussen Russen zu nennen, wenn es die politische Situation erfordert?

Ich glaube, das tut er schon. Als die Sowjetunion zerfiel, kamen in fast allen Republiken Leute an die Macht, die nationale Ideen vorbrachten. Lukaschenko schrieb sich stattdessen die prosowjetische Idee auf die Fahne, sein größter Feind war die Nationalpartei. Er ist bereits dabei, alles Belarussische zu unterdrücken: die Sprache, die Kultur. Aber hier sind wir wieder bei der Machtfrage – bis zu welchem Punkt wird er bereit sein, das zu tun? Ist er bereit, zu Russland zu gehören? Sich Putin zu unterwerfen? Über eine Nachfolgerschaft zu verhandeln? Irgendwie scheint mir das keine Option für jemanden, der Geschmack an der Macht gefunden hat.

In Russland gibt es jetzt Schulbücher mit einem Kapitel über die „Spezialoperation“. Darin geht es um die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, um den „Druck der Vereinigten Staaten“, „Geschichtsklitterung“ und das „Wiedererstarken des Nazismus“. Unter anderem wird in diesem Lehrbuch behauptet, die westlichen Länder hätten die fixe Idee einer „Destabilisierung der Lage in Russland“. Im Abschnitt über den Krieg in der Ukraine wird Putin mit der Aussage zitiert, Russland habe den Krieg begonnen, um die Kämpfe in der Ukraine zu beenden. Ist es ein Verbrechen, so etwas zu lehren?

Ein solches Lehrbuch zu schreiben, ist ein Verbrechen. Unterrichten kann man nach so einem Lehrbuch auf unterschiedliche Art und Weise. Man kann sagen: „Achtet nicht drauf, was da steht.“ Aber es ist und bleibt eine schwierige Herausforderung, mit einem solchen Lehrbuch zu arbeiten.

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