„Die Proteste sind zu einer Befreiungsbewegung geworden“

„Ja wychoshu!”, „Ich gehe hinaus!“ Das waren die letzten Worte von Roman Bondarenko. Dann verließ er die Wohnung am sogenannten Platz des Wandels in einem der Minsker Hinterhöfe. Der Ort hat sich in den vergangenen drei Monaten als einer der Symbole der Protestkultur etabliert. Am Abend des 11. November 2020 waren maskierte Männer in den Hof gekommen, um die weißen und roten Bändchen vom Zaun zu schneiden, die Menschen dort als Zeichen der Solidarität angebunden hatten. Der 31-jährige Bondarenko schritt ein, wurde noch vor Ort von den unbekannten Männern verprügelt und schließlich mitgenommen. Stunden später lag er im Koma. Schließlich erlag er seinen Verletzungen.

Die letzten Worte Bondarenkos wurden zum Motto des gestrigen Sonntagsmarsches. In vielen Städten gingen die Menschen wieder auf die Straße. Vor allem in Minsk standen die Demonstranten einer Übermacht aus OMON- und anderen Spezialkräften gegenüber, die auch den Platz des Wandels umzingelten. Die Menschen hatten sich in einer Kette aufgereiht, um die Gedenkstätte für Roman Bondarenko vor den Silowiki-Kräften zu schützen. Am Ende des Tages wurde der Platz geräumt, die Menschen festgenommen, die Gedenkstätte mit Blumen und Kerzen abgetragen. Über 1200 Inhaftierte registrierten Menschenrechtsorganisationen am gestrigen Sonntag.

Seit zwei Wochen versucht der Machtapparat von Alexander Lukaschenko, die Proteste wieder verstärkt mit brutaler Gewalt, gezielten Inhaftierungen und scharfen Repressionen endgültig zu zerschlagen. Doch mittlerweile protestieren die Belarussen seit über drei Monaten gegen die exzessive Polizeigewalt und für Neuwahlen. Wer am Ende die Oberhand in diesem tiefgreifenden Machtkampf behält, steht längst noch nicht fest. Aus Anlass des heutigen Jubiläums des Protestes hat das Nachrichtenportal tut.by eine Fotostrecke zusammengestellt.

Der renommierte Wissenschaftler Gennadi Korschunow, ehemaliger Direktor des Fachbereichs Soziologie an der Akademie der Wissenschaften in Belarus, erklärt in einem Stück für das Internet-Medium The Village Belarus, warum die Proteste längst nicht am Ende sind – und wie sie immer wieder mit neuen Erscheinungsformen aufwarten, um ihr eigenes Überleben zu sichern.

Es ist offensichtlich, dass den Protesten in Belarus nicht die Luft ausgeht. Sie verlaufen in Wellen, vielleicht versetzt, asynchron, auf sehr vielen verschiedenen Ebenen.

Es ist wirklich wie bei einem Moorbrand, bei dem die Beobachtenden meinen, nur die Baumkronen stünden in Flammen. Denn darunter ist ja Wasser – der Sumpf.

Wir schauen meistens nur dorthin, was sofort sichtbar ist – auf die Straße. Wir sehen Märsche, Menschenketten, Kundgebungen, Scherben. Wie viele gehen gerade auf die Straßen? Es ist unmöglich, sie zu zählen, weil es die große Kolonne nicht mehr gibt – sie wird auseinandergejagt. Aber nach wie vor brausen Flüsse und Ströme von Menschen durch die Straßen der Stadt.

Zunächst sind es Einzelne und Paare, Gruppen von Freunden, Dutzende Gleichgesinnter… Dann Hunderte, Tausende, die sich die Beine vertreten – mehrere Stunden und viele Kilometer. Das ist nur der harte Kern, in Minsk etwa 100.000 bis 150.000 Leute.

Nach wie vor brausen Flüsse und Ströme von Menschen durch die Straßen der Stadt

Dazu muss man ein paar Tausend zählen, die genau jetzt nicht das Haus verlassen können. Den einen fehlt es an Entschlossenheit, den anderen an Mut … Aber sie schämen sich, genau jetzt, in diesem Moment nicht „spazieren zu gehen“. Vielleicht können sie Kinder, alte Eltern oder Kranke nicht alleine lassen, vielleicht sind sie selbst krank und die ganze Familie sitzt in Quarantäne. Und die zweite Covid-Welle nimmt gerade erst so richtig Schwung auf …

Aber schaut euch die Türen der Häuser an – wie viele stehen den Demonstranten offen? Schaut hoch zu den Fenstern – wie viele begrüßen die Märsche? Wie viele Autos begrüßen sie mit lautem Hupen? Wie viele Autofahrer nehmen Demonstranten mit und bringen sie wieder nach Hause? Geht durch die Viertel – wie viele Fahnen und weiße Zettel seht ihr in den Fenstern? Wie viele Bändchen, Flaggen, Wandmalereien, Treppen, Bänke …

Wie Maxim Kaz zurecht sagte: Jeder hat jeder seine eigene Schmerzgrenze – aber jeder tut, was er kann. Und wir sind viele.

Wie viele Menschen haben sich Krama heruntergeladen und achten genau darauf, was sie im Supermarkt einkaufen. Wie sieht es mit den Steuerzahlungen aus? Wie mit kommunalen Abgaben? Macht einfach die Augen auf und schaut genau hin, was noch passiert.

Die Höfe. Das Stärkste sind im Moment wohl die Hinterhöfe. Die Selbstorganisation dort ist der Beginn einer neuen Regierung, die der aktuellen Regierung Angst macht. Die Hinterhöfe haben bewiesen, dass die Leute sich versammeln und gemeinsam eine Menge Probleme lösen können. Langsam werden sich die Höfe dieser Macht bewusst. Und kein Hof oder Viertel steht alleine da. Es sind viele. Sie tauschen sich aus. Sie helfen einander. Sie lernen voneinander. Die Beziehungen wachsen, und damit wächst die Macht, wächst das Potential. Genau deshalb macht man jetzt Jagd auf Musiker – denn die Kunst stärkt nicht nur den Geist in den einzelnen Höfen, sondern auch die Beziehungen: Sie vereint die Menschen zu einer Gemeinschaft und die Höfe zu einer Stadt.

Zum Glück begreift die Regierung noch nicht, was Historiker und Philosophen für die Hinterhöfe tun.

Das Stärkste sind im Moment wohl die Hinterhöfe

Die Institutionen bewegen sich am langsamsten. Denn hier liegt der schmerzliche Beginn des gesellschaftlichen Bruchs: der Menschen mit dem Volk, der Vorgesetzten mit den Machthabern. Jeden Tag und jede Stunde herrscht da Druck, nicht nur sonntags. Jeder kennt jeden, da ist es leicht, Druck zu machen. Aber es ist etwas in Gang gekommen – und man kann nicht alle feuern. Erstens. Zweitens greift allmählich das Prinzip „Einer für alle und alle für Einen!“. Das ist sehr mächtig, und sein Höhepunkt steht noch bevor. Das kann man am Beispiel einiger Hochschulen beobachten. Drittens ist da der internationale Druck, der sich ebenfalls schwer einschätzen lässt – und auch der braucht seine Zeit. Die Auswirkungen werden beim Abschluss zukünftiger Verträge sichtbar werden. Aber schon das Beispiel Soligorsk zeigt, dass die internationale Aufmerksamkeit erste Früchte trägt.

Eine weitere mächtige, aber unterschätzte Sache ist die genossenschaftliche Solidarität. Wenn ein paar tausend Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen „Nein“ zu Gewalt sagen, ist das stark. Wenn 1000 Sportler und Sportlerinnen ihre Stimme erheben, ist das stark. Wenn Kulturschaffende ihren Protest zum Ausdruck bringen, ist das stark. Wenn Designer einfache Arbeiter unterstützen, ist das stark. Es ist stark, weil fast jeder Berufsverband deutlich Stellung bezogen hat: Nein zu Gewalt!

Mehr noch: Wenn Musiker, Lehrer, Mediziner, Künstler, Studenten, Rentner und Arbeiter mit ihrem Wort füreinander einstehen, dann eint das das Volk als Ganzes und macht es stark.

Was Solidarität und Einigung angeht, muss man sich anschauen, wer etwas tut und in welcher Form. Es gibt viele Formen, und es werden immer mehr.

Erstens: Geld. Hat jemand mal die Unterstützungsfonds gezählt? Gemeinnützige und korporative? Zweitens: Arbeit (oder Lehre für die Studierenden) und Weiterbildung, dazu kommt medizinische Hilfe für die Opfer der Gewalt; Unterstützung in den Bereichen Information, Recht und Kommunikation. Und die kulturelle Arbeit: Flaggen, Veranstaltungen, Lieder, Appelle an die Regierung …

Die internationale Ebene – seit wie vielen Wochen schon steht Belarus im Mittelpunkt der europäischen Aufmerksamkeit? Die ganze Welt kennt uns. Ja, die Einen sagen: „Wollt ihr etwa Zustände wie in Belarus?“ (durchgestrichen). „Wir sind hier nicht in Belarus, wir müssen alle Stimmen zählen!“. Aber da geht es um den Staat. Über das Land heißt es: Dieses unglaubliche Belarus zeigt allen, was eine würdevolle Gesellschaft ist, und gibt Hoffnung auf die Wiederherstellung demokratischer Werte.

Aber wir haben noch mehr gezeigt. Wir haben bewiesen und werden weiterhin beweisen, dass niemand über das Schicksal von Belarus ohne die Belarussen bestimmen wird. Weder Russland noch Europa noch die USA. Deshalb werden sowohl Russland als auch Europa und die USA sehr daran interessiert sein, mit einem freien Belarus und mit würdigen Belarussen zu sprechen und zusammenzuarbeiten.

Wir haben bewiesen und werden weiterhin beweisen, dass niemand über das Schicksal von Belarus ohne die Belarussen bestimmen wird

Das Wahrscheinlich ist das Wichtigste: die Straßen, Höfe, Institutionen, Berufsverbände, Belarussen in der ganzen Welt – auf all diesen Ebenen und dazwischen entsteht gerade ein neues Belarus. Es begann mit Protesten gegen Gewalt und Lüge, erreichte jeden einzelnen und verlangte von ihm eine Entscheidung – und diese Entscheidung treffen wir jeden Tag. Jeder von uns. 

Die Straßenproteste wurden zu einer Revolution des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins und zu nun zum Widerstand fast der gesamten Gesellschaft und der Überreste der staatlichen Vertikale.

Ich spreche  nicht vom „aktiveren Teil der Gesellschaft“, sondern von „fast der gesamten Gesellschaft“ – denn die Maßnahmen der Vertikale … nunja, sie sind sinnlos und bieten den Leuten nichts an, außer dem Gefühl der Fremdscham für die Machthaber und deren Anhänger. Die Revolution des Bewusstseins hingegen gibt Hoffnung und das Gefühl von Perspektive – ein Verständnis dessen, wer wir sind und wohin wir uns bewegen.

Noch einmal: Die Proteste sind zu einer Befreiungsbewegung geworden – eine Befreiung von den Fesseln und eine Bewegung nach vorne.

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