Wird Lukaschenko nervös?

Das Goethe-Institut in Minsk und der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) müssen auf Druck der belarussischen Machthaber ihre Arbeit im Land einstellen. Ein Schritt, der international vielfach kritisiert und als Reaktion auf das vierte Sanktionspaket der EU gedeutet wurde. Am 16. Juni 2021 hatten die EU-Außenminister beschlossen, massiv die Sanktionen gegen die belarussische Führung auszuweiten. In der vergangenen Woche sagte Alexander Lukaschenko auch, dass die Sicherheitsbehörden „terroristische Schläferzellen“ enttarnt und zerschlagen hätten. Diese stünden in Verbindung mit Deutschland, der Ukraine, den USA, Polen und Litauen. Daraufhin verfügte der Staat die Schließung der Landesgrenze zur Ukraine. Im Fokus der „antiterroristischen“ Operation stehen dabei Mitglieder des ehemaligen Telegram-Kanals Einheiten der zivilen Selbstverteidigung (blr. Atrady hramadsjanskai samaabarony), der von den Behörden als extremistisch verboten wurde. Dutzende Mitglieder des Kanals wurden festgenommen, einige stehen bereits vor Gericht.

Zudem erschien am 3. Juli im staatlichen TV-Sender ONT ein Beitrag, der angeblich „terroristische Aktivitäten“ in Belarus beweist. Dies sorgte im Land für hitzige Diskussionen. In dem Beitrag wird ein offenbar inszeniertes Attentat auf Grigori Asarjonok gezeigt, einen der berüchtigsten Fernsehmoderatoren der Staatspropaganda, der für den Staatssender CTV arbeitet und regelmäßig gegen die Opposition hetzt. In dieser Atmosphäre beging die Staatsführung am 3. Juli den „Tag der Unabhängigkeit“ mit zahlreichen Veranstaltungen im ganzen Land.

Wird Lukaschenko angesichts einer schwächelnden Wirtschaft nun doch nervös oder ist es bloß Säbelrasseln? Der politische Analyst Waleri Karbalewitsch erörtert in seinem Beitrag für das Medium SN Plus mögliche Folgen der Sanktionen und diskutiert verschiedene Szenarien, mit der die belarussische Führung auf die Strafmaßnahmen reagieren könnte. 

Sei vorsichtig mit deinen Wünschen – sie könnten in Erfüllung gehen.
 

Englisches Sprichwort

Mögliche Folgen der Sanktionen

Nach eingehender Betrachtung des von der EU erlassenen Papiers ist klar, dass die sektoralen Sanktionen, sagen wir mal, nicht in der radikalsten Form ergangen sind. Das wird zum Beispiel daran deutlich, dass das wichtigste Kaliprodukt, das nach Europa exportiert wird, nicht auf der schwarzen Liste steht. Und Belaruskali hat nicht darunter zu leiden, sondern unter dem blockierten Zugang zum litauischen Hafen Klaipėda, über den 97 Prozent der belarussischen Exporte von Kalidüngern abgewickelt werden. So muss eine neue Route über einen russischen Hafen im Leningrader Gebiet erschlossen werden.

Außerdem treten die Sanktionen teilweise erst mit Beginn des kommenden Jahres oder sogar noch später in Kraft. Wenn es also um die Auswirkungen der Sanktionen geht, so sind die in den nächsten Monaten nicht zu erwarten.

Nichtsdestotrotz beginnt das Land, mit den sektoralen Sanktionen zu leben. Diese unterscheiden sich von zielgerichteten (gegen einzelne Unternehmen oder Oligarchen gerichtete) Sanktionen dadurch, dass sie schwieriger zu umgehen sind. Ein Unternehmen kann man verkaufen, der Name oder Eigentümer kann sich ändern, mit ganzen Branchen lässt sich das jedoch nicht machen.

Die Verluste für die belarussische Wirtschaft lassen sich nur schwer beziffern. Es gibt Schätzungen, nach denen Belarus 15 Prozent seines Exports verliert. Immerhin geht ein Viertel der belarussischen Exporte von Erdölprodukten in Mitgliedsstaaten der EU, im Jahr 2020 waren das rund 600 Millionen US-Dollar. Darüber hinaus wurden 10 Prozent der Kaliexporte, für rund 200 Millionen US-Dollar in die EU geliefert.

Premierminister Roman Golowtschenko erklärte, die Verluste durch die Sanktionen würden nicht mehr als 2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. Unabhängige Wirtschaftswissenschaftler nennen Werte von 7 bis 14 Prozent. Diese große Schere ergibt sich durch unterschiedliche Berechnungsmethoden. Die einen zählen nur den unmittelbaren Schaden, andere berücksichtigen auch mittelbare Verluste (Kosten durch die Suche nach Wegen zur Umgehung der Sanktionen, ausbleibende neue Vertragsabschlüsse, den Umstand, dass ausländische Geschäftspartner Unternehmen meiden, die auf der Sanktionsliste stehen und so weiter).

Die Sanktionspolitik des Westens ist jedoch ein Prozess – der wurde nun in Gang gesetzt, und es ist unklar, wo und wann er zum Halten kommt. So erklärte jüngst Victoria Nuland, Mitarbeiterin für politische Angelegenheiten im US-Außenministerium: „Die EU ist einen Schritt voraus, indem sie sektorale Sanktionen gegen die belarussische Wirtschaft und jene Bereiche verhängt hat, von denen Lukaschenko abhängig ist. Wir werden versuchen nachzuziehen“. 

Die Sanktionen des Westens verstärken die Abhängigkeit des Landes von Russland. Allerdings könnte der Umstand, dass der russische Oligarch Michail Guzerijew auf der Sanktionsliste landete, Unternehmen aus Russland von Belarus abschrecken. Man könnte leicht auf der schwarzen Liste der EU und von den USA landen.

Das gefährliche Thema Krieg

Die Regierung in Belarus hat auf die Sanktionen mit aggressiver Rhetorik, Drohungen gegen den Westen und Erpressungsversuchen reagiert: So hat sich beispielsweise der Strom illegal einreisender Migranten aus Belarus nach Litauen drastisch verstärkt.

Doch unsere Aufmerksamkeit weckt Folgendes: Seit dem 9. August 2020 schürt Lukaschenko in der Bevölkerung Angst vor einem möglichen Krieg mit dem Westen. Angesichts der sektoralen Sanktionen der EU und der USA erlangt diese Rhetorik einen neuen Sinn. 

Bei einer Rede am 22. Juni 2021 in der Festung von Brest setzte Lukaschenko einen starken Akzent auf die Frage nach einem möglichen neuen Krieg. Er erklärte: „Im vergangenen Jahr haben wir die modernsten Technologien eines hybriden Krieges erfahren müssen. Die Belarussen fragen immer öfter: Was ist los, werden wir in den Krieg ziehen? Wie denn, Belarussen. Wir sind schon lange im Krieg. Der Krieg hat einfach andere Formen angenommen … 80 Jahre sind vergangen, und …? Ein neuer heißer Krieg … Und weiter? Eine Intervention?“

Indem er in der Bevölkerung Angst vor einem Krieg schürt, versucht Lukaschenko, künstlich das Modell einer „belagerten Festung“ zu konstruieren, die politischen Repressionen zu rechtfertigen sowie die Nomenklatura und die eigenen Anhänger zur Verteidigung des Regimes zu mobilisieren.

Eine solche Rhetorik könnte jedoch das Gegenteil bewirken. Das Volk will keinen Krieg und hat Angst davor. Die Gefahr, dass ein bewaffneter Konflikt entfesselt wird, weckt im historischen Gedächtnis des Massenbewusstseins traumatische Archetypen. Die Belarussen, sogar die Anhänger Lukaschenkos sind wohl kaum gewillt, für Lukaschenko in den Krieg zu ziehen. Dessen Figur wird zunehmend mit Kriegsgefahr assoziiert. Auch der Effekt einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung sollte nicht vernachlässigt werden.

Der Normalbürger sieht, dass das Ausmaß der Probleme – und zwar nicht nur der wirtschaftlichen –, die Lukaschenko zu verantworten hat, größer und größer wird. Der Preis für Lukaschenkos Verbleib an der Macht wird mit jedem Tag höher. Auch für seine nähere Umgebung, einschließlich seiner Hof-Oligarchen.

Aus der Geschichte sind diverse Beispiele bekannt, dass Wirtschaftssanktionen und äußere Konflikte Auswirkungen auf die Stabilität eines politischen Regimes hatten. Mitunter wird ein Regime dadurch gefestigt. Manchmal ist das Gegenteil der Fall.

Es gibt einige Beispiele, dass autoritäre Regime sich in einem bewaffneten Konflikt mit einem äußeren Feind befinden, ihn verlieren und dann zusammenbrechen. So stürzte die Diktatur der Obristen in Griechenland 1974 nach der Niederlage im Zypern-Konflikt mit der Türkei. Die Militärdiktatur in Argentinien brach 1983 nach dem verlorenen Falklandkrieg gegen Großbritannien zusammen. Das Regime von Slobodan Milošević trat wegen des Kosovo einen Krieg gegen die gesamte Welt los, verlor ihn und wurde im Jahr 2000 nach Protesten der Bevölkerung gestürzt.

Dies einfach als Anregung zum Nachdenken.

Das Spiel mit Roman Protassewitsch

Der Umstand, dass Roman Protassewitsch und Sofija Sapega in Hausarrest überführt wurden, ist ein Hinweis, dass das Regime eine Vielzahl von Schachzügen unternimmt und den oppositionellen Journalisten als wichtige Figur einsetzt.

Die Regierung hat sich entschieden, angesichts der dramatischen Folgen von Protassewitschs Festnahme (Schließung des Luftraums und sektorale Sanktionen durch die EU) den Gefangenen vollends auszunutzen und aus der Affäre eine möglichst große politische Dividende herauszupressen. Romans Einwilligung „mit den Ermittlungsbehörden zusammenzuarbeiten“ eröffnete der Regierung die Möglichkeit, – an unterschiedliche Adressaten gerichtet – gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.

Aufgabe Nummer eins ist natürlich die Diskreditierung der Opposition. Die „entlarvenden“ Erklärungen von Protassewitsch sollten all das Negative über die politischen Opponenten unterfüttern, das ein ganzes Jahr schon wie ein Wasserfall aus den Kanälen des belarussischen Staatsfernsehens strömt. Hinzu kommt die Diskreditierung der westlichen Länder. Roman soll „Beweise“ geliefert haben, dass die Proteste von westlichen Geheimdiensten gesteuert worden seien. Das alles richtet sich an das inländische Publikum.

Um den Skandal mit der erzwungenen Landung Russland gegenüber zu „verkaufen“, hat die belarussische Regierung betont, dass Roman im Donbass gekämpft habe. Das hat intensives Interesse bei den russischen Medien gefunden. Zur Lösung dieses Problems wurde die „Volksrepublik Luhansk“ ins Spiel gebracht – erfolglos, wie sich später herausstellte.

Der Hausarrest für Sofija Sapega, die die russische Staatsangehörigkeit besitzt, ist ebenfalls eine Geste an Moskau, eine Demonstration des grenzenlosen „Humanismus“ der belarussischen Behörden.

Eine andere aufdringliche Demonstration des Humanismus ist an das westliche Publikum gerichtet. In Europa wurde geschrieben, dass Protassewitsch möglicherweise gefoltert wurde. Und die Medien-Kampagne gegen Lukaschenkos Regime stützte sich unter anderem auf das Mitgefühl für ein Opfer des diktatorischen Regimes (und nicht nur auf die Verletzung der Flugsicherheit). Romans gesunde, muntere und lächelnde Auftritte vor der Öffentlichkeit sollten diese Thesen widerlegen. Auf gleiche Weise ist auch Romans Überführung in Hausarrest zu verstehen.

Mit den öffentlichen Auftritten von Protassewitsch wollte das offizielle Minsk zudem versuchen, die Wirtschaftssanktionen des Westens, wenn nicht zu verhindern, so doch abzumildern.

Ein weiterer Aspekt dieses endlosen belarussischen Dramas steht in Verbindung mit der Psychologie der einen Person: Das Phänomen eines reuigen, moralisch gebrochenen Feindes erklärt in der belarussischen Politik vieles. Unter Lukaschenko als Präsidenten wurden sämtliche politischen Häftlinge dazu gedrängt, Gnadengesuche zu schreiben. Das war für den Staatschef von grundsätzlicher Bedeutung.

Nach den vom Regime inszenierten Auftritten Protassewitschs kann man nun auch Menschlichkeit walten lassen. Es gibt derzeit 515 politische Häftlinge in Belarus. Allerdings zeigt man sich nur gegenüber Juri Woskressenski und Roman Protassewitsch „menschlich“ (Sofija Sapega soll lediglich Protassewitsch Gesellschaft leisten). Diese politischen Gefangenen haben nicht nur öffentlich vor der Kamera Reue gezeigt, sondern stehen jetzt auf der anderen Seite der Barrikaden. Das ist das Handlungsmuster für alle politischen Häftlinge, die vorzeitig aus dem Gefängnis freikommen wollen.

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