Politische Trends in Belarus

„Administratives Ritual“ nennt Artjom Schraibman die am vergangenen Sonntag in Belarus abgehaltene Parlamentswahl: 110 Abgeordnete ziehen in das Repräsentantenhaus ein, keiner davon gehört der Opposition an. Das sei wenig überraschend, meint Shraibman, und doch habe die Wahl einige bemerkenswerte politische Tendenzen offenbart, die auch für Russland von Bedeutung sind, kommentiert der Minsker Politologe und Kolumnist auf Carnegie.ru.

Die belarussischen Parlamentswahlen sind nach dem traditionellen, rundum kontrollierten Szenario verlaufen. Bei den letzten Wahlen hatte das Regime zwei Oppositionelle ins Parlament einziehen lassen. Dieses Experiment wurde jetzt beendet. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2020 war der Führung des Landes ihr seelisches Wohlbefinden wohl wichtiger als Zugeständnisse an den Westen, bei denen unklar bleibt, welche Gegenleistungen man dafür erhält.

Aber selbst ein derart administratives Ritual wie Wahlen in Belarus vermag gewisse politische Trends zu offenbaren. Zu den innersystemischen Tendenzen gehört, dass sich der Anteil parteigebundener Abgeordneter erhöht hat und einige hochrangige und prominente Funktionäre des Staates ins Parlament geschickt wurden.

Wenigstens ein bisschen politisches Gewicht

Es sieht ganz danach aus, als würden Lukaschenko und seine Administration versuchen, dem Parlament mit Hilfe dieser gewichtigen, aber noch nicht alten Funktionäre wenigstens ein bisschen politisches Gewicht innerhalb des Systems zu verleihen. Es passt in die Logik der von Lukaschenko angekündigten Verfassungsreform: In den kommenden vier bis fünf Jahren sollen die Vollmachten des Präsidenten in Richtung Parlament und Regierung verschoben werden.

Gleichzeitig ist die Zahl der Abgeordneten gestiegen, die regimefreundlichen Parteien angehören. Das belarussische Parlament wird zwar nach dem Mehrheitssystem gewählt, doch wird bereits seit einigen Jahren der Übergang zu einem gemischten System diskutiert, bei dem ein Teil der Abgeordneten über Parteilisten gewählt wird.

Eine solche Wahlreform soll wohl ebenfalls Teil der erneuerten Verfassung werden. Wenn das Land zukünftig auch über das Parlament regiert werden soll, ist eine eigene Partei der Macht vonnöten, samt Spoiler-Parteien und einer Systemopposition.

Unzufriedene Kräfte verbreiten im Wahlkampf ihre Ideen

Da der Wahlprozess in Belarus seit Langem schon nichts mehr mit einem Kampf um Mandate zu tun hat, werden die Parlamentswahlen nun von verschiedenen Gruppen Unzufriedener intensiv zur Verbreitung ihrer Ideen genutzt. So traten bei den Wahlen die Anführer der bekannten Umweltproteste gegen die Akkufabrik in Brest an, wie auch die der Initiative Mütter 328, deren Kinder wegen geringfügigen Drogenbesitzes zu sehr hohen Haftstrafen verurteilt wurden. Fast alle sind entweder von den Behörden nicht als Kandidaten zugelassen worden oder haben ihre Registrierung wieder verloren, damit sich sozialer Protest nicht politisiert.

Schließlich wäre da noch das wohl interessanteste Phänomen dieser Wahlen: der Auftritt zweier Kandidaten mit einer prorussischen und gleichzeitig regimekritischen Rhetorik. Deren Botschaft ist schlicht: In den Regionen herrschen Stagnation und Niedergang, das Regime erfüllt den Gesellschaftsvertrag nicht, den Beamten sind wir schnurzpiepegal, wir müssen Freunde Russlands sein, weil es das einzige Land ist, das uns hilft.

Zwei Kandidaten mit prorussischer, regimekritischer Rhetorik

Prorussische Kritik am Regime in Belarus galt immer schon als sehr gefährliches Terrain. Lukaschenko hat stets versucht, in dieser Hinsicht das Monopol zu behalten. Kritik an ihm war nur aus pronationalen oder proeuropäischen Positionen heraus erlaubt. Drei russophile Autoren, die bei der Agentur Regnum publizieren, haben für ihre Texte, in denen scharfe Töne gegenüber dem belarussischen Regime und dessen Identitäts-Politik angeschlagen werden, unlängst Strafverfahren und ein Jahr Untersuchungshaft bekommen.

In dem Maße allerdings, wie sich die Differenzen zwischen Minsk und Moskau mehren, ergeben sich in der belarussischen Politik auch Spielräume für die prorussische Opposition. In den vergangenen Jahren ist bereits eine Reihe derartiger regionaler Internetportale und ziemlich populärer Telegram-Kanäle entstanden.

Dieser Prozess befindet sich noch im Anfangsstadium. Es hat sich noch keine prorussische Bewegung gegen Lukaschenko formiert, und die Geheimdienste werden eine solche auch kaum zulassen. Doch ein Scheitern der Integrationsbemühungen von Moskau und Minsk dürfte diesen Aktivisten und Gruppen zusätzliche Möglichkeiten eröffnen, insbesondere, wenn es in Belarus dadurch zu einer Wirtschaftskrise kommt. Je mehr Akteure dieser Art es gibt, desto größer wird für Moskau die Versuchung sein, diese zu unterstützen, wenn sich das Verhältnis zu Lukaschenko verschlechtert.

Dass die Opposition im neuen Parlament nicht vertreten ist, bedeutet keinen Rückgang des Tauwetters, weil das Tauwetter in Belarus nie Einfluss auf die Wahlen hatte. 2016 war der Dialog mit dem Westen stärker in Gang gekommen, und man hatte sich entschieden, diesem einen zusätzlichen Impuls zu verleihen, indem zwei Oppositionelle zu Abgeordneten wurden. Am Wahlprozess selbst wurde aber nichts geändert.

Parlament ohne Opposition

Dieses Mal war auch der Ablauf der Wahlen rigider als gewöhnlich: Die Wahlbeteiligung wurde durch vorzeitige Stimmabgabe erhöht, und Oppositionelle, die Mitglieder von Wahlkommissionen oder Kandidaten werden wollten, wurden noch stärker ausgesiebt. Es gab – wie früher – keinen vernünftigen Grund, die Opposition ins Parlament zu lassen.

Das bedeutet erstens, dass das belarussische Außenministerium, das gewöhnlich als proeuropäische Lobby im System gilt, keinen ernstzunehmenden Einfluss auf Lukaschenko und seine Administration hat, wenn es um Wahlen geht.

Das Maximum, was das Außenministerium heute tun kann, ist, die übrigen Staatsorgane für eine gewisse Zeit davon zu überzeugen, von ganz heftigen Repressionen abzusehen – damit es keine neuen politischen Häftlinge gibt oder damit Straßenproteste nicht brutal niedergeschlagen werden.

EU und USA: Weder Engagement noch Reaktionen

Zweitens sieht auch Lukaschenko in den Beziehungen zum Westen keine Aufgaben, die man über eine Oppositionsquote lösen könnte. Wie Lukaschenko kürzlich in Wien erklärte, sei es für die westlichen Unternehmen egal, ob das belarussische Parlament als legitim anerkannt werde oder nicht. Das Wichtigste seien Investitionsgarantien durch die Führung des Regimes und Stabilität im Land.

Politisch hat die EU Belarus für den Fall, dass die Opposition im Parlament vertreten ist, keinerlei konkrete politische Gegenleistung in Aussicht gestellt. 

Die Stimmung in Brüssel und Washington wird durch ein ausnahmslos loyales belarussisches Parlament natürlich nicht besser. Der Elan, sich in Richtung Belarus zu engagieren, dürfte sich künftig noch mehr in Grenzen halten als jetzt. Aber auch eine heftige Reaktion der EU oder der USA wird es wohl kaum geben. Schließlich hat der Westen die Sanktionen gegen Belarus nicht wegen der Wahlen verhängt, sondern wegen der erheblichen Repressionen während und nach den Wahlen [den Präsidentschaftswahl 2006 und 2010 – dek]. Solche Repressionen gibt es derzeit nicht.

Gleichzeitig wird schon seit etlichen Jahren eine Isolation von Belarus mit der Befürchtung verknüpft, dass Minsk dadurch in den Einflussbereich Moskaus gedrängt werde. Das strategische Interesse, Belarus ungestört zwischen den Machtzentren lavieren zu lassen, ist seit spätestens 2015 größer als die Sorge um demokratische Ideale im Land.

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