Neues belarussisches Wörterbuch – Teil 2

Beim Marsch der Nachbarn, der am vergangenen Sonntag in zahlreichen belarussischen Städten stattfand, wurden nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen über 420 Personen inhaftiert. Diesmal fanden Protestzüge und andere Aktionen in vielen unterschiedlichen städtischen Bezirken statt – eine neue Taktik, die verhindern soll, dass die Sicherheitskräfte gegen eine zentral organisierte Demonstration vorgehen können. 

Belarus kommt weiterhin nicht zur Ruhe. Der langjährige Autokrat Alexander Lukaschenko weigert sich sich seit August, mit der Bürgerbewegung und mit dem Koordinationsrat der Opposition Gespräche aufzunehmen. Auch die Äußerungen Lukaschenkos vom vergangenen Freitag konnten die Lage nicht beruhigen. Der 66-Jährige hatte gesagt, dass er unter einer neuen Verfassung nicht mehr als Präsident zur Verfügung stehen werde. Eine mögliche Verfassungsreform wird seit Wochen diskutiert, von der Opposition allerdings als Täuschungsmanöver kritisiert. Am Vortag war Russlands Außenminister Sergej Lawrow zu einem Kurzbesuch in Minsk gewesen. Auch er hatte Verfassungsreformen eingefordert. 

Solch tiefgreifende gesellschaftspolitische Prozesse äußern sich nicht nur in Musik, Kunst und Kultur, sondern auch in der Sprache. Anja Perowa hat für das belarussische Medienportal tut.by eine Erkundungstour unternommen – zu den neusten sprachlichen Ausformungen der Protestkultur.

Typisch für das Partisanieren – an ungewöhnlichen Orten weiß-rot-weiße Flaggen aufhängen / Foto © Wadim Samirowski/tut.by

Bänder (russ. lenty). Der Protest der Belarussen äußert sich nicht nur in gemeinsamen Spaziergängen. Es kommen dabei auch rot-weiße Bändchen aus unterschiedlichen Materialien zum Einsatz. Möglicherweise wäre das Volk nie darauf gekommen, hätte es nicht den stillschweigenden Kampf der Autoritäten gegen die Symbolik der Protestierenden gegeben. Als die weiß-rot-weißen Flaggen von den Balkonen entfernt wurden (übrigens noch vor den Wahlen), haben die Belarussen einen neuen Trick entwickelt – indem sie sie eben aus Bändchen bastelten, die schwerer zu entfernen sind.

Bussik (russ. busik). Dasselbe wie Kleinbus. Konkret bezeichnet dieser Begriff die Fortbewegungsmittel der Silowiki. In der Regel sind es die Modelle Volkswagen Transporter T5, Ford Transit (auch Custom), Mercedes-Benz Sprinter und spezielle Volkswagen Crafter. Die Fahrzeuge sind farblich meist dunkel, gelegentlich auch weiß oder silber. Solche Fahrzeuge wurden natürlich auch früher von Spezialeinheiten verwendet, doch vermutlich nicht in solchen Mengen. In diesem Zusammenhang ist noch ein weiteres Wort entstanden: „Bussophobie“. Sie tritt auf, wenn man einen Bussik sieht und befürchtet, in diesen hineingezerrt zu werden.

Drahtzieher (russ. kuklowody). Da gibt es tschechische, amerikanische, litauische, ukrainische. Kurz – alle möglichen. In gewisser Hinsicht sind Drahtzieher die, die sich den Kosmonauten entgegenstellen. Doch wurden sie nie gesehen. Obwohl Alexander Lukaschenko der festen Überzeugung ist: Sie existieren. Das hat er bereits am 10. August verkündet: „Ein Gespräch zeigte uns, dass Drahtzieher am Werke sind. Eine der Linien von Drahtziehern führt nach Tschechien. Schon heute wird unser vereintes Hauptquartier aus Tschechien verwaltet, wo – verzeihen Sie mir – diese Schafe sitzen, die nichts verstehen, was man von ihnen will […] Sie hören nicht auf zu drücken und zu fordern: Bringt die Leute auf die Straße und führt Verhandlungen mit den Machthabern über eine freiwillige Machtübergabe.“ Die Belarussen zeigten sich nicht ratlos und druckten schnell „Geld von den Drahtziehern“ – das sind Dollarnoten mit den Bildern von Nina Baginskaja, Swetlana Tichanowskaja, Alexander Lukaschenko, mit Ratten und Kartoffeln, was sich auf unterschiedliche Ereignisse und Witze bezieht.

Hündchen (russ. sobatschka). In den August fiel die Zeit der Pro-Lukaschenko-Kundgebungen. Die Teilnehmer riefen eine ganze Reihe von Losungen. Vom einfachen „Be-la-rus!“ bis zum Mem „Batka voran, das Volk geht mit dran“. Doch am liebsten schrien die Belarussen „Sa Batku“ (dt. Für Batka), die in Massenchören in die Forderung „So-batsch-ku!” (dt. Ein Hündchen!) mutiert. Selbstverständlich erschien sofort nach dieser Entdeckung ein Video, auf dem vor die Antwort der Demonstranten Fragen montiert wurden wie: „Wen werden wir füttern?“ Das Hündchen natürlich.

Jabating. Ironische Bezeichnungen für Pro-Lukaschenko-Kundgebungen. Geht zurück auf den Slogan „Ja/My Batka“ (dt. Ich/Wir sind Batka). Manche denken, dass russische Polittechnologen und Propagandisten ihn sich ausgedacht haben, da die Belarussen Lukaschenko fast nie so nennen (außer freilich Natalja Eismont). Sehr schnell verkürzten Internet-Scherzkekse die Losung der Demonstranten zu einem donnernden „Ja Batka“. Dann gab es bald darauf die bekannten Jabatki (als Bezeichnung für die Teilnehmer der regierungsfreundlichen Kundgebungen) und Jabating (eine eben solche Kundgebung).

Kette (russ. zep). Wir sprechen von Solidaritätsketten, die häufig aus dem Nichts in unterschiedlichen Stadtteilen nicht nur von Minsk, sondern in ganz Belarus entstehen. Wer weiß: Vielleicht wurde der gängige Satz „Mehr als drei dürfen sich nicht versammeln“ erdacht, weil man so etwas vorausgeahnt hat? Denn: Zwei Menschen sind noch keine Kette, aber drei – durchaus. Die größte Kette dieser Art war wohl die Menschenkette am 22. August. Sie verlief von der Okrestina bis Kuropaty.

Kosmonauten (russ. kosmonawty). Wer das ist, das seht ihr auf dem Foto. Meistens bezeichnet dieses Wort OMON-Kräfte in Uniform und mit Helm. Die volle Ausrüstung umfasst außerdem Schulterprotektoren, Handschuhe, Ellbogenschützer und ähnliches Gedöns, wie Gamer es nennen würden. Der Grund für ihren Spitznamen ist offensichtlich – ihre Uniform erinnert wirklich an einen Raumanzug.

Oliven (russ. oliwki). So nennt man im Volksmund die OMON-Mitarbeiter in ihrer olivgrünen Kleidung. Die Existenz einer Uniform in solch einem Farbton ist kein Geheimnis, man hat sie früher sogar im Fernsehen gezeigt. Jetzt haben wir hier dargelegt, warum man die OMON-Leute frank und frei „Oliven“ nennen darf und keine Angst haben muss sich zu vertun. Übrigens nennen die Leute die Silowiki in ihren schwarzen Standardklamotten auch Ölbäume und Johannisbeeren – ein komplettes Feinkostgeschäft findet sich hier.

Partisanieren (russ. partisanit). Das Wort hat seine Bedeutung nicht wesentlich verändert, eher erlebt es eine Renaissance. Die, die „partisanieren“, gehen nicht etwa zu Protesten, sondern beteiligen sich an Untergrundaktivitäten. Zum Beispiel drucken sie Wandzeitungen, verteilen Flugblätter, kleben Sticker und helfen Freiwilligen. Oder sie hängen an sehr ungewöhnlichen Orten weiß-rot-weiße Flaggen auf.

Prostituierte und Drogensüchtige (russ. prostitutki i narkomany). Sprich: Protestierende und Demonstranten. So nannten sich irgendwann die Belarussen selbst auf Anregung von Lukaschenko. Die „Drogensüchtigen“ tauchten am 10. August auf, als auch die Geschichte mit den Drahtziehern geschah. Daher kamen dann auch die „Schafe“. Mit den Prostituierten ist es ein bisschen komplizierter. Über sie hatte Lukaschenko schon vor der Wahl gesprochen, am 4. August, hatte aber niemanden wirklich so genannt: „Wir, der Staat – werden den Kampf im Internet nie gewinnen, da das gelbe Schmuddel-Presse ist. Wir können uns nicht auf ein derart vergilbtes Niveau hinunterbegeben und alle, die uns nicht gefallen, – entschuldigen Sie den Ausdruck – Schlampen und Nutten nennen.“ Offensichtlich passten die Prostituierten dermaßen gut zu den Drogensüchtigen und Schafen, dass man entschied, sie doch einzureihen.

Shodino. Wenn jemand in der zweiten Hälfte 2020 gesagt hat, dass er nach Shodino fährt, war das höchstwahrscheinlich nicht einfach eine Vergnügungsfahrt in die Stadt in der Nähe von Minsk. Was hinter den Worten „in die Okrestina kommen“ stand, wussten die Belarussen auch früher, aber in das Gefängnis Nr. 8 in Shodino wurden nicht so viele festgenommene und inhaftierte Minsker gebracht. Doch jetzt ist die Adresse Sowjetskaja 22A wohlbekannt bei denen, die Briefe dorthin schreiben. Und wohlbekannt ist auch, was Maria Kolesnikowa eben dort für die unglaublichen Belarussen durchmacht.

Spazierengehen (russ. guljat). Dank der legendären Nina Baginskaja, die zum Symbol des Prostestes wurde, haben die Belarussen einen neuen Satz gelernt: „Ich gehe grad spazieren.“ Genau das sagte die Rentnerin im August, als Vertreter der Sicherheitskräfte plötzlich Fragen hatten, an sie und ihre Flagge. Heute sagen viele Belarussen, wenn sie auf Protestaktionen sind, nicht, dass sie demonstrieren. Sie gehen grad spazieren. Und die Hauptsache dabei ist, dass allen völlig klar ist, was das heißt. In den Chats der einzelnen Bezirke lautet daher die Frage oft: „Wollen wir heute spazierengehen?“

Teestündchen (russ. tschajepitije). Die Zusammengehörigkeit der Belarussen vor dem Hintergrund der diesjährigen Ereignisse ist in ein neues Gesprächsformat mit den Nachbarn eingeflossen: das Teestündchen. Erst gab es Stadtteil-Chats auf Telegram (noch so eine Erscheinung aus 2020), wo sich Leute miteinander unterhielten. Doch sehr schnell wurde das alles entvirtualisiert und man traf sich: trank Tee, brachte Torten und andere süße Sachen mit, lud Musiker ein und tanzte zu Livemusik. Kurz, es war herzig. Besonders berühmt für seine Teestunden im Hof wurden der Stadtteil Nowaja Borowaja, der Hof beim Platz des Wandels, Grushville und die Feste in der Osmolowka.

23.34. Ist keineswegs eine Uhrzeit, sondern die Nummer des Paragraphen für Ordnungswidrigkeiten. Den Inhalt kennt mittlerweile fast jeder Belarusse, deswegen werden wir hier nichts erklären. Wenn ein Freund erzählt, dass man ihn „nach 23.34“ verurteilt hat, muss man ihn nichts weiter fragen. Er war spazieren, denn: Es gab bisher noch keinen Präzedenzfall, wo ein Jabating mit diesem Paragraphen geahndet wurde

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