Mit den gigantischen Monumenten und spektakulären Bilderstürmen der Wendezeit hielt sich Fotograf Igor Mukhin nur kurz auf. Stattdessen erkundete er in seinem Langzeitprojekt seit den späten 1980er Jahren bis ins Jahr 2017 die Reste der sowjetischen Utopie in der Provinz. Hier fand er auf Plätzen, in Parks und vor Krankenhäusern das untere Ende der sozrealistischen Kunstproduktion: billige, kleine Gipskopien bekannter Werke, die ihren ursprünglichen Kontext der Erholungsparks oder Pionierpaläste verloren hatten und sich selbst überlassen dahindämmerten.
Was Denkmalstürzer in den Zentren des Landes publikumswirksam inszenierten, vollbrachte an den Rändern, im Schatten der Geschichte, der Zahn der Zeit und manchmal auch die unsichtbare Hand von Vandalen. Mukhin holt die Überreste der sowjetischen Zukunftsmärchen ins Bild, zukunftsfrohe Fußballer in Aktion, fürsorgliche Mütter mit ihren Kindern, zum Sprung ansetzende Schwimmerinnen … Dabei lassen Mukhins Bilder die üppigen Reize, die Sinnlichkeit und Lebensfreude der antik anmutenden Figuren, mit denen die sowjetische Zukunft ausstaffiert war,1 durchaus ihre Wirkung entfalten: Die Tristesse der nicht eingetroffenen, längst überfälligen Utopie ist beklemmend oder poetisch. In der späten Sowjetunion war allen klar, dass die Antike im Laufe von Jahrhunderten zerfiel, aber die sowjetische Ewigkeit schon nach 20 oder 30 Jahren den Charakter von Ruinen angenommen hatte.
In den krisengeschüttelten 1990er Jahren sprachen die Menschen in Metaphern des Zerfalls über den Niedergang des Sozialismus: in Erzählungen von rinnenden Dächern und bröckelnden Fassaden. Die bröckelnden Körper der Götter und Helden, der Milchmädchen, Speerwerferinnen und Mütter, der Kosmonauten und Parteiführer hatten ihre Aura schon vor der Wende verloren. 1991 schien sich in ihnen der Bogen vom Aufbau des Sozialismus bis zu seinem Fall zu verkörpern. Doch der Fall war nicht endgültig, schon Ende der 1990er kehrten einige auf ihre Sockel zurück.
Igor Mukhins Fotografien sind eine Hommage an die sichtbar werdende Zeitlichkeit des Sozialistischen Realismus, auch an seinen Hang zu Vervielfältigung und Serialität. Das Auge seiner Kamera richtet sich nicht auf die Bilderstürze in den Hauptstädten, sondern auf den langsamen Verfall der für alle Ewigkeit mit ausgestrecktem Arm in die Zukunft weisenden Leninstatuen in Provinzstädten, im wuchernden Gebüsch von Plattenbausiedlungen oder aus der Zeit gefallen vor aktuellen Werbeballonen. Er spürt abblätternde Grüppchen von Müttern mit Kindern vor Kleinstadt-Krankenhäusern auf und Pioniere, die sich in peripheren Grünanlagen auf ihre Speere stützen. Die Helden von gestern fristen ein vergessenes Dasein auf dezentralen Straßenkreuzungen. Nicht nur das Material, auch die Gesten wirken müde.
Zum Weiterlesen:
Mukhin, Igor (2018): In Search of Monumental Propaganda, Berlin
Fotos: Igor Mukhin
Bildredaktion: Andy Heller
einführender Text: Monica Rüthers
Veröffentlicht am 22.02.2019
1.Kruk, Sergei (2008): Semiotics of visual iconicity in Leninist ‘monumental’ propaganda, in: Visual Communication 7 (2008) 1, S. 27-56 ↑
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