Für den russischen Pass in den Krieg

Seit Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar, aber besonders seit der sogenannten „Teilmobilmachung“ im Herbst 2022 ist auffällig, wie sich der Kreml davor drückt, Männer aus den russischen Metropolen wie Moskau und Sankt Petersburg in den Krieg zu schicken. Denn schon im September war zu beobachten, wie schnell Hunderttausende fliehen und so einen harten Brain Drain verursachen. 

Also mobilisiert man vorrangig in der Provinz, im Norden, in Sibirien, im Fernen Osten und in der Kaukasusregion. Offenbar reicht das jedoch nicht: Seit Frühjahr 2022 gibt es immer wieder Meldungen von Migrantenjagden und Zwangsrekrutierungen von ausländischen Arbeitskräften. Auch in Europa ankommende Geflüchtete berichten vereinzelt von Mobilisierungsversuchen russischer Behörden – womöglich eine weitere Taktik der „verdeckten Mobilmachung“.

Die Faktenlage dazu ist dünn. Einige Duma-Abgeordnete fordern populistisch, dass doch die sogenannten Gastarbaitery an die Front gehen sollen. Doch nur selten erreichen Videoaufnahmen oder andere Belege die Öffentlichkeit. Novaya Gazeta Europe hat Fakten und Zusammenhänge über die Mobilisierung von Staatsbürgerschaftsanwärtern und die Bedeutung des Passes der Russischen Föderation zusammengetragen. 

Für manche eine Aufstiegschance, gleichzeitig ein sehr wahrscheinlicher Weg an die Front und in den Tod im Krieg – der russische Pass / Foto © Andrei Rubtsov/ITAR-TASS/imago-images

Im August gab es in mehreren Regionen Russlands Razzien gegen Migranten. Unterstützt von der Polizei suchten Beamte der Militärkommissariate auf Märkten und in Gemüselagern nach neuen russischen Staatsbürgern, die noch nicht für den Wehrdienst erfasst waren. Diese bekamen einen Einberufungsbefehl oder wurden gleich auf die nächste Dienststelle mitgenommen.

Mitte August wurden zum Beispiel rund einhundert neue Bürger vom Sofiskaja-Gemüselager in Sankt Petersburg abgeholt. In einem Obst- und Gemüselager von Nishni Nowgorod wurden über 20 Männer mitgenommen. Auch aus den Oblasten Belgorod, Swerdlowsk, Tscheljabinsk und aus Tschuwaschien wurden solche Razzien gemeldet. 

Laut Auskunft eines Juristen, der nicht namentlich genannt werden möchte, gibt es Polizeiaktionen dieser Art seit Februar 2023. Unter dem Vorwand, die illegale Einwanderung zu bekämpfen, organisierten die Behörden Razzien, um Migranten in die Armee zu locken. Allen Aufgegriffenen werde dann nahegelegt, einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium zu unterschreiben. 

Vom Amt an die Front

In der Oblast Kaluga geht man noch weiter und nimmt gar keine Einbürgerungsanträge mehr an, wenn der Antragssteller nicht auch eine Verpflichtung zum Kriegsdienst unterschreibt. Im August 2023 berichtete die Menschenrechtlerin Tatjana Kotljar dem Medium 7×7 von fünf solchen Fällen, wobei es, wie sie sagt, viel mehr Ablehnungen gibt. 

In einem Fall wollte ein Einwanderer in der Einbürgerungsbehörde von Kaluga seinen Antrag auf Staatsbürgerschaft einreichen und sollte stattdessen erst einen Vertrag mit der Armee abschließen. Aufgrund gesundheitlicher Probleme wurde zwar seine Untauglichkeit für den Militärdienst festgestellt. Doch er bekam keine Bescheinigung und sein Einbürgerungsantrag wurde nicht angenommen. 
„Nachdem er Beschwerde eingelegt hatte, bekam er Probleme. Er wurde wegen eines Gesetzesverstoßes angezeigt, den er nie begangen hatte. Er sagte: ‚Wir werden hier nicht wie Menschen behandelt, sondern wie Vieh. Die Staatsbürgerschaft eines solchen Landes will ich gar nicht bekommen. Ich habe schon mein Ticket und fahre nach Hause‘“, so Kotljar. 

Der Gouverneur der Oblast Kaluga, Wladislaw Schapscha, kommentierte, der Betroffene habe das alles bestimmt wegen mangelnder Russischkenntnisse falsch verstanden. Die Praxis, „angehende Staatsbürger auf die Möglichkeit, als Vertragssoldat für Russland zu kämpfen sowie auf die daraus folgenden Sozialleistungen hinzuweisen“, wertete Schapscha positiv.

Migranten ohne russischen Pass im Krieg gegen die Ukraine

Im September 2022 wurde in Russland ein Gesetz verabschiedet, wonach Ausländer, die freiwillig in den Krieg gegen die Ukraine ziehen, nach Ablauf eines Jahres in einem vereinfachten Verfahren die Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation erhalten können. Gleichzeitig kündigte der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin an, im Einwanderungszentrum Sacharowo Schalter einzurichten, an denen sich Ausländer zum Militärdienst melden können. 

Das allerdings sind dann Söldner, weil diese Leute ja noch nicht über die russische Staatsbürgerschaft verfügten, merkt der Jurist Schuchrat Kudratow an. Mehrere Länder Zentralasiens hätten ihre Staatsbürger bereits zu Beginn der Mobilmachung im Jahr 2022 vor strafrechtlichen Konsequenzen bei einer Teilnahme am Krieg in der Ukraine gewarnt.   

Wer will heute Russe werden?

Seit 2022 ist der russische Pass ein toxisches Gut: für manche möglicherweise eine Aufstiegschance, gleichzeitig ein sehr wahrscheinlicher Weg an die Front und in den Tod im Krieg. Das Innenministerium stellte 2022 sechs Prozent weniger neue Pässe aus als im Jahr zuvor, nämlich 691.045. Fast in allen Ländern, wo früher viele Menschen aktiv die russische Staatsbürgerschaft angestrebt hatten, ist die Nachfrage gesunken. 

Nicht einmal durch die aktive Aushändigung russischer Pässe in den besetzten Gebieten der Ukraine vor deren „Angliederung“ an Russland konnten die Zahlen von 2021 übertroffen werden. Auch weil die Bewohner der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk schon seit 2019 im vereinfachten Verfahren russische Pässe erhalten. Von diesem Moment an wurde jede dritte neue russische Staatsbürgerschaft in der Oblast Rostow zuerkannt, die an die besetzten Gebiete der Ukraine grenzt. Über eine Million Ukrainer erhielten so die russische Staatsbürgerschaft − das ist mehr als die Hälfte aller neuen Staatsbürgerschaften seit 2019.

Im Juli 2022 erließ Präsident Putin dann ein Dekret, wonach alle Ukrainer die russische Staatsbürgerschaft erhalten können, ohne dass sie einen Wohnsitz in den besetzten Gebieten nachweisen müssen. Die Autoren einer Studie der NGO Grashdanskoje sodeistwije (dt. Zivile Zusammenarbeit) sehen in diesem Dekret auch den Grund für die hohen Zahlen neuer russischer Staatsbürger in der Oblast Cherson im zweiten und dritten Quartal 2022.  

Nach der Annexion der ukrainischen Gebiete Luhansk, Donezk, Cherson und Saporishshja im September 2022 wurden deren Bewohner automatisch zu russischen Staatsbürgern. Sie müssen nun kein Einbürgerungsverfahren mehr durchlaufen, sondern bekommen ihren ersten Pass wie alle Menschen in Russland mit 14 Jahren. Berechnungen von Mediazona zufolge wurden im Oktober 2022 rund 40.000 Ukrainer nach dem neuen Schema zu russischen Staatsbürgern. Anfang 2023 stellte das Innenministerium jedoch die detaillierte Statistik über die Zahl der ausgestellten Pässe unter Verschluss. 

Wegen des veränderten Status der besetzten Gebiete sind die Oblast Rostow und die Krim aus der Einbürgerungsstatistik so gut wie verschwunden. Im ersten Halbjahr 2023 bekamen 20 Prozent der Neubürger ihre Pässe in der Stadt (16.147) und in der Oblast Moskau (24.884). Im Vorjahr deckten diese Regionen nur elf Prozent der im ersten Halbjahr beantragten Staatsbürgerschaften ab. Sechs Prozent der Einbürgerungen gab es in Sankt Petersburg und der Oblast Leningrad (11.574), fünf Prozent in der Oblast Tscheljabinsk (9460). 

Eine sehr besondere Beziehung

Das einzige Land, dessen Bewohner sich im Jahr 2023 weiterhin vielfach um die russische Staatsbürgerschaft bemühen, ist Tadschikistan. Im ersten Halbjahr 2023 wurden bereits 86.964 Tadschiken zu russischen Staatsbürgern, das sind um 17 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.

In der Studie von Grashdanskoje sodeistwije wird als Erklärung für das hohe Interesse am russischen Pass die wirtschaftliche Lage in Tadschikistan angeführt. Tadschikistan ist eines der ärmsten Länder des postsowjetischen Raumes, rund 30 Prozent der Bevölkerung leiden an Unterernährung, 47 Prozent leben von weniger als 1,33 Dollar am Tag. 

Valentina Tschupik, die ehrenamtlich Rechtsberatung für Migranten anbietet, sieht jedoch auch einen Grund in der in Tadschikistan verbreiteten russischen Propaganda: „Erstens wird rund um die Uhr gratis russisches Fernsehen gesendet. Die eigenen Sender bringen nur Folklorekonzerte und fetzige Reportagen über die schrankenlose Fürsorge von [Präsident] Emomalij Rahmon für das arischste und daher so glückliche Volk, was ja noch schlimmer ist als die russische Propaganda. Zweitens gibt es kaum Zugang zum Internet.“
 
Tadschikistan ist außerdem das einzige Land, das mit Russland ein Abkommen über eine doppelte Staatsbürgerschaft und eine Vereinbarung hat, dass Personen, die in Tadschikistan Wehrdienst geleistet haben, von der Wehrpflicht in Russland ausgenommen sind und umgekehrt. 
 
Das betrifft jedoch nur die Wehrpflicht und keine Wehrübungen oder Mobilmachungen. Wenn ein wehrpflichtiger tadschikischer Staatsbürger mit doppelter Staatsbürgerschaft seinen ständigen Wohnsitz in Russland hat, dann kann er durchaus zur russischen Armee einberufen werden. Im Januar 2023 sagte der Leiter des Ermittlungskomitees der Russischen Föderation, Alexander Bastrykin, dass Ausländer mit russischer Staatsbürgerschaft auch zum Krieg in der Ukraine eingezogen werden sollten. Und als im Mai 2023 das Gesetz über die elektronische Zustellung der Einberufungsbescheide in Kraft trat, tauchten erste Meldungen auf, wonach tadschikischen Staatsbürgern mit russischem Pass die Ausreise verwehrt wurde. Von diesem Ausreiseverbot erfuhren die betroffenen Tadschiken mit doppelter Staatsbürgerschaft, als sie im staatlichen Serviceportal Gosuslugi ihren Einberufungsbescheid erhielten. 

Je weniger wahrscheinlich eine neue Mobilisierungswelle ist, desto stärker wird der Druck auf Migranten, glaubt Politikwissenschaftler Michail Winogradow. So wurde in der Staatsduma ein Gesetzentwurf eingebracht, der vorsieht, dass im Fall einer Wehrdienstverweigerung eine bereits erworbene Staatsbürgerschaft wieder entzogen werden kann. Eine andere Gesetzesinitiative will einen verpflichtenden Armeedienst für Ausländer einführen, bevor sie die Staatsbürgerschaft erhalten. Allerdings birgt dieser Vorschlag den Quellen von Verstka zufolge noch immer „zu hohe Risiken“, weswegen die Staatsmacht es bislang nicht eilig hat, ihn als Gesetz zu verankern.    

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