„Wir müssen das Triumphale aus der Geschichte tilgen“

Imperium, das waren immer die anderen, vor allem die USA: Der Begriff war in der Sowjetunion stets dem „kapitalistischen Westen“ vorbehalten. Unter anderem durch zahlreiche Marketingmaßnahmen russischer Unternehmen bekam der Ausdruck nach dem Zerfall der Sowjetunion eine andere Färbung. So konnte man schon Mitte der 1990er Jahre in der Zeitschrift Imperium des Geschmacks blättern, eine Schönheitssalon-Kette verpasste sich den Namen Imperium des Stils, es gab einen Imperium-Vodka und die Reisebüro-Kette Imperium des Tourismus

Auf diesen fruchtbaren Boden fiel in den frühen 2000er Jahren auch die Idee von der Wiederherstellung des Imperiums. Nach dem Ende des Kalten Krieges, so hieß es darin, hat sich der Westen als arroganter Sieger aufgeführt: In seinem eitlen Stolz habe er alles darangesetzt, Russland zu demütigen. Russland sei jedoch „von den Knien auferstanden“ und zum alten Glanz des Sowjetimperiums zurückgekehrt.

Der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew ist überzeugt, dass diese Erzählung den Menschen in Russland von oben aufgesetzt worden ist. Der Ökonom Sergej Gurijew hat den Preisträger des diesjährigen Pushkin House Prize in seiner Interview-Reihe auf Doshd-TV befragt, die einer der ewigen russischen Fragen gewidmet ist: „Was (soll man denn) tun?“ Was muss man tun, um ein freies und wohlhabendes Russland aufzubauen, und was muss man als Erstes tun, wenn sich eine Gelegenheit für den Wandel bietet? VTimes hat das Interview verschriftlicht, darin erklärt Medwedew, warum er davon überzeugt ist, dass der Aufbau eines normalen und modernen Nationalstaates zum Greifen nahe ist. Und das Rezept dafür, so der Politologe, ist denkbar einfach.

Politologe Sergej Medwedew (links) im Gespräch mit Sergej Gurijew darüber, warum er glaubt, dass der Aufbau eines modernen Nationalstaates zum Greifen nahe ist / Foto © vtimesSergej Gurijew: Sergej, heute wird überall auf der Welt von der Verschiebung globaler Werte hin zu nationalen Identitäten gesprochen. Hat Russland eine besondere Identität, einen Sonderweg?

Sergej Medwedew: Ich bin Konstruktivist, und ich glaube, dass jede soziale Wirklichkeit erfunden ist. Jede nationale Idee, jede Ideologie ist vollständig konstruiert, von einer Elite erdacht und über die Massenmedien verbreitet – und sie lässt sich innerhalb von ein paar, sagen wir zehn, Jahren durchaus verändern. 

Sicher, einige Mythen inspirieren die Menschen. Doch das sind keine ewigen Werte, kein Sonderweg – es sind durchsichtige Folien, die Medienleute, PR-Manager, Polittechnologen und Leute aus der Präsidialadministration vor uns drapieren. Bis dieses Tableau wieder abgenommen und durch ein anderes ersetzt wird. 

Das Tableau lässt sich also innerhalb von zwei oder zehn Jahren vollständig austauschen? Werden denn die Werte und Identitäten von der Präsidialadministration und von Medienleuten gezielt entworfen? Oder geschieht das als Reaktion auf eine Nachfrage der Gesellschaft?

Das geht von beiden Seiten aus. Sehen Sie sich an, wie sich das Tableau in den letzten 30 Jahren verändert hat: Das Ende der 1980er und der Anfang der 1990er waren geprägt von einer Ideologie der Normalität: „Hinter uns liegen 70 Jahre kommunistischer Finsternis, doch jetzt tritt Russland in die Gesellschaft der zivilisierten Nationen ein, öffnet sich der Welt.“ Das war eine natürliche Reaktion der Gesellschaft, in Kombination mit der wirkmächtigen Publizistik der Perestroika.

Es ist kein Sonderweg – es sind durchsichtige Folien, die Medienleute, PR-Manager, Polittechnologen vor uns drapieren

Auch Putin war ein Produkt dieser Ideologie. Ich kann Putins Worte bei einem Treffen mit Vertrauten nur unterschreiben: Er wurde gefragt, ob Russland eine nationale Idee haben solle. Woraufhin er gereizt erwiderte, offenbar konnte er diese Frage nicht mehr hören, Russlands einzige nationale Idee sei die Wettbewerbsfähigkeit. Das war damals das vorherrschende Paradigma der gesamten Elite und der Bevölkerung.

Später wurden uns allmählich neue Folien drübergelegt: die Idee der Autarkie, der Souveränität, einer souveränen Demokratie. Und dann fällt endgültig der Vorhang – 2014, mit der Annexion der Krim: „Russland muss die imperiale Vergangenheit wiederherstellen, Russland geht einen Sonderweg“, hieß es dann. Das alles geschah innerhalb von 15 Jahren.

2014 zeigte, dass einige Veränderungen im Narrativ auf sehr große Zustimmung in der Gesellschaft stießen. Durchaus möglich, dass nicht einmal Putin mit so einer positiven Reaktion auf die Ereignisse mit der Krim gerechnet hatte. 
Womit hängt das zusammen? Gibt es gewisse Stereotype im russischen kollektiven Bewusstsein, die vielleicht mit nostalgischen Gefühlen für das Imperium, das Russische Reich, mit den Schulbüchern im Geschichtsunterricht zusammenhängen? 

Ich würde das [mit Nietzsche – dek] als Ressentiment bezeichnen, als ein postimperiales Trauma. Alle postimperialen Nationen mussten es durchleben – Großbritannien, Frankreich. Auch Russland hat es während des Ersten und des Zweiten Tschetschenienkrieges durchlebt; bis heute prägt das postkoloniale Erbe das gesamte Denkschema in Bezug auf Tschetschenien

Die Krim hat unerwartet einen wunden Punkt des kollektiven Bewusstseins berührt und die fortdauernde imperiale Gestalt aufgezeigt. 

Gab es ein solches Kränkungsgefühl in den 1990ern? Ich erinnere mich nicht daran

Ich hatte ja gesagt, jede Ideologie sei konstruiert, doch es gibt einige langwährende Modelle, die mindestens zwei, wenn nicht drei Jahrhunderte halten: Nämlich das imperiale Selbstbewusstsein, die imperiale Selbstwahrnehmung: Die Elite und die Massen betrachten sich als Teil eines riesigen territorialen Projekts.

In dieser Hinsicht hinkt Russland furchtbar hinterher. Alle haben sich mehr oder weniger an die postimperiale Weltordnung angepasst, doch Russland will zurück ins 19. Jahrhundert, zurück zum „europäischen Konzert der Großmächte“, zu Gortschakow und zu den großen Erzählungen, als Stalin sich in seiner weißen Jacke mit Churchill und Roosevelt über die Karte beugte, um Europa und die Welt aufzuteilen

Dieses Gefühl des Ressentiments und der Kränkung wurde von der politischen Elite kreiert. Gab es ein solches Kränkungsgefühl in den 1990ern? Ich erinnere mich nicht daran. Aber nachdem Putin an die Macht kam, etwa Mitte der 2000er Jahre, begann man uns zu erzählen, Russland sei zu kurz gekommen. Die Elite erklärte die Russen zu armen Leuten: „Ihr Lieben seid zu kurz gekommen, die ganze Welt hat euch gelinkt. Wir schotten uns ab und rächen uns an der Welt, die uns missverstanden und nicht akzeptiert hat.“ Das ist eine Ideologie, die von Null auf konstruiert wurde und aus der das Verhältnis zur Krim und dem Rest der Welt erwächst. 

Aber das postimperiale Ressentiment ist nicht nur ein russisches Problem. Wie Sie richtig gesagt haben, mussten es viele europäische Länder überwinden, als sie den Nationalstaat errichtet haben. Es gibt auch weniger moderne Staaten wie den Iran, der ein Imperium in seiner Region sein will. Oder die Türkei, deren Präsident die hundertjährige Geschichte leugnet, in der eine säkulare Republik geschaffen wurde, und der eine Variante des Osmanischen Reichs wiedererrichten möchte. 

Als Konstruktivist denken Sie sicher darüber nach, wie sich dieses Ressentiment überwinden ließe, wie sich die Debatte hinlenken ließe zum Aufbau eines Nationalstaates ohne imperiale Ambitionen?

Ich denke, der Lauf der Geschichte wird das Ressentiment aufheben. Ein harter Schlag, ein Schlag in die Magengrube, war der Verlust der Ukraine. Diesen Schlag wird Russland wohl nicht so schnell verkraften – vielleicht auch nie. Brzeziński hatte Recht, als er sagte, dass der russische Imperialismus in der Ukraine beginnt und endet, dass Russland aufhört ein Imperium zu sein, sobald es die Ukraine verliert.

Die russische Politik hat zwei Referenzpunkte. Der erste ist Washington, alles, was gesagt oder getan wird, die gesamte Ideologie und alle Auftritte von Sacharowa sind vor allem auf Washington ausgerichtet. Russland misst sich an Amerika. 

Die russische Politik hat zwei Referenzpunkte. Der erste ist Washington, der zweite die Ukraine

Der zweite Referenzpunkt ist die Ukraine. Ich sehe das als eine Art Exorzismus, wenn die Dämonen heulend hervorkommen, jedes Mal, wenn die Rede auf die Ukraine, den Donbass oder die Krim kommt. Das sind die Krämpfe eines postimperialen Ressentiments. Dieses Ressentiment wird von den Wellen der Geschichte weggespült. Aber um den hohen Preis des Blutvergießens in der Ukraine, unzähliger vertriebener Menschen, der Bombenangriffe in Aleppo – alles Dinge, die zweifellos als Kriegsverbrechen eingestuft werden müssen.

Gibt es eine zweite Krim? Würden sich die Russen genauso über eine nicht nur symbolische, sondern tatsächliche Angliederung von Belarus freuen? Gibt es noch mehr Hebel wie damals 2014, an denen die russischen Eliten ansetzen könnten?

Ich hoffe nicht. Der Krimsekt ist schal geworden. Belarus ist noch ein Joker, den man aus dem Ärmel ziehen könnte, aber der Effekt wäre deutlich kleiner als nach der Krim.

Heute scheint mir die Geschichte das wesentliche Schlachtfeld zu sein. Nicht nur in Russland, sondern auch im Ausland. 

Belarus ist noch ein Joker, den man aus dem Ärmel ziehen könnte, aber der Effekt wäre deutlich kleiner als nach der Krim

Putin hat sich plötzlich zum Historiker Nummer eins erklärt, veröffentlicht Fachartikel und das russische kollektive Bewusstsein empört sich wöchentlich über irgendein Denkmal.

Der Präsident veröffentlicht Fachartikel mit unverkennbaren imperialen Tendenzen, propagiert einen stalinistischen Blick auf die Welt. Das Fernsehen trieft vor Propaganda. Unsere Schulbücher widersprechen dem, was man in den Nachbarstaaten in Geschichte lernt.

Es gibt also zwei Felder. Das erste ist das Fernsehen. Wir konnten wunderbar beobachten, wie die Hass- und Propaganda-Maschine vorübergehend gestoppt wurde, um die Fußballweltmeisterschaft abzuhalten. Plötzlich verwandelten sich die Russen in freundliche Gastgeber. 

Das zweite ist eher ein lang angelegtes Projekt: die Geschichtsbücher. Was müsste dort stehen, damit sich die Schüler von heute zivilisiert verhalten, wenn sie in zehn, 20 oder 30 Jahren die Elite der russischen Gesellschaft bilden?  

Bei der Fußballweltmeisterschaft haben Sie Recht. Sogar die Russen haben es geglaubt. Viele meiner Freunde schrieben auf Facebook: „Sieh einer an, wir sind normale Menschen, die Polizisten lächeln.“ Doch dann kam der heiße Sommer von 2019.  

Geschichte kann nicht aus einem einzigen Narrativ bestehen. Wir sollten uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen und die Tatsache anerkennen, dass Russland viele Geschichten hat. Jede Ethnie innerhalb der Russischen Föderation hat ihre eigene Geschichte. 

Wir sollten uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen und die Tatsache anerkennen, dass Russland viele Geschichten hat

Damit werden wir immer wieder konfrontiert. Wenn beispielsweise die Tataren gegen die Verherrlichung von Iwan dem Schrecklichen protestieren. Für sie ist er ein Aggressor, der den tatarischen Staat zerstört hat. 

Ich denke, wir sollten uns darauf einigen, dass mehrere Perspektiven auf die Geschichte im Unterricht behandelt werden müssen.

Es gibt ein Ensemble, eine Sinfonie verschiedener historischer Stimmen, unsere Vergangenheit ist diese hochkomplexe, polyphone Partitur

Geschichte muss in Russland auch die Geschichten der kleinen Völker einschließen, die Geschichten der besiegten Völker, beispielsweise die Geschichte aus Sicht der Tschetschenen. In russischen Schulen muss über die Deportation der Tschetschenen gesprochen werden, über den 200-jährigen Tschetschenienkrieg, über den Imam Schamil

Die eine Geschichte gibt es nicht – es gibt ein Ensemble, ein Orchester, eine Sinfonie verschiedener historischer Stimmen, unsere Vergangenheit ist diese hochkomplexe, polyphone Partitur. 

Wir haben die jahrhundertelange Erfahrung einer erfolgreichen Koexistenz verschiedener Ethnien und Religionen

Außerdem müssen wir das Triumphale aus der Geschichte tilgen, uns von der Idee verabschieden, dass da einst das große Russische Reich war, dessen Nachfolger wir sind. Wir leben in der Vergangenheit, wir gehen vorwärts, doch unser Blick ist nach hinten gewandt. Wir werden ständig stolpern, weil niemand vorwärts gehen kann, wenn er nicht nach vorn schaut. Aber wir schielen auf das Russische Reich und begreifen nicht, dass Russland ein schon fast zerfallenes Imperium ist.   

Das Russische Reich erlebte seinen Zerfall in zwei Akten: 1917 und 1991, und jetzt befinden wir uns in der Mitte des komödiantischen dritten Aktes. Im Gegensatz zu anderen großen Imperien ist das Russische Reich immer noch nicht ganz zerfallen. Russland begreift sich bis heute im großen territorialen Paradigma der letzten Jahrhunderte. Ich glaube, Witte sagte einmal: „Ich weiß nicht, was Russland ist, aber ich weiß, was das Russische Reich ist.“ Wir meinen auch heute noch dieses Imperium, wenn wir „Russland“ sagen. Wir schaffen es nicht, Russland als einen Nationalstaat zu denken. 

Gerade deswegen ist ein kleinster gemeinsamer Nenner notwendig. Aber welcher könnte das sein? Ist Russland ein europäisches Land? Sind die klassische russische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, das Streben nach Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Wertschätzung der Bildung ein gemeinsames Fundament, um Russland als einen Teil der europäischen Kultur betrachten zu können? Oder wird auch das von einem Teil der Gesellschaft angenommen und von einem anderen abgelehnt werden? 

Letzteres, denke ich. Ich würde mir natürlich wünschen, dass die Bewohner des Fernen Ostens und alle Völker des Kaukasus sagen: Russland ist eine europäische Kultur. Aber ich möchte diese Position niemandem als die einzig richtige aufdrängen. Für mich ist die Multikulturalität der kleinste gemeinsame Nenner – der Dialog der Kulturen, der Ethnien, der Religionen und der gegenseitige Respekt. Wir respektieren die Geschichte des tschetschenischen Volkes und das tschetschenische Volk respektiert die russische Geschichte. 

Genau das ist nämlich Russlands Stärke, weil wir die jahrhundertelange Erfahrung einer erfolgreichen Koexistenz verschiedener Ethnien und Religionen haben, die beispielsweise Frankreich fehlt. Wir sehen ja, was in den Banlieues passiert. In russischen Großstädten sind die Vertreter des Islam integriert und bilden keine ethnischen Enklaven. Das ist eine einzigartige Erfahrung, die Russland kultivieren, fördern und in den Rest der Welt tragen sollte. 

In russischen Großstädten sind die Vertreter des Islam integriert und bilden keine ethnischen Enklaven. Das ist eine einzigartige Erfahrung, die Russland kultivieren, fördern und in den Rest der Welt tragen sollte

Außerdem braucht die russische Nation für ihren Aufbau ein antistaatliches Pathos. Denn der starke Staat, der Leviathan, war immer Russlands Rettung und Russlands Verhängnis zugleich. Russland war nicht nur ein Imperium, Russland war auch ein riesiger halbmilitaristischer Staat, der während der Putin-Ära in all seiner mittelalterlichen Pracht wieder zum Leben erwacht ist.

Es gibt zwei Hürden, die Russland den Weg in die Moderne versperren: das Imperium und der Staat. Und gerade das sind die beiden wesentlichen Klammern des Putinismus.

Wir haben Angst vor dem Staat, vor diesem ehernen Reiter, der über die gefluteten Weiten unserer Heimatstadt galoppiert. Überall wittern wir staatliche Interessen und fühlen uns ihnen unterworfen.  

Sie haben Recht, wir haben Angst vor dem Staat. Wir vertrauen ihm nicht. Auch unsere Lust, gegen das Gesetz zu verstoßen, rührt daher, dass der russische Bürger im letzten Jahrhundert eines mit Sicherheit wusste: Das Gesetz ist nicht gerecht. Weil es von oben kommt und nicht aus einem demokratischen Konsens hervorgeht. Aber es kann keine moderne Gesellschaft ohne Rechtsstaatlichkeit, ohne Vertrauen in die staatlichen Institutionen geben. Wie können wir dieses Vertrauen schaffen?

Dieses Vertrauen entsteht über funktionierende Institutionen. Die gab es in Russland bereits. Wir haben gesehen, wie Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre allmählich eine Infrastruktur des Rechts entstand und auch funktionierte, bis die Rechtsinstitute von der administrativen Vertikale und all der politischen Bürokratie entmachtet wurden.

Ich würde gern über Vertrauen sprechen, nicht nur das Vertrauen zum Staat, sondern auch zueinander. Das fehlende Vertrauen, so scheint mir, versperrt der russischen Gesellschaft den Weg in eine erfolgreiche Zukunft. Zynismus ist heute ein wesentliches Instrument, mit dem die russische Elite das Volk manipuliert. Deswegen sagen die Menschen Dinge wie: „In unserem Land wird es nie etwas Gutes geben, weil wir schlechte Menschen sind und einander nicht vertrauen. Die Hoffnung, dass wir eine erfolgreiche, prosperierende Gesellschaft werden, können wir gleich vergessen.“ Was kann man diesem Zynismus entgegensetzen? Wie bringt man die Menschen dazu, einander zu vertrauen?

Sie haben Recht … In seinem Buch Trust bezeichnet Francis Fukuyama das Vertrauen als Grundlage des Humankapitals. Die Kapitalisierung eines Landes bemisst sich nicht am Bruttosozialprodukt, sondern am Vertrauen, das einen viel größeren Wert hat als die Wirtschaftsgüter. Auch der amerikanische Kapitalismus basiert, wie auch jedes erfolgreiche Unternehmen, auf Vertrauen, wie es das zum Beispiel zwischen den Protestanten oder den russischen Altgläubigen gab. 

Dass bei uns das Vertrauen fehlt, beweisen die Zäune: Russland ist kein Land der gemeinschaftlichen Sobornost, sondern ein Land der massiven Sabornost, ein Land der Zäune [Sabornost]. Eine Fahrt über die Rubljowka ist eine Fahrt durch einen Tunnel aus massiven Zäunen.     

Dass bei uns das Vertrauen fehlt, beweisen die Zäune: Russland ist ein Land der Zäune

Vertrauen beginnt mit den Institutionen, genauer gesagt mit der Transparenz von gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen, mit ihrer Auskunftsbereitschaft, Rechenschaft und Verantwortung. Mit einer fairen, unbestechlichen, transparenten Justiz, mit Rechtsinstituten. Damit, dass der FSB seine Archive öffnet, dass Finanzströme transparent gemacht werden, die derzeit alle unter Verschluss sind. Damit beginnt Vertrauen – es geht nicht darum, dass wir einander lächelnd in der Metro grüßen, obwohl das natürlich auch schön wäre. Die Institutionen schaffen oder vernichten das Vertrauen, sie erzeugen diese Muster des Zynismus, des Misstrauens und des Hobbschen Kampfes aller gegen alle.

Wir haben viel über das Imperium gesprochen, vielleicht wäre es noch wichtig, über die Dekolonisation zu sprechen. Was müssen wir tun, damit Russland aufhört, Teile seines Landes oder die Nachbarstaaten als Kolonien zu betrachten?

Lernen und die Welt mit offenen Augen betrachten, das müssen wir tun. Es ist doch befremdlich, wenn Leute, die deine Ansichten zur Ukraine und der Krim teilen, plötzlich explodieren, wenn es um Black lives matter, Greta Thunberg oder um Me too geht. Ich möchte das alles auf einen Nenner bringen, denn das alles sind Anzeichen der Dekolonisation. 

Es ist doch befremdlich, wenn Leute deine Ansichten zur Krim teilen, aber explodieren, wenn es um Black lives matter, Greta Thunberg oder um Me too geht

Wir leben in einem durch und durch kolonialen Diskurs. Er besteht nicht nur darin, dass Russland den Kaukasus erobert und Sibirien kolonisiert hat. Sondern auch darin, dass die Macht in den letzten Jahrhunderten bei den Männern, den Weißen, den Bewaffneten, den Erwachsenen lag. Diese Machtverhältnisse geraten jetzt ins Wanken. Und das passt vielen nicht.

Die Lösung wäre also eine Anerkennung der Pluralität und die Dekolonisation. Die moderne Demokratie ist genau das Instrument, das den Menschen dabei hilft, sich zu einigen. Wenn wir vernünftige, moderne, politische Institutionen schaffen, schaffen wir auch die Grundlage dafür, dass Russland ein normaler Nationalstaat wird und von seinen imperialen Eskapaden Abstand nimmt. Es gibt keine besondere Politik der Dekolonisation, es braucht nur den Aufbau eines normalen, modernen Staates.    

Genauso ist es. Dafür müssen die Institutionen gut funktionieren. Sobald sie es tun, lösen sich die Probleme zwischen Russland und Tschetschenien, zwischen Männern und Frauen, die Frage nach dem tatarischen Sprachunterricht in den Schulen und vieles mehr.

Die Dekolonisation ist kein Import aus dem Westen, der der eigenständigen russischen Kultur aufgedrängt wird, sondern ein weltumspannender Prozess des 21. Jahrhunderts, bei dem Russland, wie so oft, hinterherhinkt. 

Die Dekolonisation ist kein Import aus dem Westen, der der eigenständigen russischen Kultur aufgedrängt wird, sondern ein weltumspannender Prozess

Gaidar sprach in seinen Büchern von einer 40- bis 50-jährigen Verspätung, mit der Russland bei den wesentlichen kulturellen Errungenschaften ankommt. So ist es auch jetzt: Russland steht jetzt da, wo der Westen in den 1960ern war, und versucht nun mit denselben Herausforderungen fertigzuwerden. 

Bleibt nur zu hoffen, dass Russland aus der Erfahrung der anderen Länder lernt und diesen Weg schneller zurücklegt. 

Ja, die Normalität ist viel näher, als wir glauben, wir müssen nur das Denken in Stereotypen ablegen und die Hand nach der Normalität ausstrecken – und nach den Menschen, mit denen wir leben.

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