„Symptom einer politischen Krankheit im Endstadium“

Am vergangenen Freitag haben die russischen Behörden erklärt, das Online-Medium Meduza in die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ aufzunehmen. Das Exilmedium (mehr zur Vorgeschichte hier) hat seinen Sitz im lettischen Riga und ist seit seiner Gründung 2014 zu einem der populärsten unabhängigen russischsprachigen Medien avanciert, aus dem auch dekoder regelmäßg übersetzt. Als sogenannter „ausländischer Agent“ muss Meduza alle Beiträge mit einem entsprechenden Vermerk kennzeichnen und die Finanzen offenlegen, bei Verstößen droht eine Geldstrafe und letztlich die Blockade. „Das ist eine langsame Erdrosselung“, sagtе Meduza-Chefredakteur Iwan Kolpakow im Interview auf Doshd

Schon während der Solidaritätsproteste für Nawalny im Januar und Februar waren die Behörden massiv gegen einzelne Medien und Medienschaffende vorgegangen, im April hatte außerdem die Festnahme von vier RedakteurInnen des Studentenmagazins Doxa für Aufsehen gesorgt.

Vom Agentengesetz jedoch waren bislang Auslandsmedien wie die BBC oder Golos Ameriky (Voice of America) betroffen, ansonsten vor allem NGOs wie die Menschenrechtsorganisation Memorial und das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada. 2020 hatte die Duma außerdem Verschärfungen des 2012 ins Leben gerufenen Gesetzes beschlossenen, wonach auch Einzelpersonen als „ausländischer Agent“ bezeichnet werden können – und zwar auch dann, wenn das Geld, das sie aus dem Ausland empfangen haben, gar nicht in Zusammenhang mit irgendeiner politischen Tätigkeit steht. Die EU bezeichnete die Einschränkung unabhängiger Medien in Russland am Samstag als „extrem besorgniserregend“.

„Ausländischer Agent“ – Maxim Trudoljubow nimmt das Vorgehen gegen Meduza auf Facebook zum Anlass, den Begriff vor allem auf den symbolischen Gehalt hin zu hinterfragen.

Mitbürger zu „ausländischen Agenten“ zu erklären – das ist ein zynischer und selbstgerechter politischer Trick. Vielfach erprobt, in unterschiedlichen Epochen und unter unterschiedlichsten Bedingungen – in revolutionären Situationen und in solchen mit einer einzigen „siegreichen“ Partei. Die schlichte Einstufung des Opponenten als äußerer Feind macht den innenpolitischen Dialog zum Krieg. Da ist kein parlamentarischer Disput mehr, kein Disput zwischen Parteien, kein öffentlicher Dialog mit Veröffentlichungen und angriffslustigen Gegendarstellungen, nicht mehr Pamphlet um Pamphlet, nicht ein Wort, das das andere gibt. Hier ist Schluss mit lustig, übereinander Lachen ist verboten – keine Witze, Meme und Satire mehr. Die andere Seite führt das Gespräch aus einer Position der Gewalt heraus. Das passiert, wenn die, die momentan  am Ruder sind, keine Argumente mehr haben. Das ist wie eine Vergewaltigung.

Aber das ist nicht alles. Es ist nicht nicht nur Zynismus und Selbstgerechtigkeit von Menschen mit Villen in Südfrankreich. Es ist der Beweis für die Transformation des Regimes, das sich immer weiter ändert, um der sogenannten ersten Person Schutz zu gewähren – was wiederum seine, also des Regimes, einzige Mission ist. Ob „er“ (das Regime und sein Gesicht mit dem Anfangsbuchstaben P) will oder nicht – der endgültige Schritt, jegliche politische Gegner, nicht registrierte, nicht anerkannte, unverständliche Akteure als „die Anderen“ zu klassifizieren und ihnen ein Label anzuheften, das ist das eindeutige Symptom einer politischen Krankheit im Endstadium, die viele Namen hat: Totalitarismus, Faschismus, alles Mögliche, über das man nicht diskutieren möchte. 

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