Marysia Myanovska: Oh brother, where art thou

Mit ihrer Kamera macht die Kyjiwer Fotografin Marysia Myanovska sich 2019 daran, den Stadtbezirk neu zu erkunden, in dem sie und ihr ein Jahr zuvor verstorbener Bruder Witali ihre Jugend verbrachten. Trojeschtschyna ist einer der größten Schlafbezirke Europas. Er liegt am linken Ufer des Dnipro und ist durch den Fluss vom Zentrum der ukrainischen Hauptstadt getrennt. In den 1970er und 1980er Jahren wurden hier gewaltige Wohnkomplexe für Fabrikarbeiter errichtet. Pläne, eine U-Bahn-Linie zu bauen, die den Bezirk mit dem Rest Kyjiws verbinden sollte, scheiterten immer wieder am Geld. So blieben die Jugendlichen, die hier aufwuchsen, weitgehend unter sich. Ohne Cafés, Bars oder Freizeiteinrichtungen verbrachten sie die meiste Zeit auf der Straße. Nachdem die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, machte das Land eine schwere Wirtschaftskrise durch und viele Bewohner von Trojeschtschyna verloren ihre Arbeit. „Mein Bruder verkörpert die erste Generation junger Menschen in der unabhängigen Ukraine”, sagt Myanovska. „Er betrat eine Welt, die geprägt war von Kriminalität, Heroin Chic, MTV, Sex und von der ersten Techno-Welle.“ Auf der Suche nach ihm lernt sie eine neue Generation kennen. Eine Generation, die die Freiheit nicht geschenkt bekam, sondern für sie kämpfen muss.

Der nördliche Rand von Trojeschtschyna im November 2019 | Mitglied eines Freiwilligenkorps, August 2022 / Foto © Marysia Myanovskadekoder: Sie haben sich in dem Projekt Oh Brother, Where Art Thou auf die Spuren Ihres verstorbenen Bruders gemacht. Was war er für ein Mensch?

Marysia Myanovska: Ich bin 14 Jahre jünger als er, deshalb war er auch eine Vaterfigur für mich. Ich habe mehr Zeit mit ihm verbracht als mit meinem leiblichen Vater. Wenn er seine Freunde treffen wollte, sagte meine Mutter immer: „Oh, nimm Marysia mit“. Ich fand seine Freunde cool, die Musik, die sie hörten, die Klamotten, die sie trugen. Obwohl ich noch kein Teenager war, hat mich ihr Stil geprägt.

Wärmekraftwerk am Nordrand von Trojeschtschyna, November 2019 | Maria und Oleg, März 2021 / Foto © Marysia MyanovskaAuf den Bildern spielt das Viertel Trojeschtschyna in Kyjiw eine wichtige Rolle. Wie war es, dort aufzuwachsen? 

Ich benutze gern das Wort „Ghetto“, obwohl das vielen in der Ukraine nicht gefällt. Trojeschtschyna wurde als Schlafstadt für Fabrikarbeiter gebaut. Und außer schlafen konnte man dort auch nicht viel machen. Es gab Schulen, ein paar kleine Geschäfte und ein Kino, das alte Filme aus der Sowjetzeit zeigte. Mein Bruder und seine Freunde hatten keine Computerspiele, also haben sie die meiste Zeit auf der Straße verbracht. Sie haben Sport gemacht, weil es wichtig war, stark zu sein und gut kämpfen zu können. In den 1990er Jahren verloren viele Bewohner ihre Arbeit, das Viertel wurde immer düsterer, die Kriminalität nahm zu, die Menschen hatten kein Geld und keine Perspektive und wurden immer zorniger. Zuhause liefen auf MTV Clips mit coolen Jugendlichen in teuren Klamotten, und dann gehst du vor die Türe und alles ist grau. Es gab Schießereien auf der Straße, vor unserer Schule wurde ein Mädchen getötet. Junkies warfen ihre Spritzen überall hin.

Während der Arbeit an dem Projekt begann Russland den vollumfänglichen Krieg gegen die Ukraine. Wie hat das Ihre Arbeit verändert?

Erst wusste ich nicht, wie ich weitermachen soll. Ich hatte eine Gruppe Jugendlicher begleitet, die mich an meinen Bruder und seine Freunde erinnerten, so wie ich sie als kleines Mädchen gesehen habe. Dann verstand ich, dass es wichtig ist, diesen historischen Moment zu dokumentieren, und ich habe sie einfach weiter begleitet. Mein Bruder lebte auch in einem sehr wichtigen und sehr dramatischen Moment, als die Ukraine unabhängig wurde. Seine Generation bekam die Unabhängigkeit geschenkt und wusste nicht, was sie mit ihr anfangen soll. Die jetzige Generation muss für unsere Unabhängigkeit kämpfen.

März 2021 / Foto © Marysia MyanovskaWie unterscheiden sich die Generationen?

Wir hatten keine Vorstellung davon, wer wir sein wollten. Was bedeutet unabhängig sein eigentlich in der Praxis? Es war eine sehr schwere Zeit für die Generation meines Bruders. Sie mussten damit zurechtkommen, dass ihre Realität eine ganz andere war als die, die der Fernseher zeigte. Unsere Gegenwart heute ist dramatisch, und ich glaube, für die Jugend gilt das ganz besonders. Während des Krieges ist es noch schwerer, sich eine Zukunft auszumalen, Pläne zu machen, wenn du nicht weißt, ob du vielleicht an die Front musst. Du weißt ja noch nicht einmal, ob dein Land in ein paar Jahren noch existiert.

Zerstörungen durch einen Raketenangriff, April 2022 / Foto © Marysia MyanovskaGrischa und Slawa, April 2022 / Foto © Marysia MyanovskaMein Bruder Waleri und seine Freunde zuhause in unserer Küche in Trojeschtschyna Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia MyanovskaMein Bruder mit seinen Freunden in einem Café Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia MyanovskaMein Bruder zusammen mit Freunden und seiner Freundin im Freizeitpark Hidropark in Kyjiw Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia MyanovskaWaleri in der Küche unserer Wohnung in Trojeschtschyna Mitte der 1990er Jahre / Trojeschtschyna / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia MyanovskaGrischa und Tima, März 2021 / Foto © Marysia MyanovskaGrischa am Fenster seiner Wohnung in Trojeschtschyna | Tima in seiner Wohnung, November 2019 / Foto © Marysia MyanovskaTima mit Gewehr, November 2019 | Maria und ihre Schwester Alexandra, März 2021 / Foto © Marysia MyanovskaVika, April 2022 | Trojeschtschyna, April 2022 / Foto © Marysia MyanovskaIm Zentrum von Trojeschtschyna, April 2022 | Maria und ihre Schwester Alexandra, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska

Nordwestlicher Rand von Trojeschtschyna / Foto © Marysia Myanovska

Ich und mein Bruder, Trojeschtschyna 1992 / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska

Fotografie: Marysia Myanovska
Bildredaktion: Andy Heller
Interview: Julian Hans
Veröffentlicht am: 06.12.2023

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