Diktatur ohne allmächtigen Diktator

1450 politische Häftlinge hat die Menschenrechtsorganisation Wjasna mittlerweile in Belarus registriert. Die Zahl steigt seit dem Jahr der historischen Proteste unaufhörlich. Die Dunkelziffer dürfte, davon gehen Experten aus, noch wesentlich höher liegen. Viele sehen davon ab, sich offiziell als „politischer Häftling“ führen zu lassen, da dies Repressionen für Freunde und Angehörige nach sich ziehen könnte. Die Machthaber um Alexander Lukaschenko gehen also nach wie vor gegen jeglichen Widerstand vor und versuchen, diesen bereits im Keim zu ersticken. 

Das Ausmaß der Proteste vor zwei Jahren scheint Lukaschenko derart getroffen zu haben, dass er alles dafür tut, eine weitere Eruption von Proteststimmung mit aller Gewalt zu verhindern. Deswegen soll das System auch auf die Zeit nach Lukaschenko vorbereitet und in seinen autoritären Strukturen gestärkt werden. Wie das aussehen kann und welche Tücken damit verbunden sind – das analysiert Waleri Karbalewitsch in seinem Beitrag für das Online-Medium SN Plus

Lukaschenko hat eine Sitzung zu Gesetzentwürfen abgehalten, die Korrekturen im staatlichen Verwaltungssystem vorsehen. Die Sitzung war begleitet von langen und konfusen Ausführungen, in denen er versuchte, den Sinn und Zweck der Neuerungen zu erklären. Aus diesen widersprüchlichen und wenig konkreten Äußerungen war der Inhalt seiner Ideen nur schwer zu erahnen. Man kann nur vermuten, dass er das autoritäre System auch im Falle seines Ausscheidens aus dem Amt aufrechterhalten sehen will. Damit seine persönliche Sicherheit, die Sicherheit seiner Familie und seines engsten Kreises gewährleistet ist.

Er erklärt das folgendermaßen:

„Heute sind wir da. Morgen vielleicht auch. Aber übermorgen definitiv nicht. Also müssen wir eine Basis schaffen, Stabilität … Damit das System robust ist und niemand daran rütteln kann. Das ist der Schlüssel zu unserer Zukunft. Wir werden uns aus dem aktiven Geschehen zurückziehen, aber wir werden weiterleben und beobachten, wie sich das Land entwickelt … Meine Aufgabe ist es, der neuen Generation ein vernünftiges System zur Verwaltung von Staat und Gesellschaft zu hinterlassen. Das ist der Sinn.“

Ein Charakterzug von Lukaschenkos politischem Stil ist es, Dinge zu sagen, indem er sie verneint. Wenn er etwas strikt ablehnt, ist es vermutlich genau das, was er will. Und auch jetzt hören wir:

„Auf keinen Fall sollte man diese Gesetzentwürfe und Gesetze auf sich selbst beziehen: ‚Wo werde ich morgen sein, wo wird Golowtschenko, Andreitschenko oder Kotschanowa, Sergejenko sein und so weiter.‘ Auf gar keinen Fall! Wir müssen davon Abstand nehmen und die Gesetze für morgen machen.“

Ja, so haben sich das alle gedacht.

Die Macht soll einer herrschenden Nomenklatura gehören

In Lukaschenkos Vorstellung soll das politische Regime der Zukunft kein Regime der persönlichen Macht sein. Deshalb sieht die neue Verfassung vor, dass im Falle des Ausscheidens des Präsidenten seine Befugnisse nicht auf den Premierminister übergehen, wie das bei der alten Verfassung war, sondern auf den Vorsitzenden des Rates der Republik. Weil der Regierungschef nach Ansicht Lukaschenkos seine Macht missbrauchen könnte. Lukaschenko sagt:

„Stellen Sie sich vor, der Premierminister führt nach dem Ausscheiden des Präsidenten Präsidentschaftswahlen durch, was dann seine Aufgabe ist. Das Budget, die Wirtschaft, die Finanzen und so weiter – alles ist in einer Hand. Richtig? Richtig. Das Ergebnis wäre in jeder Demokratie recht vorhersehbar … Das ist doch wahrscheinlich nicht ganz korrekt. Es muss schließlich ein System von Checks and Balances, von Machtgleichgewicht geben …“

Aber andererseits will Lukaschenko die Macht auch nicht dem Volk geben und die Bürger die Regierungsorgane in freien Wahlen selbst wählen lassen. Genau deshalb hat er sich überlegt, dass das nicht gewählte Organ Allbelarussische Volksversammlung als oberste staatliche Instanz eingesetzt werden soll.

Mit anderen Worten, eine Art hybrides Regime, bei dem die Macht nicht – so wie bisher – einer Person gehört, sondern einer herrschenden Nomenklatura, die sich auf verschiedene Institute verteilt, die völlig unabhängig vom Volk agieren. Also eine Diktatur ohne allmächtigen Diktator.

Eine komplexe und schwierige Aufgabe. Denn es ergibt sich sofort eine Reihe von Problemen.

Erstens zeigt die Erfahrung weltweit, dass das Ausscheiden des Diktators in personalistischen Regimen normalerweise eine politische Krise auslöst. Weil es keine echten Mechanismen der Machtübergabe gibt.

Das Hauptproblem besteht darin, dass die grundlegenden Staatsinstitute in derartigen Systemen nicht funktionieren. In Belarus existieren die Nationalversammlung mit ihren zwei Kammern, das Verfassungsgericht und die normalen Gerichte nur als Dekoration. Dasselbe kann man über die Allbelarussische Volksversammlung sagen. Auch die Regierung arbeitet exakt in dem von Lukaschenko vorgegebenen engen Rahmen. Und zu erwarten, dass diese atrophierten Institute bei Lukaschenkos Abgang plötzlich zum Leben erwachen und anfangen zu funktionieren, ist ein wenig naiv.

Als ob das nicht genug wäre, fügt Lukaschenko dieser kaputten Maschine ein weiteres Element in Form der Volksversammlung hinzu. Damit wird das simple, einer Deichsel vergleichbare System der Alleinherrschaft übermäßig verkompliziert. Ein autoritäres Regierungsmodell kann naturgemäß nicht komplex sein. Komplex, vielschichtig, mehrstufig und pluralistisch sind demokratische Systeme. Aber der Autoritarismus muss homogen, eindeutig und mit starren hierarchischen Mechanismen ausgestattet sein, die nach dem Motto funktionieren: „Ich Chef – du Idiot.“

Wichtig ist der Hinweis, dass die Volksversammlung im Prinzip nicht dazu gedacht war, einen Staat zu verwalten. 1200 Menschen, die sich einmal im Jahr versammeln, sind nicht nur nicht in der Lage, irgendwelche wichtigen Entscheidungen zu treffen, sie können nicht einmal ernsthafte staatspolitische Fragen erörtern. Alle sechs bisherigen Volksversammlungen dienten lediglich dazu, vorgefertigte Dokumente durchzuwinken. Es ist per Definition unmöglich, dieses dekorative Institut in ein echtes Regierungsorgan zu verwandeln. Das einzige, wozu die Volksversammlung dank ihrem neuen Status fähig ist, ist es, das Verwaltungssystem endgültig aus dem Gleichgewicht zu bringen, das auch so aus dem Gleichgewicht geraten wird, sobald der zentrale Pfeiler weg ist: der Alleinherrscher.

Hier sollten wir uns an die Erfahrung aus Gorbatschows Perestroika erinnern. Der schlanken und einfachen sowjetischen Ordnung wurden Elemente eingepflanzt, die für sie schädlich waren. In die Planwirtschaft wurde das Virus der Rentabilität, der Eigenfinanzierung und unternehmerischen Selbstverwaltung eingeschleppt. In das totalitäre politische System unter der Führung der KPSS – das Virus der Glasnost. Aus heutiger Sicht scheinbar ganz harmlose Dinge. Aber in der Folge ist das System nach kürzester Zeit zusammengebrochen.

Ich wage die Prognose, dass Lukaschenko sich eigenhändig eine Mine in sein neu geschaffenes System legt. Denn das kann nur so lange funktionieren, wie er selbst an der Macht bleibt.

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