„Mir graut davor, mein ganzes Leben so zu verbringen“

„Über lange Zeit hatte ich mit heftiger innerer Homophobie zu kämpfen, an der ich  mehrere Jahre mit einem Psychologen gearbeitet habe.“ So schildert eine junge Russin ihre erste Hürde auf dem Weg von einer mit Zweifeln belasteten Jugendlichen hin zur selbstbewussten Frau. Innerlich kann sie inzwischen zu sich und ihrer gleichgeschlechtlichen Liebe stehen. Ein großer Schritt in Russland, wo Homosexuelle offen angefeindet werden, Homophobie weit verbreitet ist. Nun ist sie 25 Jahre alt, arbeitet als Lehrerin und plant ihr öffentliches Coming Out.

Das bewegende Protokoll einer jungen Lesbe hat das Webmagazin Takie Dela aufgeschrieben.

Homophobie ist in Russland weit verbreitet, ein offener Umgang mit der eigenen sexuellen Orientierung schwierig – Foto © Swetlana Choljawtschuk/Interpress TASS

Die Kindheit

Jedes Kind beschäftigt sich zu einer bestimmten Zeit mit seiner Identität. Ich überlegte, was ich werden soll: Junge oder Mädchen? Ein Mädchen zu sein ist gut, weil man als Mädchen hübsch sein und schicke Kleidchen anziehen kann, ein Junge zu sein ist gut, weil man als Junge mit einem Mädchen zusammen sein kann.

Mit neun gefiel mir ein Mädchen. Natürlich war das keine Beziehung. Meine ganze Kindheit über war mir klar, dass mir Mädchen gefallen, aber an meinem Bewusstsein zog das irgendwie vorbei. Mich störte dieses Wissen nicht weiter. Vielleicht nahm ich es nicht ernst, vielleicht weigerte sich mein Gehirn, genauer darüber nachzudenken.

Viel später erst wurde mir klar, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich selbst zu akzeptieren, und dass ich darüber dringend sprechen musste. Für mich war das ein Problem, denn ich bin in einer gläubigen Familie aufgewachsen, ging in die Sonntagsschule. Über lange Zeit hatte ich mit heftiger innerer Homophobie zu kämpfen, an der ich dann mehrere Jahre mit einem Psychologen gearbeitet habe.

Die Bewusstwerdung

Mit achtzehn, ich studierte schon an der Uni, verliebte ich mich in meine Russischdozentin. Ich war heftig verliebt damals. In diesem Moment musste ich mir eingestehen, dass ich nicht einfach von ihr als Mensch fasziniert war, am liebsten hätte ich permanent Zeit mit ihr verbracht. Wir saßen einfach zusammen und redeten über die russische Sprache und Literatur. Sie ahnte nichts von meinen Gefühlen, und ich war noch nicht fähig, mich ihr zu offenbaren. Ich glaube auch nicht, dass sie davon angetan gewesen wäre.

Dann begann ich, mit einem Psychologen zu arbeiten. Zwei Jahre hatte ich Einzeltherapie und machte auch Gruppentherapie. Als ich so weit war, dass ich mich selbst akzeptieren konnte, erzählte ich die ganze Sache zunächst meinen engsten Freunden. Dann meiner Familie. Meine Schwestern reagierten ganz entspannt, mit meiner Mutter war es schwierig, und das ist es bis heute. Meine Mutter kann mich nicht akzeptieren, das erste halbe Jahr redeten wir überhaupt nicht mehr miteinander, inzwischen sprechen wir über alles mögliche, aber nicht darüber. Sie streift das Thema  äußerst selten – „deine Freundinnen“ sagt sie höchstens mal etwas spitz.

Mir ist bewusst, dass ich ein Doppelleben führe. Sobald ich bei der Arbeit bin, verhalte ich mich komplett anders, sage andere Dinge

Die Hilfe

Die innere Homophobie hatte bei mir krasse Auswirkungen. Eine Zeitlang verließ ich gar nicht mehr das Haus, schloss mich in meinem Zimmer ein, meine Freunde haben mich gerettet, sie brachten mir Essen. Ich stand bloß noch auf, um mich zu betrinken und wieder einzuschlafen. Ich wollte nicht mehr leben, hatte Selbstmordgedanken. Eine schreckliche Zeit in meinem Leben war das, an die ich heute nur noch selten denke.

Irgendwann wurde mir klar, dass ich mir professionelle Hilfe suchen muss, weil ich einfach nicht mehr konnte. Ich ging zu einem Psychologen, lernte Leute kennen und begann, mich zu engagieren. Ungefähr vier Jahre hat es gedauert, bis ich mich voll akzeptieren konnte. Erst vor zwei Jahren konnte ich aufatmen und sagen: „Alles cool!“

Ich hab mich für den Weg von Engagement und Selbstakzeptanz entschieden, denn ich glaube, das Wichtigste im Leben eines jeden Menschen ist es, zu spüren, dass er ist, wer er ist, und dass man deswegen nicht leidet. Ich fühlte, dass ich das Richtige tue und anderen Menschen helfen kann, die mit den gleichen Problemen konfrontiert sind wie ich.

Der Glaube

Als ich aufhörte, zur Sonntagsschule zu gehen, litt und weinte ich sehr, schließlich war es ein wichtiger Teil meines Lebens. Ich liebe Frauen, und das ist aus Sicht der orthodoxen Religion so etwas wie Sünde. Irgendwann war ich zu dem Schluss gekommen, dass es Gott nicht gibt, wenn er uns erst so erschafft und dann nicht akzeptiert. Mittlerweile finde ich trotzdem wieder zu Gott zurück, aber heute unterscheide ich für mich klar zwischen Glauben und Religion. Mit der Religion habe ich nichts zu schaffen, mit dem Glauben durchaus.

Der Beruf

Während meines Studiums an der pädagogischen Hochschule war ich nicht überzeugt davon, dass ich später als Lehrerin arbeiten würde, aber es machte mir Spaß. Bereits im vierten Studienjahr fing ich an, zu unterrichten. Vor drei Jahren habe ich mein Studium abgeschlossen, und seitdem arbeite ich als Lehrerin.

Natürlich kann ich bei der Arbeit nicht über meine sexuelle Orientierung sprechen. Das ist unmöglich. Nur ein paar Kollegen von mir wissen Bescheid, sie sind enge Freunde. Mir ist bewusst, dass ich ein Doppelleben führe. Sobald ich bei der Arbeit bin, verhalte ich mich komplett anders, sage andere Dinge. Die Unmöglichkeit offen zu sprechen bedeutet für mich, dass ich in meinem Beruf nicht frei atmen kann.

Außerdem ist es für mich wirklich hart, genau solche Kids zu sehen, wie ich früher eins war, und zu wissen, dass ich nicht offen mit ihnen sprechen kann, obwohl ich zu meinen Schülern eigentlich ein sehr vertrauensvolles Verhältnis habe. Einmal wandte sich ein Transjunge an mich [eine junge Frau, die sich als Mann versteht – Takie Dela]. Ich weiß nicht, warum er ausgerechnet zu mir kam. Er hat noch keine Geschlechtsangleichung gemacht, nimmt keine Hormone, fühlt sich einfach als Mann. Er kam zu mir und erzählte mir davon. Ich bin keine Psychologin und bin nicht berechtigt, darüber zu sprechen, aber auf der anderen Seite war mir klar, dass ich ihm irgendetwas raten musste.

Es war ziemlich riskant, jedes Wort von mir hätte später gegen mich verwendet werden können, aber ich sprach trotzdem mit ihm, gab ihm Broschüren und Sticker zu Transsexualität und sagte ihm, er könne sich jederzeit an mich wenden. Bisher ist er nicht noch einmal zu mir gekommen, aber in unserer Korrespondenz bezeichnet er sich als Mann. Ich finde das sehr gut.

Die Stadt

Hier in der Stadt gibt es etliche Gruppierungen, die Schwule und Lesben ablehnen. Es ist schon mehrfach zu Prügelattacken auf LGBT-Aktivistinnen und Aktivisten gekommen, und zwar zu ziemlich schlimmen. Ich selbst habe vor fünf Jahren angefangen, mich zu engagieren. Mein Psychologe hatte mir geraten, doch mal zu einer LGBT-Veranstaltung zu gehen. In dem Jahr planten Nazis einen Überfall auf die Aktivisten, die das Festival veranstalteten, sie haben uns sogar mit Bussen weggekarrt und es gab Wachschutz, damit uns nichts passierte. Etwas wirklich Schlimmes war dann auch nicht, keine Prügeleien oder so, allerdings hatten die Typen die Treppe zum Festivalgebäude mit Farbe übergossen.

Dieses Jahr fand wieder eine Veranstaltung statt, und mittlerweile gehörte ich zu den Organisatoren. Es war echt hart. Wir wollten lediglich ein Turnier abhalten, aber das wurde uns verboten, immer wieder bekamen wir Ablehnungen. Nur ein einziger Sportplatz hat uns zugesagt. Wir haben alle unsere Telefone ausgeschaltet und die Adresse nur untereinander weitergegeben, so waren wir nicht „aufzuspüren“. Nur so konnte das überhaupt normal ablaufen.

Ich will nicht in dem Bewusstsein leben, dass man mich für die Wahrheit, die ich ausspreche, ins Gefängnis bringen kann

Die Angst

Mir graut davor, mein ganzes Leben so zu verbringen. Eines Tages wird es einen Post auf meiner Seite geben und ich werde mich für alle Menschen, die mich kennen, outen … Natürlich nicht jetzt gleich, zwei, drei Jahre werde ich noch brauchen, um mich psychisch darauf vorzubereiten.

Wenn das Gefühl kommt, dass ich moralisch bereit bin, werde ich merken, dass es soweit ist. Ich werde wissen, dass es keinen Weg zurück mehr gibt, ich muss mich nicht mehr an Vergangenes halten, weder an Leute noch an die Arbeit.

Die Zukunft

Mein Plan ist, den Schuldienst zu verlassen und als Nachhilfelehrerin zu arbeiten. Ich werde keiner kommunalen Einrichtung angehören, so wird es schwer sein nachzuvollziehen, mit wem und wo ich arbeite. Das ist der Kompromiss in meiner Situation.

In den siebziger Jahren haben Lehrer und Lehrerinnen in den USA erkämpft, dass sie in ihrem Beruf arbeiten und dabei offen schwul oder lesbisch leben können. Als ich davon hörte, verspürte ich eine Art Stolz und wünschte mir, es würde bei uns auch so sein.

Meine Freundin und ich planen, Kinder zu haben. Ich denke schon jetzt an Familie, will selbst ein Kind zur Welt bringen oder auch adoptieren. Ich hoffe sehr, dass wir einmal eine große Familie haben werden und ein großes Haus.

Das Gesetz

Wenn ich mich mit besagtem Transjungen unterhalte, kann ich dem Gesetz nach für meine Äußerungen belangt werden. Ich will nicht in dem Bewusstsein leben, dass man mich für die Wahrheit, die ich ausspreche, ins Gefängnis bringen kann. Aber ich habe keine andere Wahl.

Ich würde sagen, die gesellschaftliche Aggression hat zugenommen. Kann sein, dass die staatliche Politik sich im Verhalten der Menschen widerspiegelt, die Leute haben Angst, selbständig zu denken. Andererseits habe ich viel Kontakt zu Kindern und Jugendlichen und sehe unter ihnen eine Menge LGBT-Kids. Während die ältere Generation stärker eingeschüchtert ist und weniger über sich spricht, ist die junge, in Zeiten des Internets aufgewachsene Generation bei uns freier, wobei auch sie Probleme mit der Selbstakzeptanz und mit ihren Eltern hat.

Die Zuversicht

Auch jemand, der sich selbst im Grunde akzeptiert, kann in Bezug auf bestimmte Lebenssituationen unsicher sein. Wenn du das Gefühl hast, du wirst allein damit nicht fertig, solltest du dir professionelle Hilfe holen. Es gibt das russische LGBT-Netzwerk, wo man anrufen und mit Psychologen oder Juristen sprechen kann.

Früher war ich voller Selbstzweifel – was meine Standpunkte und Ansichten betraf. Wenn dir klar wird, dass du eine Persönlichkeit bist, hörst du auf, Angst zu haben und machst alles richtig, und das gibt dir viel Kraft.

Ich glaube, mit der LGBT-Bewegung in Russland wird alles gut werden. Allerdings weiß ich nicht, wann das das sein wird und ob ich es noch erleben werde.  

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