Kino #4: Stalker

Das Tor öffnet sich für einen Moment und der Jeep schiebt sich flugs hindurch. Das Eindringen ins Sperrgebiet – die Zone – gleicht einem Gefängnisausbruch unter Waffenbeschuss. Vor 35 Jahren assoziierten manche auch eine Republikflucht. Dann geht es für die Männer durch sumpfige Ebene und Ruinen. Auf Umwegen führt sie der Stalker (dt. Kundschafter) mit Bedacht durch diese bizarre Endzeitlandschaft, bis seine Gefährten den Verdacht hegen, es bestehe gar keine Gefahr und er spiele sich nur auf. Ihr Ziel ist ein Zimmer, das die geheimsten Wünsche erfüllen soll. Und so folgen sie ihm …

Der russische Regisseur Andrej Tarkowski lehnte eine eindeutige Interpretation dieser von ihm inszenierten Zone immer ab – dieses mystisch-entrückten Ortes, der für viele Cineasten damals wie heute die Konturen eines brüchig gewordenen Fortschrittsglaubens trägt. Dabei lässt sich Tarkowskis Meisterwerk Stalker vor allem als eine traumwandlerische Reise ins menschliche Selbst lesen.

 


Die Kamera bleibt statisch und zeigt eine trostlose Kneipe, die gerade geöffnet wird. Der erste Kunde ist ein Mann mit Strickmütze, und er trinkt einen Kaffee, nur von einer undefinierbaren Musik unterlegt. Es folgt ein eingeblendeter Text und die Sequenz, in der das Erwachen des Stalkers gezeigt wird und wie er sich vorsichtig aus dem Familienbett entfernt. Erst nach neun Minuten fällt das erste Wort. Diese endlos lang scheinenden Einstellungen waren schon für diejenigen, deren Sehgewohnheiten seinerzeit noch nicht von den schnellen Schnitten der Videoclips geprägt waren, eine Zumutung. So beginnt Andrej Tarkowskis Stalker aus dem Jahr 1979. Der Anfang ist schwarzweiß, erst in der geheimnisumwitterten Zone wird der Film farbig.

Stalker ist Tarkowskis fünfter abendfüllender Film. Zu den Festspielen in Cannes 1980 wurde er gefeiert, blieb in der Sowjetunion jedoch zunächst unter Verschluss. Ein solcher Film muss(te) den interpretatorischen Scharfsinn der Kritiker und Wissenschaftler herausfordern.1 Im Hintergrund steht dabei die Frage, wie Tarkowski es gemacht hat, einen Film zu drehen, der über Jahrzehnte seine Faszination behalten kann, und der eine so merkwürdige Geschichte erzählt. 

Fotos © Mosfilm

Da macht sich ein Mann, der „Stalker“ genannt wird, mit zwei anderen Männern, die einander nicht mit Namen kennen, sondern die sich mit „Professor“ und „Schriftsteller“ ansprechen sollen, auf den Weg in eine streng bewachte Zone. Dem Stalker und seinen Umwegen folgend, kommen sie schließlich ans Ziel, jenes verheißungsvolle und unwirkliche Zimmer, in dem es regnet. Dort möchten sie dann doch nicht so genau wissen, was sie sich tief in ihrer Seele wünschen. Niemand geht hinein. – Schnitt, und auf einmal sind sie wieder in der Kneipe, dem Ausgangspunkt ihrer Expedition. 

Die Zone als Raum des Imaginären?

Durch lange Takes und handlungsarme Szenen erzieht sich Tarkowski seinen Zuschauer, der genau hinschauen, betrachten lernt. Er muss sich das wackelige Beistelltischchen im Schlafzimmer des Stalkers ansehen, die Watte, die Tabletten, das Glas mit Wasser, das auf dem Tischchen verrutscht. Dazu hört er das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges. Er weiß nicht, wogegen die Tabletten helfen sollen, wer sie nimmt. Und er erfährt es auch später nicht. Er muss zweieinhalb Stunden warten, bis die verrutschenden Gläser in einem ganz anderen Kontext wieder auftauchen. Tarkowskis Filme tragen in der Regel keine Antworten zu den Fragen vor, die sie stellen. Und wenn sie Lösungen suggerieren, stehen wiederum andere Fragen dahinter. 

Die Geschichte, die Stalker erzählt, ist in sich plausibel, aber ohne klaren Sinn, bei geradezu hypnotisierenden Bildern, deren Suggestivkraft man sich nur schwer entziehen kann. Tarkowski selbst lehnte es strikt ab, die Zone als ein Sinnbild zu lesen.2 In einem eingeblendeten Text zu Beginn des Films heißt es nur so viel über sie: „ … was es war? Der Fall eines Meteoriten? Ein Besuch von Bewohnern des menschlichen Kosmos? Wie auch immer, in unserem kleinen Land entstand das Wunder aller Wunder – die ZONE. Wir schickten sofort Truppen hin. Sie kamen nicht zurück. Da umzingelten wir die ZONE mit Polizeikordons … und haben wahrscheinlich recht daran getan … im übrigen – ich weiß nicht, ich weiß nicht … Aus einem Interview des Nobelpreisträgers Professor Wallace mit einem Korrespondenten der RAI.“

Dass man nicht alles, was die drei Männer in dieser Zone erleben, nur als einen Traum, eine Einbildung abtun kann, zeigt sich daran, dass sie der Schäferhund, dem sie dort begegnet sind, hinausbegleitet. Auch zur Familie schließt sich der Kreis, mit der über die telekinetischen Fähigkeiten des Kindes noch das Unerklärliche in die Welt außerhalb der Zone integriert wird.

Der Rationalität entfliehen?

Tarkowski erschwert, ja verweigert ein Lesen seiner Bilder als Symbole. Aber wirken die Bilder ohne den Umweg über die Bedeutung nur auf die Emotionen? Es gibt den klugen Hinweis, Professor, Schriftsteller und Stalker hegelianisch zu lesen.3 Sie stehen dann für Wissenschaft, Kunst und Religion, die nach Hegel die Modi sind, in denen das Wissen zu seiner Vollendung kommt. Religion (Anschauung) und Kunst (Vorstellung) sind in der Philosophie (Selbsterkenntnis) dialektisch aufgehoben. Im Film ist die dialektische Trias umgekehrt4: Wissenschaft und Kunst sind ungenügende Annäherungen an die Wirklichkeit, die der Vollendung durch den Glauben bedürfen. Wissenschaftler und Schriftsteller aber sind dazu nicht fähig. Tatsächlich mahnt der Stalker, in der Zone Ehrfurcht zu zeigen und zu glauben. Resigniert muss er aber feststellen: „Sie glauben an nichts, an gar nichts. Bei ihnen ist das Organ mit dem man glaubt, an Nahrungsmangel zugrunde gegangen.“

Tarkowskis Bilder gehören allerdings nicht zu einer konkreten Form des Glaubens, nicht zu einer bestimmten Religion. Es geht um die eher unspezifische Sehnsucht nach einem Absoluten, das die menschliche Rationalität übersteigt und zu dem man Kontakt haben möchte.

Zwischen Glauben und Leiden

Man kann zwar in den drei Stromleitungsmasten, die beim Eintritt in die Zone sichtbar werden, ein Zeichen für die Kreuze auf Golgotha sehen, aber dieses Zeichen steht nicht so sehr für das Christentum, sondern für die in ihm virulente Idee des Leidens, die in der russischen Tradition einen sehr hohen Stellenwert hat. Tarkowski knüpft nicht direkt an die Bibel an, sondern an Fjodor Dostojewski, der in einem seiner Romane das Leiden „eine gute Sache“ genannt hatte.5 Ganz ähnlich spricht die Frau des Stalkers, während sie direkt in die Kamera schaut: „Wenn es in unserem Leben keinen Kummer gäbe, besser wäre das nicht. Es wäre sogar schlechter, denn dann gäbe es kein Glück.“ Glück wird nicht mit Wohlbefinden verbunden, sondern mit Erlösung, die aber nur der erfahren kann, der um seine Erlösungsbedürftigkeit weiß.

Schon die literarische Vorlage des Films, die Erzählung Piknik na obotschine (dt. Picknick am Wegesrand) der Brüder Strugazki hatte die Sehnsucht in den Vordergrund gestellt: In ihr will der Stalker eine goldene Kugel aus der Zone holen, die seine ganz persönlichen Wünsche erfüllen soll. Als er sie gefunden hat, wünscht er sich jedoch „Glück für alle“.
Der Stalker des Films dagegen glaubt nicht mehr an die Utopie, dass man das Glück für alle einfach erreichen kann. Seine Weggefährten müssen erst einmal ihr Gewissen erforschen, ob denn das, was sie wünschen, wirklich allgemeinverträglich ist, damit ihr Konzept vom Glück nicht zum Unglück der anderen wird.

Der Mythos von Tschernobyl

In einer der letzten Szenen des Films geht der Stalker mit seiner Familie an einem verschmutzten Gewässer vorbei, den Hintergrund bildet ein Kraftwerk. Gefilmt wurden diese Bilder vor einem Gas-Kohlekraftwerk in der Nähe von Moskau6. Der Umstand aber, dass Andrej Tarkowski am 29. Dezember 1986 in Paris an einem Krebsleiden verstarb, nachdem im April desselben Jahres der Reaktor des Kernkraftwerks von Tschernobyl explodiert war, führte zu dem Gerücht, der Film sei in der Nähe von Tschernobyl  gedreht worden. Schon damals habe der Reaktor geleckt und Tarkowskis Erkrankung verschuldet. Die Zone wurde in der Retrospektive mitunter zur vorweggenommenen Landschaft der Reaktorkatastrophe. Das 2007 auf den Markt gekommene Computerspiel S.T.A.L.K.E.R., in dem Plünderer in der Zone um das zerstörte Kraftwerk Gegenstände und mutierte Lebewesen finden können, nährt diesen Mythos bis heute.

Dass es den Mythos überhaupt gibt, hat sicher mit der Faszination zu tun, die der Film als Kunstwerk ausübt, mit seiner unvergleichlichen Aura. Diese Faszination hat dem Regisseur die Bewunderung seiner Kollegen eingebracht („Tarkowski ist für mich der bedeutendste“ – Ingmar Bergman) – und ein immer wieder beeindrucktes, ihm manchmal geradezu verfallenes Publikum.

Text: Norbert P. Franz
Veröffentlicht am 05.04.2017


1.vgl. Franz, Norbert P. (2009): Nachwort, in: ders. (Hrsg.): Stalker: UdSSR, 1980: Regie: Andrej Tarkowski, Protokoll des Films in der Original- und der deutschen Synchronfassung, Potsdam, 2009, S. 104ff
2.„Häufig wurde ich gefragt, was denn die ‚Zone‘ nun eigentlich symbolisiere, woran sich dann auch gleich die unsinnigsten Vermutungen anschlossen. Derlei Fragen und Mutmaßungen versetzen mich regelrecht in Verzweiflung und Raserei. Die ‚Zone‘ ist einfach die ‚Zone‘. Sie ist das Leben, durch das der Mensch hindurch muß, wobei er entweder zugrunde geht oder durchhält. Und ob er dies nun durchhält, das hängt allein von seinem Selbstwertgefühl ab, von seiner Fähigkeit, das Wesentliche vom Nebensächlichen zu unterscheiden.“, in: Tarkowski, Andrej (1984): Die versiegelte Zeit, Frankfurt/Main/Berlin, S. 203
3.Böhme, Hartmut (1985): Ruinen-Landschaften, in: Konkursbuch Nr. 14, Tübingen, S. 117-157
4.Engell, Lorenz (2002): Filme und Sachen. Das Gesicht der Dinge und die Metaphysik des Dekors, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Seminar für Filmwissenschaft
5.in Dostojewski, Fjodor: Prestuplenie i nakazanie (dt. Verbrechen und Strafe). Vgl. dazu Franz (2009), S. 116
6.Andere Außenaufnahmen entstanden außerdem in Estland. Im Jahr 2006 haben sich drei Mitglieder der damaligen Crew gemeinsam an die Entstehungsgeschichte erinnert: Rerberg hat darauf aufmerksam gemacht, wie sehr Tarkowski darum besorgt gewesen sei, dass seinen Leuten bei den Dreharbeiten nichts passiert.  Deshalb habe er den Stalker nicht – wie ursprünglich vorgesehen – im Erdbebengebiet von Isfar und erst recht nicht in der verschmutzten Gegend des Stahlwerks von Zaporož’e („schlechte Ökologie“) gedreht, sondern im Baltikum bei Tallinn. Dort gibt es keinen Kernreaktor, und das Kohlekraftwerk hat nur einen großen Schornstein (Rerberg, Georgij/Čugunova, Marianna /Cymbal, Evgenij: Fokus na beskonečnost‘: Razgovor o ‚Stalkere‘, in:  Iskusstvo kino 2006, Nr. 4).

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