Lukaschenkos Büchse der Pandora

Eine der wichtigsten Entscheidungen seiner gesamten Amtszeit – so nannte Alexander Lukaschenko am 17. April eine Neuerung, die er eine Woche später verkündet hat: Sollte dem Präsidenten etwas zustoßen, soll seine Macht einem neuen Dekret zufolge an den belarussischen Sicherheitsrat übertragen werden. 

Ebenfalls am 17. April hatten der belarussische KGB und der russische FSB verkündet, ein angeblich geplantes Attentat auf Lukaschenko vereitelt zu haben. Dem Politologen Alexander Feduta und zwei weiteren Männern wird vorgeworfen, einen Umsturz in Belarus geplant zu haben. Lukaschenko vermutet dabei eine Beteiligung amerikanischer Geheimdienste. Auch Putin erwähnte den Fall in seiner Rede zur Lage der Nation. Im belarussischen Staatsfernsehen sprach ein ehemaliger KGB-Mitarbeiter sogar von einer geplanten Invasion aus Litauen, mit Geländefahrzeugen und Maschinengewehren. 

Fürchtet Lukaschenko ernsthaft um sein Leben? Während der genaue Wortlaut des Dekrets noch nicht bekannt ist, wird derzeit viel spekuliert, was es damit auf sich hat: Eine Art Lebensversicherung für Lukaschenko, wie Iryna Chalip in der Novaya Gazeta meint? Oder handelt es sich womöglich um Vorbereitungen auf einen Machttransfer nach kasachischem Szenario, wie Artyom Shraibman auf Telegram vermutet?

Für den belarussischen Politologen Waleri Karbalewitsch ist das Dekret vor allem eins: verfassungswidrig und damit hochgefährlich. Ein Kommentar auf SN Plus
 

Bei einem Subbotnik am 17. April macht Alexander Lukaschenko eine große Ankündigung – es gehe um eine der wichtigsten Entscheidungen seiner Regierungszeit / Foto © president.gov.by

Was unmittelbar ins Auge springt, ist der absolut verfassungswidrige Charakter dieser Entscheidung. Schließlich schreibt die geltende Verfassung genau vor: Wenn der Präsident seine Verpflichtungen nicht erfüllen kann, werden seine Vollmachten an den Premierminister übergeben. Das ist alles klar und deutlich.

Ein präsidiales Dekret kann nicht die Verfassung ersetzen, das ist nicht rechtmäßig. Außerdem möchte ich daran erinnern, dass Abschnitte der Verfassung, die die Tätigkeit der Regierungsorgane regeln, nur mit einem Volksentscheid beschlossen werden können und nicht anders.

Selbst in Monarchien kann der Monarch nicht einfach nach eigenem Gutdünken entscheiden, wer nach seinem Abgang auf dem Thron sitzen soll. Es gibt ein Gesetz zur Regelung der Thronfolge. 

Demnach ist das geplante Dekret mit einem solchen Inhalt ein Sabotageakt an der Verfassung. Erstmals seit 1996 beabsichtigt Lukaschenko derart klar und offensichtlich die Verfassung zu verletzen. Da im Sicherheitsrat die Silowiki überwiegen, schlägt Lukaschenko quasi vor, den Militärs die Macht zu übertragen. Damit würde eine Struktur zum höchsten Regierungsorgan, die von niemandem gewählt und von der Verfassung nicht vorgesehen ist. 

Sabotageakt an der Verfassung

Unter diesen außergewöhnlichen Umständen wird besonders deutlich, dass im Land ein Regime der persönlichen Macht herrscht, ein personalisiertes Regime. Gewichtige Entscheidungen über den Staatsapparat trifft ein einzelner Mensch, ausgehend von seinen persönlichen Interessen. Alle weiteren staatlichen Organe sind reine Dekoration. Niemand kann Lukaschenko sagen, er breche die Verfassung. Weder das Verfassungsgericht, noch die Staatsanwaltschaft, noch die zwei Kammern der Nationalversammlung würden wohl auf irgendeine Weise auf den offensichtlich verfassungswidrigen Sabotageakt reagieren. 

Es stellt sich natürlich die Frage: Warum so plötzlich? Warum wollte Lukaschenko nicht auf die neue Verfassung warten (das Referendum ist für Anfang 2022 angesetzt), um diese Neuerung darin festzuschreiben, warum ändert er das Regierungssystem stattdessen mit solchen Sondermethoden? 

Es stellt sich natürlich die Frage: Warum so plötzlich?

Allem Anschein nach glaubt Lukaschenko wirklich an diesen Verschwörungsmythos und leidet an einer traumatischen Störung. Es sagt etwas über seinen Geisteszustand aus, dass ihn sogar die Karikatur eines Umsturzes zu hektischem Handeln bewegt, zu verzweifeltem Herumzerren an diversen Regierungshebeln, um die Situation unter Kontrolle zu halten. Einen Menschen, der sich in einem solchen Zustand befindet, kann man leicht manipulieren – was der KGB offenbar auch tut.

All das passiert zu einem Zeitpunkt, wo sich scheinbar alles beruhigt hatte: Die Hauptgefahr für das Regime ist gebannt, der Protest auf ein Minimum heruntergefahren, die Regierung hat die Situation im Lande unter Kontrolle und nichts zu fürchten. Lukaschenko sieht das jedoch anders, wie sich zeigt. Er lebt jeden Tag in Erwartung eines Anschlags auf seine Machtstellung. Nur in so einem Zustand kann man sich solche Dekrete ausdenken. Mit dieser Entscheidung zeigt Lukaschenko, dass die politische Krise im Land noch nicht überwunden ist, auch wenn die Staatsmedien seit Monaten den Sieg verkünden. Aber Sieger verhalten sich anders.

Verzweifeltes Herumzerren an diversen Regierungshebeln

Sollte Lukaschenko dem aktuellen Premierminister (Roman Golowtschenko) misstrauen, dann müsste er, so könnte man meinen, einen anderen ernennen, dem er vertraut. Aber nein. Lukaschenko setzt mehr Hoffnung auf ein Kollektivorgan (den Sicherheitsrat) als auf eine konkrete Person. Schon früher hat er mehrfach behauptet, dass man seinem Nachfolger nicht so viel Macht übertragen darf, dass man die Vollmachten des Präsidenten unbedingt auf mehrere Zweige der Staatsgewalt aufteilen muss. Hier gilt die gleiche Logik.

Doch hier ergibt sich noch ein Problem. Mit dem geplanten Dekret demonstriert Lukaschenko, dass die Verfassung an Geltungskraft verliert. Und wenn das so ist, dann besteht – „wenn es morgen keinen Lukaschenko mehr gibt“ – eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die politischen Prozesse unkontrolliert und außerhalb des rechtlichen Rahmens ablaufen werden. Warum geht Lukaschenko davon aus, dass im Sicherheitsrat Entscheidungen per Abstimmung und nicht durch Gewalt getroffen werden? Wenn es kein Gesetz gibt, ist alles erlaubt. Mit dem Verfassungsbruch öffnet Lukaschenko die Büchse der Pandora, und entlässt einen gefährlichen Geist aus der Flasche.

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