Abseits der Norm

Wie ist es, im System des autoritären Staatschefs Alexander Lukaschenko aufzuwachsen? Welche Ängste, Träume und Hoffnungen haben junge Menschen in Belarus? Die Fotografin Julia Autz (geb. 1988) ist während ihres Studiums für insgesamt sechs Monate in das Land gereist um Belarussinnen und Belarussen im Alter von 15 bis 29 Jahren zu begleiten. Sie stellte ihnen die Frage, was sie von der Zukunft erwarten. Ihre Bilder sind zwischen 2017 und 2019 entstanden, vor der Präsidentschaftswahl im Jahr 2020 und den darauf folgenden Protesten

Die gebürtige Heidelbergerin beschäftigte sich in ihrer fotografischen Arbeit schon oft mit jungen Menschen. In der Fotoserie While I was waiting stehen junge Belarussinnen und Belarussen im Fokus, die nach Individualität streben: Aktivisten, Künstler, Musiker. Ihre Portraits zeigen sehr intime Momente, häufig aufgenommen in den Wohnungen der Protagonisten. Sie sind ein Rückzugsort, wo sich die jungen Belarussen selbst verwirklichen und dem öffentlichen Raum entfliehen können. 

РУССКАЯ ВЕРСИЯ

links Dasha, 2018, Belarus │rechts Ulyana, 2018 im Zentrum von Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz

dekoder: While I was waiting – warum haben Sie diesen Titel für Ihr Fotoprojekt gewählt? 

Julia Autz: So ein Titel ist ja immer schwierig zu finden. Ich habe bei dem Projekt diese Resignation, diesen Stillstand fotografiert, dieses Warten. Die jungen Menschen sitzen da, schauen aus dem Fenster, ziehen sich zurück in die eigenen vier Wände, konzentrieren sich auf das eigene Leben. Sie sind ja in Belarus häufig von dem abgekoppelt, was um sie herum passiert, eben weil der Staat und die Gesellschaft wenig Raum für Selbstentfaltung einräumen. Ich habe dann auch Interviews zu den aktuellen Protesten geführt, unter anderem mit einem Punk, der sagte: „I have been waiting all my life for these protests.“ Die Aussage fand ich passend, weil sie eine Anspielung auf die aktuelle Situation ist und gleichzeitig die Lebenssituation der Menschen vor den Protesten einordnet, eben das Warten und Hoffen auf einen möglichen Wandel.

Viele Bilder wurden in den Wohnungen der Protagonisten gemacht. Da sind sehr private Momente dabei. War es einfach, so nah an die Jugendlichen heranzukommen? 

Genau das war mir echt wichtig. Ich wollte diesen Kontrast zeigen, zwischen Innen und Außen. Im öffentlichen Raum müssen sich die Menschen anpassen und nur im Privaten können sie ihre Identität ausleben. Durch eine Bekannte kam ich in Kontakt zu vielen jungen Menschen in Minsk. Ich musste mich schon ein bisschen rantasten, aber irgendwann hat das ganz gut geklappt, weil ich die Leute immer besser kennengelernt habe. Wir haben auch zusammen gefeiert. Immer wenn ich zurück nach Belarus gegangen bin, habe ich sie wieder getroffen und neue Fotos gemacht. Diese Annäherung war also auch ein längerer Prozess.

Sie haben für das Projekt Menschen mit einer starken Individualität gesucht, unter anderem politische Aktivisten. Was heißt es in einem Land wie Belarus „anders“ zu sein? 

Es kommt halt sehr drauf an, wo man lebt. Ob in der Provinz oder in Minsk, wo es viele Leute gibt, die bunte Haare oder Tattoos haben. Aber klar, die Gesellschaft ist im Großen und Ganzen sehr konservativ. Es ist schon schwierig, als Andersdenkender oder Andersaussehender seinen Platz zu finden. Anfangs habe ich viele Leute aus der LGBT-Szene fotografiert, Musiker, Künstler, Aktivisten. Aber ich wollte den Kreis dann erweitern, weil ich begriff, dass besonders das Unpolitische in Belarus sehr interessant ist, eben weil der Staat der Gesellschaft das Politische ja in gewisser Weise austreibt. Wer sich politisch engagiert, der bekommt halt irgendwann Probleme.  

Seit August 2020 hat die belarussische Gesellschaft ja eindrücklich demonstriert, dass sie sich einen Wandel wünscht. Was hatten die jungen Menschen, die Sie getroffen haben, für Hoffnungen in Bezug auf einen Wandel? 

Viele, die ich fotografiert habe, hatten schon wirklich aufgegeben und keine Hoffnung mehr. Einige haben das Land im Zuge der Proteste bereits verlassen. Es gab auch solche, die optimistisch waren. Aber der Großteil der Leute war sehr resignativ. Klar – wenn sich seit 27 Jahren nichts verändert. 

Wenn Jugendliche in Deutschland über die Zukunft sprechen, sind da oft ganz viele Pläne: Traumjob, Reisen und so weiter. Selbstverwirklichung ist dabei ein wichtiges Thema. Was bedeutet „Zukunft“ für Jugendliche in Belarus?

Viele, die ich getroffen habe, haben sehr deutlich im „Hier und Jetzt“ gelebt. Zukunftspläne kann man ja nur machen, wenn man an eine Zukunft glaubt, die für einen lebenswert ist. Zudem ist es nicht so einfach, wenn man in Belarus studiert. An den Unis wird man ja nicht wirklich zu freiem Denken ermutigt. Deshalb wollten viele das Land verlassen, auch um woanders zu studieren und vielleicht irgendwann wieder nach Belarus zurückzukehren. 

Die Fotos stammen aus der Zeit vor den Protesten. Wissen Sie, was die Proteste bei den jungen Menschen, die Sie fotografierten, verändert haben? 

Zu den meisten Leuten habe ich noch Kontakt. Anfangs waren sie noch sehr hoffnungsvoll, euphorisch und sind auch auf die Straße gegangen – als es noch die Massendemonstrationen gab. Viele sind auch im Gefängnis gelandet. Dass auch die ältere Generation auf die Straße gegangen ist, das war für viele junge Leute sicher auch motivierend. Auch, dass nicht nur ein paar Künstler und Intellektuelle gegen Lukaschenko sind, sondern sehr viele verschiedene Berufs- und Altersgruppen. Die Solidarität unter all diesen Menschen ist enorm. Nach so vielen Monaten der Proteste und der Repressionen durch den Staat verlieren viele zusehends die Hoffnung. Aber vielleicht werden die Proteste bald wieder größer und vor allem: sichtbarer.

Minsk, 2019, Belarus / Foto © Julia Autz

 

Vika und Nastya, 2018, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz

Minsk, 2019, Belarus / Foto © Julia Autz

Igor, 2019, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz

 links Maryna, 2017, Minsk, Belarus │rechts Kristina, 2019, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz

Winter 2019, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz

links Dasha, 2019, Minsk, Belarus │ rechts Liza, 2018, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz

links Yan und Yaro bei sich zuhause in Moglew, 2017, Belarus │Ignat in ihrer Wohnung, 2018, Belarus / Foto © Julia Autz

Minsk, 2019, Belarus / Foto © Julia Autz

links Marta, 2018, Minsk, Belarus │rechts Slava, Winter 2017 im Studentenwohnheim, Belarus / Foto © Julia Autz

Winter 2017, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz

Alina und Jenia auf ihrem Dach, 2018, Minsk, Belarus / Foto © Julia AutzFotos: Julia Autz
Bildredaktion: Andy Heller
Interview: dekoder-Redaktion
Veröffentlicht am 21.04.2021

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«Пока я ждал(a)». Белорусская серия фотографа Юлии Аутц


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