In entlegenen Dörfern

Dörfer ticken anders als dicht besiedelte Großstädte, und noch einmal mehr, wenn sie in Grenznähe zu den Nachbarländern liegen: Der Minsker Dokumentarfotograf Siarhei Hudzilin interessiert sich für diese sehr spezielle Kultur. Über mehrere Jahre fotografierte er in den grenznahen Dörfern von Belarus.
Neben den persönlichen Projekten, die er verfolgt, arbeitet Hudzilin seit 2011 als Fotojournalist für das unabhängige, in Belarus inzwischen blockierte, Online-Portal Nasha Niva. Auch in der New York Times und bei National Geographic wurden seine Bilder veröffentlicht. Zur Dokumentarfotografie fand er in seiner Zeit bei der Armee, als er begann, den kargen Alltag der Rekruten in den Kasernen festzuhalten und für diese Bilder ausgezeichnet wurde. 

Im Interview berichtet er von seinen Besuchen in den Dörfern – sowohl an der Grenze zur Europäischen Union, als auch zu Russland und zur Ukraine – und davon, wie schwierig das Leben in diesen Orten ist, zum Beispiel im Norden, wo der Aswejasee wichtiger ist als die Hauptstadt Minsk. Mit seinen Bildern gibt er einen sensiblen Einblick in diesen Alltag.

Ein junges Mädchen steht in der Stadt Dsisna inmitten von roten Backsteinruinen. Sie gehören zu einem früheren Krankenhaus, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebaut worden war. Dsisna gilt als kleinste Stadt des Landes / Foto © Siarhei Hudzilin

dekoder: In welche Orte sind Sie für Ihre Bilder gefahren und was macht diese Gegenden genau aus?

Siarhei Hudzilin: Als ich dieses Projekt entwickelt habe, wählte ich die entlegensten bewohnten Orte von Belarus. Im Norden ist das Asweja, im Süden Kamaryn, im Westen Wyssokaje und im Osten Chozimsk. Das sind praktisch alles Grenzgebiete. Sie sind geprägt von den jeweiligen Ländern und Grenzen. Die Grenze zur EU beispielsweise ist klar definiert, und diese klare Abgrenzung lässt die belarussische Identität sehr eindeutig hervortreten. An der EU-Grenze herrscht Visumspflicht und es gibt eine Sprachbarriere. Daher ist das Alltagsleben der Bewohner dieser Gegend kaum beeinflusst. Die Grenzen zur Ukraine und zu Russland sind dagegen fließend – der Einfluss dieser Kulturen auf die Identität der Menschen ist dort stärker spürbar. In der Nähe der Ukraine nimmt man das Ukrainische in der gesprochenen Sprache und auch in den Nachrichtensendungen wahr, in diesen Regionen sehen die Einwohner ukrainische Fernsehsender und interessieren sich sogar für ukrainische Politik. Dort bildet sich dadurch eine besondere Identität heraus, die Menschen fühlen sich zum Teil einer eigenen ethnischen Gruppe zugehörig, den Polessiern
An der östlichen Grenze zu Russland ist die Situation ähnlich, und überhaupt, das ist ganz interessant, gibt es diese Grenze eigentlich gar nicht, auch historisch gesehen, schon seit seit mehreren Jahrhunderten nicht (angefangen von der Aufteilung der Rzeczpospolita im 18. Jahrhundert, dann kam das Russische Reich, dann die Sowjetzeit, und nun ist es der mythische Unionsstaat). Die Einflüsse sind dort stark: Die Bewohner der Grenzstädte fahren nach Russland zur Arbeit und betrachten eher Großstädte in Russland als ihre Metropolen, statt Minsk in Belarus.         

Sie waren in Asweja, wo es ja auch den beeindruckenden Aswejasee gibt. Wie leben die Meschen dort an diesem nördlichsten Punkt mit und neben dem See?

Der Norden von Belarus ist die Region, die wirtschaftlich am wenigsten entwickelt ist. Asweja ist ein sehr depressiver Ort, eine aussterbende Kleinstadt. Das Einzige, was dort womöglich Potenzial hat, ist Tourismus. Alles, was ich dort fotografieren konnte, waren Menschen, die ums Überleben kämpfen.   

Die Besonderheit dieser Gegend ist, dass sie im Grenzdreieck zwischen der EU und Russland liegt. Wie sieht der Alltag mit diesen Nachbarn dort aus? Und hat sich das Leben über die vergangenen Jahre verändert?

Das Leben hat sich nicht sonderlich verändert. Die EU-Grenze ist für die dortigen Einwohner weniger durchlässig. Das liegt nicht nur an den Visa, sondern auch am niedrigeren Lebensstandard im Vergleich zu Lettland. Russland dagegen bringt vor allem wirtschaftliche Vorteile, viele Fischer verkaufen ihren Fang aus dem Aswejasee in Russland. Der Alltag ist hier unverändert, diese Orte verkommen und sterben immer weiter aus. Obwohl das belarussische Landleben durchaus beginnt sich zu transformieren. Teils haben Covid-19 und die Digitalisierung der Wirtschaft Einfluss auf diese Entwicklung: Viele Menschen, die im Homeoffice arbeiten, verlegen ihren Hauptwohnsitz nach und nach in die Dörfer. Und die pflegen in dieser dörflichen Umgebung natürlich einen anderen Lebensstandard.    

Wie ist die Idee zu diesem Fotoprojekt genau entstanden?

Mich hat die kulturelle Identität der Belarussen und der Zustand des Landes im „Hier und Jetzt“ interessiert, ich wollte mich aber auf keinen Fokus und kein Gebiet festlegen – was und auf welche Weise ich fotografieren wollte. Daher brauchte ich eine Art Koordinatensystem und habe mich aus dem Geografieunterricht an die äußersten geografischen Punkte von Belarus erinnert. Ich habe gesehen, dass diese Orte quasi weiße Flecken sind, denn es gibt davon praktisch keine Fotos. So kam es zu dem Entschluss, hinzufahren und Aufnahmen zu machen. Zumal die Frage nach den Grenzen für Belarus sehr wichtig ist: Grenzen existieren in Werten, in der Kultur, in Denkweisen und sogar in der Sprache. 
Dieser Dualismus ist vielleicht schon anthropologisch begründet – zwei Sprachen (Russisch und Belarussisch), zwei Fahnen (die offizielle rot-grüne und die nationale weiß-rot-weiße), Stadt und Land als zwei Existenzformen der belarussischen Kultur. Deswegen habe ich mich für abgelegene Orte entschieden, an denen die Gegensätze vielleicht am sichtbarsten und frei vom Einfluss moderner, massenkultureller Trends der Großstädte sind. Daher trägt das Projekt auch den Titel Along the Edge (dt. Am Rand entlang) – es ist gewissermaßen ein Querschnitt entlang der Ränder des belarussischen Raumes, nicht nur im geografischen, sondern auch im sozialen und kulturellen Sinne.          

Wie wählen Sie die Motive für Ihre Bilder aus?

Vor jeder Fahrt mache ich eine kleine Recherche, studiere diverse Quellen und versuche, Kontakte zu Einheimischen zu knüpfen. Vor Ort bemühe ich mich dann aber, kein bestimmtes Programm zu verfolgen, und lasse mich von der Umgebung inspirieren. Das hat etwas von einem Spiel. Auf diese Art glaube ich, in das Leben der Räume und Menschen eindringen zu können, die ich fotografiere. Ich muss einfach viel herumlaufen und mit Leuten sprechen, die ich nicht kenne, wobei ich denen dann immer erzähle was ich hier überhaupt mache und vorhabe. Bei konzeptuellen Projekten ist das natürlich nicht so, da dauern die Aufnahmen manchmal nur wenige Stunden.   

Gibt es ein Lieblingsbild, das Sie von dort mitgebracht haben?

Da habe ich die Qual der Wahl, aber am besten gefällt mir wahrscheinlich das erste Foto des Projekts – das weiß gekleidete Mädchen auf den Ruinen. Für mich steht es gewissermaßen als Bild von Belarus: Weite Räume mit riesigen Ruinen und Rätseln, aus Trümmern und Fragmenten verschiedener Kulturen und aus Einsamkeit. Das ist eine Leere, in der alles möglich ist, doch das Ergebnis ist unvorhersehbar und es gibt keine klaren Regeln und Algorithmen.

Belarus ist ein Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung in Großstädten lebt. Wie sehen Sie die aktuelle Entwicklung in solchen Dörfern und der politischen Lage insgesamt?

Diese Gegenden verkommen immer mehr, und die Bevölkerung zieht weg. Die einzige Besonderheit ist, dass an solchen Orten die Hauptstadt Minsk sehr weit weg ist und wenn Menschen von hier wegziehen, dann um Arbeit in der nächsten Stadt, maximal in der Gebietshauptstadt zu suchen. Die aktuelle politische Situation erinnert mich ebenfalls an den Zustand in Grenzgebieten. An diese Zonen, in denen keine konkreten Regeln, Normen und traditionellen Gesetzmäßigkeiten greifen. Wir haben gleichsam eine Grenze des Normalen überschritten, und dahinter beginnen Chaos und Instabilität. Und wir als Bewohner eines solchen Raumes befinden uns jetzt in diesem Grenzzustand. 
Aber ich glaube, dieser Zustand tritt bei jeder Art von Veränderung auf. Ich für mich sehe hier eine organische Verbindung mit dem Projekt Am Rand entlang: Dieses An-der-Grenze-Sein hat sich jetzt über ganz Belarus ausgeweitet. Wenn du daher als Dokumentarfotograf oder -filmer, als Künstler oder einfach als Mensch die Kraft und die Fähigkeit aufbringen kannst, das Unbeständige in den Griff zu kriegen und Sinn und Ziel im Leben zu finden, dann bist du verpflichtet, diese Zeit zu durchleben und bestimmte Werte und Bedeutsamkeiten für die Zukunft festzuhalten.


Norden

 

Ein Mann läuft über den gefrorenen Aswejasee im Norden von Belarus / Foto © Siarhei Hudzilin
Eine Frau vor einer Kirchenmauer in Asweja / Foto © Siarhei Hudzilin
Der Blick aus einem Wohnungsfenster fällt auf einen Schulbus, der am winterlich eisbedeckten Aswejasee vorbei fährt / Foto © Siarhei Hudzilin
Bewohner von Druja – ein Agrogorodok im Norden an der Grenze zu Lettland – setzen über den Grenzfluss Dswina zu einer Insel über, auf der sie ihre Kühe weiden lassen … / Foto © Siarhei Hudzilin
… Auf der Insel angekommen, haben sie ihre Kühe gemolken und tragen im Dunkeln vor Tagesanbruch die Milch davon / Foto © Siarhei Hudzilin

Süden

 

Im Dorf Kamaryn, in der Woblasz Gomel, spielt ein Junge Federball. Kamaryn ist der am südlichsten gelegene Ort von Belarus / Foto © Siarhei Hudzilin
Straßenszene auf dem Land: Ein Ehepaar auf einem Motorrad / Foto © Siarhei Hudzilin
Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges vor einem Gedenkstein im Stadtzentrum von Kamaryn – zum Tag des Sieges am 9. Mai / Foto © Siarhei Hudzilin
Stofftiere in Plastiktüten sind das Handelsgut einer Frau, die im Dorf Retschyza an der Grenze zur Ukraine (Woblasz Gomel) zum Bahnhof eilt. Dort stoppen international verkehrende Züge, und der Verkauf von Waren an die Passagiere ist für Einheimische eine Möglichkeit, Geld zu verdienen / Foto © Siarhei Hudzilin
Eine Gänseschar auf der Hauptstraße des Agrogorodok Turow / Foto © Siarhei Hudzilin
Eine ältere Dame in der Stadt Dawyd-Haradok: Das Kopfsteinpflaster, auf dem sie steht, stammt aus vorsowjetischen Zeiten. In früheren Jahrhunderten gehörte die Stadt zu unterschiedlichen Herrschaftsbereichen, zum Großfürstentum Litauen, zur Polnisch-Litauischen Adelsrepublik und zum Russischen Reich / Foto © Siarhei Hudzilin

Westen

 

In den Abendstunden sitzt eine junge Frau im Zentrum der Stadt Wyssokaje vor einer Lenin-Statue. Wyssokaje ist der am weitesten westlich liegende Ort des Landes / Foto © Siarhei Hudzilin

Osten

 

Im Wald nahe Chozimsk sammelt eine Frau Pilze und passiert den Grenzstein zwischen Belarus und Russland. Die Grenze existiert nur formell, ohne Grenzposten oder -kontrollen / Foto © Siarhei Hudzilin
Ein Pferd grast in Chozimsk, Woblasz Mahiljou (russisch: Mogiljow) / Foto © Siarhei Hudzilin
Eine Frau am Zaun vor ihrem Haus in Chozimsk / Foto © Siarhei Hudzilin
Ein angelnder Mann nahe dem Dorf Schaladonauka. Sein Auto hat er hinter sich inmitten der Birken abgestellt / Foto © Siarhei Hudzilin
Chozimsk bei Nacht / Foto © Siarhei Hudzilin
Busbahnhof in Chozimsk / Foto © Siarhei Hudzilin

Fotos: Siarhei Hudzilin
Bildredaktion: Andy Heller
Übersetzung: Ruth Altenhofer
Text: dekoder-Team
Veröffentlicht am 17.01.2022

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