Warum der Fall Golunow alles zum Kochen brachte

Viele Menschen in Russland wähnen sich derzeit in einem Traum: Iwan Golunow, der am Donnerstag noch wegen angeblichen Drogenhandels festgenommen wurde, ist frei. Wie ist das möglich? Eine gezielte Volte des Kreml? Oder gab er schlicht dem Druck der Straße nach? Die Ereignisse überschlagen sich, und die Gerüchteküche zu den schon zuvor gemutmaßten Gründen für die mögliche Freilassung brodelt nun noch mehr.

Der Name Golunow ist seit vergangener Woche in aller Munde, eine bislang nie dagewesene Welle der Solidarität hat seitdem das Land erfasst. Tausende Menschen demonstrierten, sogar staatsnahe Stimmen stellten sich auf die Seite der Protestierenden. Sie waren von Anfang an überzeugt, dass die Vorwürfe gegen Golunow vorgeschoben sind und eigentlich darauf abzielen, seine journalistische Tätigkeit zu unterbinden. Auch im Ausland war der Fall Golunow Thema: Reporter ohne Grenzen forderte die Freilassung des Journalisten, in Berlin demonstrierten am Samstag dutzende Menschen vor der Russischen Botschaft und auch die dekoder-Redaktion schrieb einen offenen Brief zur Unterstützung von Iwan Golunow.

Vergleichbare Fälle von Festnahmen und Verhaftungen aus fadenscheinigen Gründen gab es in Russland schon vor der Causa Golunow. Doch warum gab es damals keine derartigen Proteste? Warum schwappte die Solidaritätswelle gerade jetzt so hoch? Diese Fragen stellt Katerina Gordejewa auf Colta.

Seit dem Morgen sind an den Zeitungskiosks im ganzen Land die Zeitungen Vedomosti, Kommersant und RBC ausverkauft, die Fluggäste von Aeroflot und Fahrgäste im Sapsan reißen einander die kostenlosen Exemplare aus der Hand – auf der Titelseite das Portrait des Investigativ-Ressort-Journalisten von Meduza Iwan Golunow mit dem Slogan Ich bin/Wir sind Iwan Golunow

Dutzende großer und kleiner Medien im ganzen Land ändern ebenfalls ihre Titelseite und drücken so ihre Solidarität mit dem wegen Verdacht auf Drogenbesitz und -handel festgenommenen Kollegen aus.

Der Schauspieler Konstantin Chabenski erklärt bei der Jubiläums-Eröffnung des 30. Kinotaur Festivals, dass gerade „versucht wird, einen Journalisten auszuschalten“; im Saal bricht tosender Applaus los, der Fernsehsender Kultura überträgt die Szene ungekürzt, im Vordergrund des Bildes: Kulturminister Wladimir Medinski.

Die, die früher bei anderen himmelschreienden Anlässen vorgezogen haben, vieldeutig zu schweigen oder „den weisen Schluss zu ziehen“, es gebe „kein Rauch ohne Feuer“, diese demonstrativ apolitischen Schauspieler und Musiker, vorsichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Designer, Kuratoren, Regisseure, Moderatoren des staatlichen Fernsehens – diesmal war es, als könnten sie nicht mehr: Sie haben den Mund aufgemacht und gesprochen.

Die Causa Golunow ist zum Referenzpunkt für eine nie dagewesene Solidarität geworden. Erstmals in einem relativ langen historischen Zeitraum ist die vor den Augen grassierende Ungerechtigkeit wichtiger als Meinungsverschiedenheiten. Es ist ein Präzedenzfall in der neuesten Geschichte.

Kein Peskow kann mehr sagen: „Der Präsident hat davon noch keine Kenntnis.“ Schon jetzt – und das wird nur noch mehr – pfeifen die Spatzen von allen Dächern die Ungereimtheiten des Falles, die polizeiliche Willkür, den Auftragscharakter der ganzen Sache.

Einige tausend Menschen protestierten und protestieren immer noch landesweit in Einzelpikets: Sie nehmen Videos auf, mit denen sie den Journalisten unterstützen, schicken Anfragen und wollen am Tag Russlands zum Protestmarsch gehen. Als ob all diese Menschen gemeinsam das Ventil umgedreht hätten: Und damit den Lügenstrahl ab- und den der Wahrheit aufgedreht haben.

 
Zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens zeigen in Videobotschaften ihre Solidarität mit Iwan Golunow. Hier: Wladimir Posner, Ljudmila Ulitzkaja, Andrej Swjaginzew, Andrej Loschak, Olga Romanowa und Boris Grebenschtschikow

Warum bringt gerade der Fall Golunow alles zum Kochen? Warum nicht Ojub Titijew, Chef des tschetschenischen Memorial? Warum nicht Kirill Serebrennikow, Juri Dmitrijew, Alexander Kalinin? Und warum nicht dutzende junge Leute aus ausgedachten terroristischen Vereinigungen? Wahrscheinlich werden Politologen und Soziologen eines Tages eine schöne und elegante Erklärung dafür liefern. Bislang weiß es aber ganz bestimmt noch keiner.

Die Initiatoren des Ganzen waren Kollegen von Golunow – Journalisten. Es ist nicht unwichtig zu erwähnen, dass der Großteil der Menschen vor dem Gerichtsgebäude oder in den Einzelpikets aus Journalisten besteht, die gegangen wurden oder ihren Beruf aufgegeben haben, weil sie sich darin nicht verwirklichen konnten. Ein Teil der Redaktionen wurde liquidiert, ein anderer überlebt nur dank übermenschlichen Anstrengungen. Bis zu dem Fall Golunow schien es, dass der Beruf quasi ausgestorben sei. Golunow aber hatte weiterhin Journalismus gemacht. Im wahrsten Sinne des Wortes. 

Aber es geht nicht allein darum. Vielleicht hat es auch mit dem kollektiven Schauen der Serie Chernobyl zu tun, deren Hauptgedanke darin besteht, den fatalen physischen und moralischen Schaden zu verdeutlichen, den Lügen auf allen Ebenen hervorrufen.

Oder vielleicht geht es darum, dass Iwan Golunow ein guter, einfacher, bescheidener junger Mann ist, der in einer 30-Quadratmeter-Einzimmerbude wohnt. Vor seiner Verhaftung war er vor allem für seinen tadellosen Ruf und seine einwandfreie Professionalität bekannt. Menschen, die Iwan etwas näher kannten, wissen, dass er im Leben mit größter Leidenschaft verstehen wollte, wie die Dinge funktionieren. Seine Lieblingslektüre war die SPARK-Datenbank, eine Webseite über Staatsverträge, staatliche Register und Datenbanken. Seine Analysen und Schlussfolgerungen legten die Affären und Betrügereien offen, in denen das Land versank.

Der [im Fall Golunow zur Diskussion stehende – dek] Paragraph 228 ist in Russland als „Volksparagraph“ bekannt – auf ihm beruht der Löwenanteil der Urteile, wobei die Rolle der Polizei hier kaum zu überschätzen ist. 
In einem Land, in dem eine AIDS-Epidemie wütet und Drogen jedem zugänglich sind, der danach sucht, bietet dieser Paragraph eine sehr bequeme Gelegenheit, bei einer beliebigen Person auf der Straße im Rucksack einfach das zu finden, was gesucht – oder besser: was benötigt wird. Genau deswegen sind jetzt in der Causa Golunow jene Stimmen unangebracht, die behaupten, dass sich die Journalisten nur deswegen so ins Zeug legen, da es sich um einen der ihren handelt, während viele andere unter den gleichen Vorwürfen im Gefängnis vor sich hin gammeln. Niemand, egal ob bekannt oder unbekannt, sollte im Gefängnis sitzen, nur weil Polizisten, um ihre Bilanzen zu schönen, offene Fälle zu schließen und einen Stern zu bekommen, jeden ausschalten, um den man sie bittet.

Nun wurde im Fall Golunows ein Teilerfolg erzielt. Am Samstagabend beschloss das Nikulinski-Gericht in Moskau, Golunow unter Hausarrest zu stellen – eine vergleichsweise weiche Maßnahme, jedoch ist das weder ein vollständiger Freispruch im Gerichtssaal noch ist der Angeklagte auf freien Fuß gesetzt.

 

Hausarrest statt Untersuchungshaft: Freude bei den Versammelten vor dem Moskauer Nikulinski Bezirksgericht am 8. Juni

Der Slogan Freiheit für Iwan Golunow, der derzeit wohl überall zu sehen ist, kann erst dann als eingelöst gelten, wenn nicht nur der Investigativjournalist von Meduza freigelassen wurde, sondern alle, die die Anklage gegen ihn bestellt, fabriziert und ausgeführt haben namentlich benannt und bestraft worden sind. Dann können wir den Slogan umformulieren: Statt Freiheit für Iwan Golunow hieße es dann Danke Iwan Golunow.

Denn schließlich war er es, war es sein Fall, der uns geholfen hat die in Chernobyl so treffend formulierte Maxime zu begreifen: „Wenn die Wahrheit uns kränkt, dann lügen wir, lügen, bis wir uns nicht mehr daran erinnern, dass es die Wahrheit gibt. Aber es gibt sie.“

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