Editorial: Was ist eigentlich der 8. März?

1990 – ich bin auf dem Weg nach Russland, in mein liebes Sankt Petersburg, ins damals märzdunkle Leningrad. Ich fahre zusammen mit einer Freundin, über Stockholm, Helsinki, in den himmelblau lackierten Abteilen des Zuges Helsinki–Leningrad. Fünf Stunden Fahrt. Meine erste Grenzkontrolle nach Russland in der Eisenbahn. Als West-Berlinerin bin ich diese Art Kontrollen durch den DDR-Transit von Kindesbeinen an gewöhnt und nun in schauriger Erwartung unfreundlicher, strenger Kontrolleure. 

Wir sitzen mit einigen Frauen im Abteil, verstehen sehr wenig. Dann die Kontrolle: Junge Männer kommen, öffnen die Tür und begrüßen uns: „Herzlichen Glückwunsch zum 8. März!“ Alle lachen sich fröhlich an. Meine Freundin und ich sind verdutzt. Was ist der 8. März? Warum gratulieren uns die Männer herzlich, die uns eigentlich von oben bis unten filzen sollen – wir haben immerhin eine koffergroße Reisetasche mit Fruchtjoghurt bei uns: Birne, Heidelbeer, Erdbeere, Himbeere, Banane, als Gastgeschenk. Aber diese krasse Schmuggelware interessiert sie nicht. Sie sind freundlich, gratulieren, schauen die Pässe an und gehen wieder. Als sie weg sind ist die vorherige Stille aus dem Abteil verflogen, die Frauen lachen und reden und beginnen, uns wichtige Wörter beizubringen (ich erinnere mich an tarelka (dt. Teller), weiches r vor hartem l, ein phonetisches Gewitter im Mund einer Russischanfängerin).

Später am Abend fahren wir zum ersten Mal die riesig langen High-Speed-Rolltreppen der Stadt im Sumpf empor und kommen zu Anja nach Hause. Dort wartet ein Tisch, gedeckt, gefüllt mit den größten Köstlichkeiten in rauen Mengen. Der Internationale Frauentag. Gekocht hat das alles Anjas Stiefmutter Oxana. Die sitzt leicht ermattet, aber freundlich lächelnd am Ende der Tafel. Lecker, fröhlich, viel. 

Ich liebe den Internationalen Frauentag, den 8. März, denn für mich ist er der Anfang meiner Reisen nach Russland. Zeiten, in denen ich mich immer willkommen fühle.

Das war kurz nach dem Mauerfall, liebe Leserinnen und Leser, vor knapp 30 Jahren. Vor einigen Wochen wurde entschieden, dass der Internationale Frauentag auch in Berlin ein arbeitsfreier Feiertag ist. Für mich ist das keine anzweifelbare Quatschaktion, wie, nennen wir sie Skeptiker, es nennen, sondern eine heimliche zeitliche Klammer oder Brücke. Der Systemwechsel war in Deutschland erfolgreich und gleichzeitig hart, hart gegenüber denen, die ihr Leben in ein anderes System investiert hatten. Genau wie wir unser Leben in die jetzige Zeit investieren. 

Vielleicht haben wir die Chance, den altehrwürdigen Frauentag frisch zu besetzen, nicht mit Mimosen, blumengeschmückten Handtüchern und Parfum für Frauen, die dann am Schluss wieder allein das Geschirr abspülen. Vielleicht kann es ein Zeichen sein, wenn dieser eher in sozialistischen Systemen verankerte Internationale Frauentag auch in Gesamtdeutschland an Bedeutung gewinnt. Auch der Systemwechsel braucht Versöhnung und Zeichen. 

Lasst euch zu diesem neuen Feiertag durch dekoder inspirieren. Es lohnt sich, im Frauendossier zu stöbern. Eine nagelneue Gnose zu einer der schillerndsten Vorkämpferinnen der Frauenrechte wird ab dem 8. März dort zu finden sein.

In der zweiten Märzhälfte wird die Krim in den Vordergrund rücken. Anlässlich des fünften Jahrestags der Angliederung an Russland, mit einem Dossier im revolutionierten Wissenstransferprogramm. (Apropos Frauentag: Schaut dann mal, wer in diesem Dossier vor allem schreibt, das ist kein Quotenresultat.)

Am 23. und 24. März werden wir im Rahmen der Leipziger Buchmesse das dann hoffentlich druckfrische dekoder – Russland entschlüsseln #1 vorstellen. Schaut gern am Samstag in der Kulturapotheke oder am Sonntag in den Messehallen vorbei!

Wir wünschen euch allen (auch die Nicht-BerlinerInnen dürfen mitfeiern, zumindest bei uns in der Redaktion) einen schönen sozusagen ersten Internationalen Frauentag! Lest gern und schaut und hört und tanzt – und steht nicht zu lange in der Küche. Obwohl schon, damit es lecker wird, aber bitte in der Gruppe.

Und wer schon heute anfangen will zu feiern, kann das tun mit einer ordentlichen Portion Eierkuchen Pfannkuchen Bliny, denn diese Woche wird mit der Masleniza der Winter vertrieben, da darf aus traditionellen oder Geschmacks- oder Wärmegründen ein Löffel Butter extra an den Teig! 

Guten Appetit wünschen Rike und alle dekoderщiki

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