Editorial: Warum wir nun auch Belarus entschlüsseln

Foto © Vola Kuzmich/«Support Belarus» Art-action

Seien wir ehrlich: Wir wissen kaum etwas über Belarus. Ich selbst bin 1995 als Student der Osteuropäischen Geschichte und Slawistik zum ersten Mal nach Belarus gereist. Ein Land, von dem ich keinen blassen Schimmer hatte. Überhaupt gab es nur wenige Informationen, die über die üblichen Formeln wie beispielsweise „Freilichtmuseum des Sozialismus“ oder später „die letzte Diktatur Europas“ hinausgingen. Exemplarische Geschichten und Tiefenwissen, die die komplexen kulturhistorischen Verwerfungen dieses faszinierenden Kulturraums sichtbar machen, erzählen, seine quicklebendige zeitgenössische Musik-, Literatur- und Kunstszene erklären, oder eben das über Jahrhunderte eingeübte Ertragen von autoritären Herrschern. Wer von uns hat in der Schule schon gelernt, dass das Magdeburger Stadtrecht auch im belarussischen Kulturraum galt oder dass sich die Geschichte vieler berühmter Juden, die als Warner Bros. oder als israelische Präsidenten Karriere machten, dorthin zurückverfolgen lässt? Und wer hat schon davon gehört, dass es im Belarussischen solche wunderbaren Wörter wie schtschymliwa (шчымліва) gibt, die einen schönen Herzschmerz beschreiben?

Das Land zwischen Warschau und Moskau bietet viele solcher Überraschungen. Über die Jahre der Beschäftigung mit diesem Land ist in mir die Überzeugung gereift, dass Europa nur zusammenwachsen kann, wenn wir uns öffnen und wenn wir nicht nur übereinander lernen wollen, sondern vor allem voneinander. Das hilft nicht nur gegen ermüdende Stereotype und gefährliche Propaganda. Gut recherchierte und aufbereitete Informationen sind die Basis unseres demokratischen Zusammenlebens. 

Seit über drei Monaten protestieren die Belarussen gegen den Machthaber, der das Land seit 1994 mit harter Hand regiert. Nicht nur den autoritären Strukturen scheint entgangen zu sein, dass sich die Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert hat und nun einen politischen Wandel einfordert. Von diesem schleichenden Wandlungsprozess haben auch in der EU und in Deutschland wohl nur die wenigsten etwas geahnt. Dass er sich in diesem Jahr auf eine derartig überwältigende, friedliche und kreative Art und Weise seinen Weg bahnen würde, hat wohl überhaupt niemand geahnt. Die Belarussen, die als duldsam und unpolitisch gelten, haben die Welt überrascht – und sich selbst. Noch 2010 sagte mir der Schriftsteller Viktor Martinowitsch: „Es ist nicht so, dass die Belarussen gar keine Veränderung wollten. Sie haben nur einfach Angst davor, die Quelle der Veränderung zu sein. Denn viele kennen all die Geschichten von denen, die politische Wechsel initiiert haben und vom Staat grausam bestraft wurden. Aber wenn wir wirkliche Bürger werden wollen, müssen wir das endlich lernen.“

Offensichtlich sind die Belarussen nun bereit, wirkliche Bürger zu werden. Ein Wandel ist im Gange, dessen politischer Ausgang noch in den Sternen steht. Dennoch dürfte klar sein, dass es sich um einen tiefgreifenden Wandel handelt, der das Land schon heute verändert. 

dekoder begleitet die Ereignisse in Belarus bereits seit August mit eigenen Übersetzungen. Aber wir haben beschlossen, das Dossier Werym, Mosham, Peramosham: Proteste in Belarus auch strukturell zu verankern und künftig auszubauen. Die Interviews, Essays, Reportagen oder Erklärstücke, die wir übersetzen und nach dekoder-Art journalistisch und wissenschaftlich kontextualisieren, stammen aus unabhängigen belarussischen Medien, die in den vergangenen Jahren ein hohes Niveau an Professionalität und thematischer Diversität erreicht haben. Diesem Pluralismus wollen wir eine Stimme geben. Zudem werden bekannte Wissenschaftler und Fachexperten im Textformat der Gnose landestypische Phänomene und Entwicklungen erklären – und es geht auch darum, die Ereignisse aus einer wissenschaftlichen Metaperspektive einzuordnen und zu begleiten.

Seit dem 1. November verantworte ich bei dekoder alles, was mit Belarus zu tun hat. Wir freuen uns, dass wir mit dem German Marshall Fund of the United States, der Alfred Toepfer Stiftung und der S. Fischer Stiftung Partner gefunden haben, die diesen Neustart fördern. Und wir haben noch viel vor:

dekoder Belarus soll, das ist unser Ziel, zu einer zentralen und lebendigen Wissens- und Informationsplattform werden, die neugierig macht und die den Wandel in Belarus auf lange Sicht begleitet. Wir sind uns sicher, dass unsere wissbegierigen Leserinnen und Leser diesen Schritt mitgehen werden. Es ist Zeit, dass wir Belarus besser kennenlernen. Auch damit wir uns in Europa besser kennenlernen. Darauf will ich, wollen wir dekoderщiki, mit Euch anstoßen, wie es die Belarussen tun: Будзьма! Budsma!

Euer Ingo

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