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„Das Erinnern beenden? Das wird so nicht gelingen!“

Dreieinhalb Jahre verschärfte Lagerhaft – auf den ersten Blick scheint das Urteil für Juri Dmitrijew vergleichsweise milde, schließlich hatte die Staatsanwaltschaft 15 Jahre gefordert. Da er bereits über drei Jahre in der Untersuchungshaftanstalt verbracht hat, wird der Historiker voraussichtlich schon im November freigelassen. Dmitrijew wurde des sexuellen Missbrauchs an seiner Pflegetochter für schuldig befunden – nachdem er 2018 bereits von der Herstellung von Pornographie freigesprochen worden war.

Zahlreiche internationale Intellektuelle, Wissenschaftler und Menschenrechtler halten die Vorwürfe gegen Dmitrijew für politisch motiviert. In jahrzehntelanger Arbeit hatte er nach Opfern des Großen Terrors in Karelien gesucht, Gräber entdeckt, Namen recherchiert und darüber auch Bücher verfasst. Den Prozess verstehen viele als Versuch, ihn mundtot zu machen. Irina Galkowa etwa, Leiterin des Memorial-Museums in Moskau, wirft dem Gericht vor, entlastende Zeugenaussagen nicht zuzulassen und Experten zu beschäftigen, die „bestellte” Gutachten erstellten. 

In seinem Schlusswort vor Gericht am vergangenen Montag, 20. Juli 2020, zeigte sich Juri Dmitrijew unerschrocken – dekoder bringt daraus einen Ausschnitt:

Wertes Gericht! 

Nun trete ich schon zum zweiten Mal in diesem endlosen Prozess mit einem Schlusswort auf. Und würde gern meine Position – wenn sie dem Gericht noch nicht klar ist – dazu deutlich machen, warum ich der bin, der ich bin, warum ich mich so verhalte und wie ich in diesen Käfig geraten bin. 

[….]
Derzeit gibt es bei uns den Trend … das ist doch im Trend, oder? … über Patriotismus zu sprechen. Doch ich bitte Sie – Patriotismus ist nicht das Sprechen darüber. Wer ist ein Patriot? Ein Patriot ist ein Mensch, der sein Heimatland liebt. Bei uns ist es merkwürdigerweise derzeit so, dass man nur auf die militärischen Erfolge stolz ist. Entschuldigung, die Heimat ist doch eine Mutter. Und es kommt vor, dass Mama krank ist, dass sie irgendetwas nicht schafft. Und hören wir in solchen Zeiten auf, sie zu lieben? Nein. Und ich weiß nicht, ob glücklicher- oder unglücklicherweise: Mein Weg hat mich dahin geführt, dass ich Menschen aus dem Vergessen zurückgeholt habe, die verschwunden waren. Menschen, die durch Schuld unseres eigenen Staates zu Unrecht bezichtigt, erschossen, in Wäldern verscharrt wurden, wie streunende Tiere. Kein Hügel, kein Hinweis, dass hier Menschen begraben sind.

Vielleicht hat Gott mir dieses Kreuz auferlegt, doch Gott gab mir auch das Wissen. Und so gelingt es mir – nicht oft, aber manchmal – Orte zu finden, an denen es menschliche Massentragödien gab. Ich verknüpfe sie mit Namen und versuche an diesem Ort einen Ort der Erinnerung zu schaffen, denn Erinnerung ist das, was den Menschen zum Menschen macht.

Zum „Kriegspatriotismus“ möchte ich folgendes sagen. Mein Vater war an der Front, wir begingen den 9. Mai lange, bevor er ein offizieller Feiertag wurde.

Meine Mutter hatte sechs Schwestern. All deren Männer waren an der Front gewesen. Am wenigsten wurde am Tisch aber über die Siege gesprochen. Denn für sie war der Krieg Tragödie und Schmerz. Und Flaggen gab es keine einzige. Der Sieg – das ist vor allem Trauer und Erinnerung an die Menschen, die umkamen.

Ich bin vollkommen einverstanden, wenn unser Staat sagt, wir müssen der im Krieg Gefallenen gedenken, denn das ist ein Teil unserer Erinnerung. Doch es muss auch der Menschen gedacht werden, die aus Bosheit unserer Staatsführer umgekommen sind. Das ist für mich Patriotismus. Das habe ich auch [meiner Adoptivtochter] beigebracht, das wissen auch meine [leiblichen] Kinder Jegor und Katja, das wissen auch meine Enkel, das wissen die Schüler und Studenten, mit denen ich gearbeitet habe, das wissen wahrscheinlich alle zivilisierten Menschen. 

Deswegen, Euer Ehren, glaube ich, dass dieser Fall, der nun schon sehr sehr lange, dreieinhalb Jahre, untersucht und geprüft wird, dass dieses Verfahren einerseits speziell dafür eingeleitet wurde, um meinen ehrlichen Namen in Verruf zu bringen, und andererseits, um einen Schatten auf die Gräber und Friedhöfe der Opfer der Stalinschen Verfolgungen zu werfen, die ich aufgespürt habe, und zu denen die Menschen nun hinströmen.
Mit welchem Ziel wurde dieses Verfahren eingeleitet? Ich jedenfalls weiß es nicht. Um das Erinnern zu beenden? Das wird so nicht gelingen. Mir unmöglich zu machen, daran mitzuwirken? Ich habe schon seit drei Jahren nicht mehr daran mitgewirkt – und trotzdem erlischt es nicht.

Deswegen bitte ich Sie, Euer Ehren, wenn Sie sich zur Beratung zurückziehen, sehen Sie sich alles nochmals genau an, prüfen Sie. Die schlimmen Dinge, die hier in Stapeln von Akten beschrieben wurden, habe ich nicht getan. Ich habe versucht, ein Kind zu einer ehrenwerten Bürgerin großzuziehen und, ich scheue mich nicht zu sagen, zu einer Patriotin unseres Landes. Ich habe alles dafür getan. 

Das ist dann wohl alles, was ich sagen möchte. Danke. 

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