Wie der Dialog in Belarus aussehen sollte

Zwei Mitglieder des oppositionellen Koordinationsrats sind am Montagvormittag, 24. August, von OMON-Kräften festgenommen worden. So spitzt sich die Situation in Belarus weiter zu, nachdem Alexander Lukaschenko am Wochenende mit dem Maschinengewehr in der Hand vor die Silowiki trat – und in Minsk eine historische Zahl von mehr als 100.000 Menschen gegen Wahlfälschung und Gewalt protestierte.

Die EU und der Kreml fordern Lukaschenko zum Dialog auf, die OSZE bot Vermittlung an – und abgesehen davon, dass Lukaschenko jedes Gespräch bislang verweigert: Wie kann ein Dialog überhaupt aussehen zwischen zwei Parteien, die einander kaum vertrauen? Das fragt der belarussische Journalist Artyom Shraibman. Und macht ein paar – vielleicht utopische, aber durchaus bedenkenswerte – Vorschläge im unabhängigen Online-Portal tut.by.

Wie auch immer Alexander Lukaschenko die Realität wahrnimmt: Fakt bleibt, dass das System in seiner bisherigen Form immer schwerer zu steuern ist. Und um es auf lange Zeit wie eine Besatzungsmacht zu verwalten, dazu fehlt Lukaschenko schlicht das Geld.

So oder so wird also der Moment kommen, in dem Lukaschenko oder genügend Leute in seinem engsten Kreis erkennen, dass der Dialog mit den Opponenten weniger riskant ist als der Versuch, den Senf wieder zurück in die Tube zu drücken. Oder ihr Patriotismus wird stärker als der Wunsch, ewig an der Macht zu bleiben.

Verfassungsreform und Neuwahlen

Was kann Gegenstand dieses Dialogs sein? Hier bin ich zu meinem eigenen Erstaunen einverstanden mit Lukaschenkos Worten: Der nachhaltigste Weg ist eine schnelle Verfassungsreform und anschließende Neuwahlen für einen Neustart der Regierung.

Der Präsident von Belarus hat auch Recht, dass man die heutige Verfassung mit ihrer Schlagseite [zugunsten des Präsidenten – dek] niemandem so überlassen kann – weder Tichanowskaja noch Tichanowski, Lukaschenko junior, dem Premierminister Golowtschenko, Babariko, Zepkalo, Mutter Theresa oder dem Papst. Diese Verfassung ist ein Pfad in den Abgrund, weil sie das Schicksal einer Nation von den Launen eines einzelnen Menschen abhängig macht. Das kann das Land nicht länger riskieren.

Damit die Gesellschaft diesen Prozess als legitim ansieht, kann er nicht stattfinden als Dialog von Lukaschenko und Leuten, die er selbst auswählt, wie etwa den offiziellen Gewerkschaften, der staatlichen Jugendorganisation BRSM oder Belaja Rus. Sondern es muss ein Dialog der gegenwärtigen Opponenten sein: Lukaschenko und sein engster Kreis auf der einen Seite und das Präsidium des Koordinationsrates auf der anderen Seite.

Beide Seiten vertrauen einander nicht und werden es wohl nie tun. Das Präsidium des Koordinationsrats und seine Anhänger sehen Lukaschenko als illegitimen Usurpator, der die Wahl verloren hat und keines seiner Versprechen einhält. Lukaschenko und seine Anhänger halten das Präsidium des Koordinationsrats für ein selbsternanntes Gremium ohne Unterstützung aus der Gesellschaft, das von äußeren Mächten gesteuert wird.

Auf eine Vermittlung von außen sollte verzichtet werden, weil die Krise in Belarus vom Wesen eine zutiefst innere ist

Das heißt, sobald die Regierung bereit zu einem Dialog ist, brauchen beide Seiten Mediatoren. Falls man Moskau oder Brüssel, Washington oder Peking ins Boot holt, werden die beiden Seiten noch stärker den Verdacht schöpfen, dass die jeweils anderen versuchen würden, das Land aus der Hand zu geben. 

Auf eine Vermittlung von außen sollte verzichtet werden, weil die Krise in Belarus vom Wesen eine zutiefst innere ist. Es wirkt komisch, wenn gerade die von äußerer Einmischungen sprechen, deren neue [russische – dek] Mitarbeiter im belarussischen Staatsfernsehen Belorussija schreiben. Man denke daran, wie eine Vermittlung von außen in der Hochphase des ukrainischen Maidans scheiterte und zum Prolog für einen langwierigen Krieg wurde. Der Mediator muss im Land selbst gefunden werden.

Wer gilt als unvoreingenommene Autorität für beide Seiten?

Das ist schwer, denn es gibt praktisch niemanden, der ohne Zweifel als unvoreingenommene Autorität für beide Seiten gilt. Es muss jemand gefunden werden, der definitiv keine Machtansprüche hegt und allein am gesellschaftlichen Frieden und Konsens interessiert ist. 

Das beste, was wir haben, scheinen mir die Kirchen zu sein. Mir liegen solche Mutmaßungen fern, aber einige Leute werden womöglich verlockt sein, die Belarussisch-Orthodoxe Kirche als Wegbereiterin für russische oder die katholische Kirche als Wegbereiterin für polnische Interessen zu sehen. Ein Kompromiss könnte ein gemeinsame Vermittlung sein von den Oberhäuptern der fünf Konfessionen in Belarus: Orthodoxe, Katholiken, Protestanten, Juden und Muslime.

Dialog unter zwei Bedingungen

Je weniger Bedingungen es für einen Dialog gibt desto besser. Doch ein paar grundlegende Bedingungen müssen erfüllt sein, damit ein Dialog möglich ist. Ich sehe zwei: 

Erstens müssen Gewalt und Repressionen von Seiten der Machthaber beendet werden. Zweitens muss Alexander Lukaschenko und seiner Familie eine unbefristete Garantie für physische Sicherheit und vollständige Immunität  garantiert werden. Wenn diese Gesten des Goodwill nicht von beiden Seiten angenommen werden, wird es nicht möglich sein, sich an einen Tisch zu setzen. 

Das beste Produkt eines solchen Dialogs wäre ein Verfassungsentwurf, den keine der beiden Seiten als Niederlage empfinden würde. Es wäre die Verfassung einer parlamentarischen Republik, die entweder überhaupt keinen Präsidenten hat oder dessen Rolle eine rein repräsentative wäre. Lukaschenko bliebe in einer solchen Situation der erste und letzte Präsident des Landes mit umfassenden Machtbefugnissen.

Wenn die Regierung überzeugt ist, dass sie die Mehrheit vertritt, so kann sie ihre Positionen auch in einer parlamentarischen Republik bewahren. Dafür ist es einzig vonnöten, eine Partei zu gründen und die Wahlen zu gewinnen.

Ein solches Referendum muss schnell erfolgen – spätestens in einem Monat

Die heutige Verfassung einfach durch eine willkürliche Entscheidung abzuschaffen, ist juristisch ein zu fundamentaler Bruch. Was immer dann folgt, könnte nicht mehr legitim sein. Besser ist, sich im Rahmen der heute gültigen Verfassung zu bewegen. Laut dieser können derart gravierende Änderungen nur mittels eines Referendums angenommen werden. Dieses Referendum, und auch die Abfolge der nächsten Schritte, müssen genau niedergelegt werden in einer Übereinkunft beider Seiten und qua Unterschrift der Vermittler, in diesem Fall der Kirchenvertreter, bekräftigt werden.

Ein solches Referendum muss schnell erfolgen – spätestens in einem Monat, und selbstverständlich nach Modalitäten, denen alle vertrauen. Das heißt, das Zentrale Wahlkomitee ZIK und das gesamte Wahlkommissions-System müssen Vertreter der anderen Seite und außerdem eine mehrere Tausend Menschen starke internationale Kommission von Wahlbeobachtern zulassen. Da jedoch diese Verfassungsreform der Idee nach sowohl bei der Regierung als auch bei ihren Gegnern Unterstützung findet, müsste es beim Referendum in jedem Fall eine Entscheidung dafür geben.

Im Anschluss sollten – nun schon entsprechend der neuen Verfassung – so schnell wie möglich Parlamentswahlen stattfinden, wiederum in einer Wahl, die höchste Transparenz bietet. Ob das Parlament mit Parteilisten nach dem heutigen Mehrheitsprinzip oder nach einem Mischprinzip gewählt wird, das ist ein Verhandlungsgegenstand, der aktuell nicht im Vordergrund steht. 

Ich wiederhole: Der ganze Prozess sollte haargenau in allen Stadien und mit Daten durchgeplant werden, um Abweichungen von diesen Vereinbarungen so schwer wie möglich zu machen.

Der Verzicht auf außenpolitische Vermittlung bedeutet nicht, dass internationale Akteure außen vor bleiben. Ohne sich direkt einzumischen können äußere Kräfte die beiden Seiten durchaus zum Dialog motivieren und beobachten, wie die Verhandlungen geführt werden. 

Ein internationaler Hilfsfond für Belarus

Da das Land derzeit immer tiefer in eine wirtschaftliche Krise rutscht, könnte ein Hebel zur Stimulation von außen darin bestehen, einen internationalen Hilfsfonds für Belarus zu gründen. Zum Beispiel 3 bis 5 Milliarden Dollar, die dem Land zugute kommen, nachdem die grundlegenden Etappen der Transformation vonstatten gegangen sind, und unter der Bedingung, dass alle Abmachungen von beiden Seiten eingehalten wurden. Russland und die Europäische Union (mit Unterstützung der USA) könnten einen solchen Fonds solidarisch einrichten und sich auf die Regeln, Bedingungen und Stadien für die Zahlung der Mittel einigen. 

Damit sie sich nicht gegenseitig des Versuchs verdächtigen, sich Belarus unter den Nagel reißen zu wollen, sollte ein Punkt der internen Vereinbarung zwischen den Machthabern und ihren Gegnern ein Konsens über die Außenpolitik sein. Das bedeutet eine feste Vereinbarung darüber, dass Belarus, egal, wie der Prozess ausgeht, nicht von seinen internationalen Verpflichtungen Abstand nimmt, keine Kehrtwende in die eine oder andere Richtung vornimmt, und dass die Souveränität unantastbar ist.

Ich weiß, wie illusorisch heute jeder Punkt aus meinem Text erscheinen mag.  Doch zu dem Zeitpunkt, wo als Alternative zum Dialog nur noch Bürgerkrieg, völliger Ruin oder äußere Besatzung bleiben, ist es besser, wenn wir zumindest einen ungefähren Algorithmus für eine Rettung haben. Ich wünsche uns allen gutes Gelingen.
 

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