Der Crowdsourcing-Protest

In der dritten Nacht in Folge ist es in Minsk zu schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften gekommen. Der österreichische Osteuropa-Korrespondent Stefan Schocher berichtet auf Facebook, dass schwere Armee-Einheiten ins Zentrum verlegt worden sind: „Ob das eine Eskalations-Stufe ist oder eine Machtdemonstration auf verlorenem Posten, ist unklar“, so Schocher. „Es gab bereits starke Anzeichen, dass die Loyalität der Armee zum Regime in Frage steht. Die Armee einzusetzen, könnte sich für Lukaschenko also als Bumerang erweisen – die meisten Soldaten sind Präsenzdiener, Jungs aus dem Volk.“ So wie Schocher berichten auch zahlreiche Augenzeugen, dass die Sicherheitskräfte bemüht waren, kleinere Protestansammlungen immer wieder schnell zu zerschlagen. Es kam zu zahlreichen Festnahmen, die Menschenrechtsorganisation Viasna zeigt Bilder von Menschenmassen vor einem Minsker Gefängnis, die versuchen, etwas über den Verbleib von Angehörigen herauszufinden.

Wie organisiert oder unorganisiert sind die Proteste – auch im Vergleich zum Protest nach der Wahl 2010? Und haben die Demonstranten wirklich eine Chance – wie lange wird Lukaschenko noch an der Macht bleiben? 

Meduza hat darüber mit verschiedenen belarussischen und russischen Experten gesprochen. Und zeigt außerdem Fotos von der ersten Protestnacht in Minsk.

Foto © Maxim S.

Auch 2010 war die Opposition nach der belarussischen Präsidentschaftswahl zu Protesten auf die Straße gegangen, die aber von den Sicherheitskräften schnell niedergeschlagen wurden. Warum ging es dieses Mal nicht genauso glatt?

Rygor Astapenja, Politologe, Stipendiat der Robert-Bosch-Stiftung bei Chatham House (London) und Forschungsdirektor am Zentrum für neue Ideen (Belarus)
Seit 2010 hat sich die Protestplanung stark verändert. Jetzt sind die Proteste unorganisiert, autonom, man könnte sagen, wie Crowdsourcing. Das Regime wiederum musste plötzlich erkennen, dass seine Ressourcen begrenzt sind und es nicht alle Kräfte zusammen einsetzen kann. Es war genötigt, erst auf den einen Protestherd zu reagieren, dann auf den nächsten, dann wieder den nächsten … Die Regierung war einfach nicht auf diese Art von Protesten vorbereitet, bei denen die Sicherheitskräfte über ganz Minsk verteilt werden müssen; und außerdem muss man sich nicht nur um Minsk kümmern, sondern um viele Städte in ganz Belarus.

Jetzt sind die Proteste unorganisiert, autonom, man könnte sagen, wie Crowdsourcing

Daher fiel die Reaktion des Regimes in mehrfacher Hinsicht sogar noch brutaler aus als früher. Wasserwerfer, Blendgranaten, Gummigeschosse – das hat es früher nicht gegeben. Doch letztendlich hat das den Unterschied zur Situation 2010 nur deutlicher gemacht: Lukaschenko ist nicht mehr der allgemein anerkannte, populäre Führer, vor allem seit gestern [dem Wahltag 9.8.2020 – dek] nicht mehr.

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Artyom Shraibman, politischer Beobachter aus Minsk
2010 hatten es die Sicherheitskräfte einfacher, weil sich die Unzufriedenen alle an einem Ort im Minsker Stadtzentrum versammelt hatten, neben dem Parlamentsgebäude. Als die Demonstration aufgelöst werden sollte, hatten zwei Drittel der Menschen den Ort schon verlassen. 

Diesmal waren die OMON-Einheiten und anderen Sicherheitskräfte nicht nur über Minsk verteilt, sondern im ganzen Land. Viele waren damit beschäftigt, die Menschen von den Wahllokalen wegzujagen, die dort eine ehrliche Stimmauszählung forderten. Der Widerstand war diesmal stärker: Ich kann mich nicht erinnern, dass 2010 ernsthaft versucht wurde, sich zu widersetzen. Jetzt liegen einige Dutzend Angehörige der OMON-Einheiten im Krankenhaus, auf vielen Videos ist zu sehen, wie Demonstranten andere Protestierende verteidigten oder sie den Sicherheitskräften wieder entrissen. Und wenn es mehr Demonstranten als OMON-Leute gab, gingen erstere zum Gegenangriff über: Als Antwort auf die Schlagstöcke flogen Flaschen.

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Die organisierte Opposition steht nur in mittelbarer Verbindung zu diesen Protesten. Die meisten Oppositionsführer sind schon vor den Wahlen hinter Gitter gewandert, der Wahlkampfstab von Swetlana Tichanowskaja nahm nicht Teil, koordinierte nicht, organisierte nicht und hat sich den Protesten jetzt nicht direkt angeschlossen. Wenn die Unzufriedenen auf die Straße gehen, dann folgen sie vor allem Aufrufen von Bloggern über Telegram. Die meisten Autoren dieser Kanäle haben das Land verlassen, also ist es nur schwer vorstellbar, dass sich diese Opposition neu organisiert, weil es eben keine Organisation gegeben hat. Es gibt Menschen, aber keine Strukturen. Also kein Szenario wie in der Ukraine.

Insofern wird jetzt alles davon abhängen, wie und mit welcher Brutalität sich die Ereignisse weiter entwickeln werden, davon, ob es zu [weiterem] Blutvergießen kommt oder nicht. Wenn ja, könnte das dem Verhalten der Nomenklatura und der Radikalisierung der Bürger eine neue Dynamik geben. Bislang sieht es so aus, dass das Regime genügend Kraft hat. Und wenn die Opposition nicht noch einen beträchtlichen Erfolg erringt (schwer zu sagen, was das sein könnte, außer vielleicht der Besetzung eines Verwaltungsgebäudes), dann werden die Proteste wohl einfach allmählich niedergeschlagen.

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Margarita Sawadskaja, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Politikwissenschaftlichen Fakultät der Europäischen Universität in Sankt Petersburg
Das Wichtigste ist, dass es jetzt über Minsk hinaus Proteste gibt. In diesem Jahr gibt es ein Crowdsourcing, die Proteste stehen für sich, ohne Anführer. Selbst der gute Herr Lukaschenko hat eingestanden, dass er nicht versteht, wer hier gegen ihn kämpft. 2010 hatten die Proteste noch ausschließlich in der Hauptstadt stattgefunden und waren enger auf einen belarussischen Nationalismus ausgerichtet. 

Jetzt ist es eine breitere Koalition, die aktiv ist, und alles wird davon abhängen, wie sehr der Oppositionsstab das Vorgehen erfolgreich koordiniert und wieviele Menschen auf der Straße sein werden. In den kleineren Städten waren Erfolge zu beobachten, als die OMON vor den Protestierenden zurückweichen musste. Das ist ein wichtiges Signal, dass vielleicht noch nicht alles entschieden ist, selbst wenn die Prognose der Experten dahin geht, dass das Regime sich noch eine gewisse Zeit halten wird.

Das ist eine einzigartige Situation, Netflix sollte eine Serie darüber drehen

Der Begriff Opposition ist jetzt weit gefasst und unscharf. Die Infrastruktur der Opposition ist potenziell sehr machtvoll: Es gibt die Telegram-Kanäle und das Bedürfnis der Menschen nach neuen Oppositionsführern. 2010 musste man sich um das Vertrauen der Bürger bemühen, musste Programme schreiben – 2020 ist das nicht mehr nötig. Jetzt muss man standfest und überzeugt sein und offen sagen, dass man einen Regimewechsel will. Das hat [Swetlana] Tichanowskaja getan: Sie hat kein Programm, keine politische Erfahrung, ist aber zu einem Symbol geworden. Wahrscheinlich haben am Wahltag die meisten Belarussen für sie gestimmt. Wir können das zwar nicht mit Sicherheit sagen, aber wenn wir davon ausgehen, dass in einigen Wahllokalen ehrlich ausgezählt wurde und Tichanowskaja dort gesiegt hat, hat sie wahrscheinlich überall gesiegt. Das ist eine einzigartige Situation; Netflix sollte eine Serie darüber drehen.

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Wird Lukaschenko noch lange an der Macht bleiben?

Margarita Sawadskaja
Viele Experten sind sich einig, dass dies Lukaschenkos letzte Amtszeit sein wird, auch wenn die Statistik darüber, wie lange autoritäre Regime überleben können, bislang für ihn spricht. Solche Regime sind gewöhnlich langlebig. Politologen unterscheiden drei Typen moderner autoritärer Regime: Militärjuntas, Einparteiensysteme und personalistische Diktaturen. Letztere stellen in der jüngsten Geschichte die überwiegende Mehrheit, und sie leben am längsten, weil die Eliten koordiniert werden im Umfeld einer Person, der sie alle vertrauen. Es kommt nicht so sehr darauf an, über welche individuellen Fähigkeiten diese Person verfügt, die Qualitäten ändern sich mit der Zeit oder verlieren ihre Bedeutung. Für die Eliten ist es wichtig, Gewissheit über die Zukunft zu haben, insbesondere in autoritären Regimen, in denen formale Regeln keine sonderlich große Rolle spielen.

Diese Regime sind in der Regel auf die Lebenszeit des Diktators beschränkt. Für den Diktator und seine Umgebung ist das alles sehr unsicher, da das Regime für sie praktisch die einzige Option darstellt. Selbst wenn der Diktator sehr amtsmüde werden sollte, wird er sich bis zum Schluss an seine Macht klammern, weil sonst niemand für seine persönliche Sicherheit garantieren kann. Kommt es dann zu einem Regimewechsel, geht die Gefahr von der Elite aus. Sogar in Belarus gibt es ein Urbild hiervon: Schließlich sind [Waleri] Zepkalo und [Viktor] Babariko ihrem Profil nach typische systemtreue Liberale und keineswegs Revolutionäre, sondern Menschen, die sehr wohl wissen, wie das Regime funktioniert. Es wäre verfrüht, das aktuelle Geschehen in Belarus als Spaltung innerhalb der Eliten zu betrachten, aber: Solche Regime beginnen zusammenzubrechen, wenn sich Teile jener Elite abspalten, auf die sich die Diktatoren stützen.

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Jedes autoritäre Regime muss sich zur Stabilitätssicherung auf eine breite Basis in der Gesellschaft stützen; Lukaschenko selbst hat diesen Rückhalt jetzt geschmälert. Man darf das Volk nicht als „Völkchen“ bezeichnen, insbesondere dann, wenn der Wohlstand breiter Gesellschaftsschichten immer weniger garantiert wird. Allem Anschein nach stützt sich Lukaschenko jetzt allein auf die Sicherheitskräfte und die Bürokratie. Das ist keine allzu breite Basis, auch wenn der staatliche Sektor in Belarus sehr umfangreich ist. Doch auch dort sind Lebensstandard und Karriereaussichten in Gefahr.

Das nennt sich Lahme-Enten-Syndrom, wenn nämlich von einem Diktator das Signal ausgeht, dass er politisch handlungsunfähig ist. Erscheint er mit einem Katheter, ist das ein direkter Hinweis auf gesundheitliche Probleme. Für personalistische Regime ist es extrem wichtig, einen gesunden politischen Führer zu haben, der Tatkraft zeigt und angemessene Entscheidungen trifft. Das bedeutet eine Erleichterung für die Eliten, die ja wissen wollen, auf wen sie sich zu stützen und mit wem sie sich zu arrangieren haben.

Foto © Maxim S.

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