Bystro #18: Wie radikalisiert ist die tschetschenische Diaspora?

Nach den Attentaten von Dresden, Paris und Wien haben mehrere EU-Regierungschefs am 10. November beschlossen, härtere Maßnahmen gegen den islamistischen Terrorismus zu ergreifen. Im Zuge dieser Debatte rückt auch die tschetschenische Diaspora – der Pariser Attentäter hatte tschetschenische Wurzeln – wieder mehr in den Fokus der Öffentlichkeit: Wie stark ist sie radikalisiert? Ein Bystro in sieben Fragen und Antworten von Marit Cremer.

  1. 1. Der Attentäter von Paris, der den Lehrer Samuel Paty enthauptete, war Tschetschene. Das Bundesamt für Verfassungsschutz spricht von einem hohen Gefährdungspotenzial durch Islamisten aus dem Nordkaukasus. Wie verbreitet ist Islamismus in der tschetschenischen Diaspora

    Die tschetschenische Community ist sehr heterogen – wie auch andere Migrantengruppen und fast jede Gesellschaft. Über ganz Deutschland verteilt leben etwa 40.000 bis 50.000 Menschen tschetschenischer Herkunft, ein Teil von ihnen ist inzwischen eingebürgert. Die meisten von ihnen sind gut integriert und unauffällig. Lediglich eine winzige Minderheit lässt sich dem islamistischen Spektrum zurechnen, laut Bundesamt für Verfassungsschutz lebte 2019 eine „mittlere dreistellige Zahl“ von Islamisten aus dem gesamten Nordkaukasus in Deutschland. Von den 735 sogenannten islamistischen Gefährdern hatten 2019 insgesamt 35 Personen die russische Staatsangehörigkeit. 

  2. 2. Sie sagten, die tschetschenische Diaspora sei sehr heterogen? Inwiefern, wie äußert sich das?

    Für die Heterogenität der tschetschenischen Community spielen sowohl die Zeitpunkte der Einwanderung als auch das Alter der Eingewanderten eine Rolle: Die ersten Geflüchteten Anfang der 2000er Jahre waren noch überwiegend sowjetisch sozialisiert, und Religion hatte oftmals eine untergeordnete Bedeutung für ihre Identität. Nach dem Zerfall der Sowjetunion bekam die Religion in Tschetschenien selbst eine immer stärkere Bedeutung, was sich auch an den Einstellungen späterer Einwanderer in Westeuropa zeigte. Dabei hat Religion oft nur deklarativen Charakter, das Wissen um die Religion ist häufig eher gering. Es sind tendenziell die Kinder der Eingewanderten, die sich intellektuell mit Religion auseinandersetzen und sich für oder gegen die Ausübung einer Glaubenspraxis entscheiden.

  3. 3. Wo findet die Radikalisierung statt, so sie denn überhaupt stattfindet – tatsächlich erst in der Diaspora oder bereits im Heimatland? 

    Insgesamt ist die tschetschenische Diaspora in ihrer Struktur und Entwicklung vergleichbar mit anderen Migrantengruppen aus traditionellen Gesellschaften. Die erste Generation kam vor allem im Erwachsenenalter nach Deutschland. Ihr gelingt die gesellschaftliche Teilhabe eher weniger, insbesondere haben diese Menschen häufig Probleme, sich in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Zur zweiten Generation zählen Menschen, die nur wenige Lebensjahre in Tschetschenien verbracht haben und bereits in Deutschland sozialisiert wurden. Diese Kohorte findet sich oft wieder in der – für die Migrationsforschung klassischen – Auseinandersetzung mit Werten der Herkunfts- und denen der Aufnahmegesellschaft. Ein Teil dieser Kohorte distanziert sich weitgehend von den Werten der Herkunftskultur und lehnt insbesondere religiöse und gewohnheitsrechtliche (traditionelle) Gebote und Verbote ab, die sie als Eingriffe in ihre freien Entscheidungen empfindet. 

  4. 4. Aber es gibt auch Vertreter der zweiten Generation, die sich an traditionellen Werten orientieren?

    Ja. Ein Teil richtet seine Lebensführung ausdrücklich an den traditionellen Werten seiner Eltern und Großeltern aus, akzeptiert gleichzeitig aber die freiheitlich demokratische Grundordnung: Personen aus dieser Gruppe tolerieren beispielsweise voreheliche Partnerschaften ihrer Freunde, nehmen diese größeren Freiheiten für sich selbst jedoch nicht in Anspruch. 
    Ein anderer Teil dagegen versucht, es beiden Seiten – ihren traditionsbewussten Eltern und der westlich ausgerichteten Aufnahmegesellschaft – gleichermaßen recht zu machen. Dieser Anspruch ist aufreibend und birgt erhebliches Potential zu scheitern. 

  5. 5. Die Hinwendung zu einer radikalisierten Form des Islam ist also die Folge eines Wertekonflikts?

    Nicht zwangsläufig, aber in manchen Fällen führt der Wunsch, unbedingt zu beiden Seiten dazuzugehören und von beiden akzeptiert zu werden, zu der zweifelhaften Hinwendung zu einem dritten Wertesystem, das den anderen beiden übergeordnet wird. Tatsächlich manövrieren sich diese Menschen in ein weiteres Konfliktfeld hinein: Bis in die Perestroika-Zeit hinein bestand in der tschetschenischen Gesellschaft bei Auseinandersetzungen zwischen Personen ein Konsens über den Vorrang des Gewohnheitsrechts (Adat) vor dem islamischen Recht. Die Tschetschenienkriege haben diese Balance zerstört. Der Einfluss islamischer und islamistischer Strömungen aus dem arabischen Raum auf das Wertesystem der tschetschenischen Gesellschaft hat zu dessen Pluralisierung, aber auch zu Konkurrenz zwischen den Werteorientierungen geführt. Dabei kam es zu einem Kampf um die Deutungshoheit über die Frage, welches Wertesystem für alle Tschetschenen verbindlich sein sollte. Diese Auseinandersetzung wird bis heute mit harschen Mitteln in Tschetschenien geführt und spiegelt sich auch in der Diaspora wieder. Die Entscheidung für eine fundamentalistische Auslegung des Korans und eine daran anknüpfende Lebensführung erscheint dann als Ausweg aus dem konfliktbeladenen Zugehörigkeitsdilemma. Sie führt allerdings auch zu einem sozialen Ausschluss aus Teilen der tschetschenischen Community und der freiheitlich orientierten Mehrheitsgesellschaft. 

  6. 6. Was hindert manche Tschetschenen bei ihrer Integration in Westeuropa?

    Die meisten tschetschenischen Einwanderer sind gut integriert und sozial unauffällig. 
    Hinderlich bei der Integration können jedoch sowohl die Kriegserlebnisse sein als auch eine starke Orientierung an vorislamischen Traditionen und der Scharia, die zum Teil im Widerspruch zu den freiheitlichen Werten Europas stehen. Mitarbeiter*innen aus der Sozialarbeit beobachten ein hohes Gewaltpotential in tschetschenischen Familien. Eine Ursache hierfür dürfte in den unzureichend aufgearbeiteten Gewalterfahrungen seit Beginn des Ersten Tschetschenienkrieges liegen. Im Zusammenspiel mit Ohnmachtserfahrungen während des Asylverfahrens und mangelnder gesellschaftlicher Teilhabe entlädt sich diese Gewalt häufig an den Schwächsten in den Familien. 

    Angebote der Sozialarbeit werden nicht selten als Einmischung des Staates in private Angelegenheiten missverstanden. Viele nehmen außerdem die Fürsorgepflicht des Staates, insbesondere bei Kindeswohlgefährdung, als Angriff auf die tschetschenische Community insgesamt wahr. Problematisch für die Integration sind zudem die zumeist fehlende Akzeptanz der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, des Rechtes auf Selbstbestimmung, mithin aller Bereiche, die individuelle Lebensentscheidungen betreffen. Hingegen besteht innerhalb der Community eine hohe soziale Kontrolle, die das Ausscheren aus dem tschetschenischen Wertekanon verhindern soll und im Fall der Abweichung zum sozialen Ausschluss aus der Community führen kann.

  7. 7. Was müsste von seiten der Aufnahmegesellschaften passieren, um die Integration zu verbessern?

    Als Hindernis für die Integration in die Europäische Union ist zuallererst das Asylsystem der EU zu nennen. Die sich oft über Jahre hinziehende Unklarheit über eine dauerhafte Perspektive im Aufnahmeland führt neben zunehmenden gesundheitlichen Belastungen zu erheblichen Einschränkungen der gesellschaftlichen Teilhabe und im ungünstigsten Fall zum Rückzug aus der Gesellschaft. Sich wiederholende negative Erfahrungen mit Behörden, einhergehend mit dem Gefühl, in Deutschland nicht willkommen zu sein, tragen zu einem distanzierten Verhältnis zu europäischen Werten bei.

    Häufig lässt sich an den Biographien der Kinder ablesen, wann die Familie einen dauerhaften Aufenthaltstitel bekommen hat: Ab diesem Zeitpunkt findet plötzlich ein erheblicher Schub in der Sprachentwicklung und Leistungsfähigkeit statt. 

    Eine Verbesserung der Situation muss deshalb zunächst bei den Asylverfahren ansetzen. Die ersten Jahre in Deutschland sind entscheidend für eine gelingende Integration und dürfen nicht mit dem Warten auf Handlungsmöglichkeiten vertan werden. Neben den bestehenden zahlreichen Unterstützungsangeboten des Staates und der Zivilgesellschaft braucht es zudem auch eine gute Aufklärung über die Strukturen und Funktionsweisen des bundesrepublikanischen Gesellschaftssystems. Damit können Irritationen und Missverständnisse, die leicht zu einer Distanz zur Aufnahmegesellschaft führen können, vermieden werden.



*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

Text: Marit Cremer
Stand: 12.11.2020

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