Bystro #37: Ist das „Genozid-Gesetz“ in Belarus Geschichtsklitterung?

Belarus und seine Bevölkerung haben im Zweiten Weltkrieg immens gelitten: unter der Nazi-Besatzung zwischen 1941 und 1944, dem Holocaust, der Vernichtungspolitik und der sogenannten Partisanenbekämpfung sowie unter den Schlachten selbst. Insgesamt gab es auf dem Territorium der damaligen BSSR mehr als zwei Millionen Opfer. Ein Gesetz, das der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko Anfang 2022 unterschrieben hat, stellt die Leugnung des „Völkermordes am belarussischen Volk“ nun unter Strafe – es drohen bis zu fünf Jahre Haft, bei Wiederholung bis zu zehn. „Die Umsetzung des Gesetzes wird dazu beitragen“, verlautbarte die staatliche Nachrichtenagentur Belta, „dass die Ergebnisse des Großen Vaterländischen Krieges nicht mehr verfälscht werden und der Zusammenhalt der belarussischen Gesellschaft gewahrt bleibt.“ 

Was hat es mit dem Vorhaben auf sich? Schon im Vorfeld ist um das umstrittene Gesetz unter Historikern eine Debatte entbrannt. Was wird überhaupt unter dem „belarussischen Volk“ verstanden? Ist dieses weitreichende Gesetz selbst ein Versuch, Geschichte zu verfälschen? Geht es um echte Aufarbeitung oder darum, Geschichte zu instrumentalisieren und abweichende Meinungen im Keim zu unterdrücken? 

Diese und andere Fragen beantwortet der belarussische Historiker Alexander Friedman in einem Bystro.

1. Am 5. Januar 2022 hat Alexander Lukaschenko das Gesetz „Über den Völkermord am belarussischen Volk“ unterzeichnet. Worum geht es darin genau?

In diesem Gesetz wird die offizielle Sicht der belarussischen Führung auf den Zweiten Weltkrieg und die NS-Verbrechen auf dem Territorium von Belarus formuliert. Damit wurde politisch beschlossen, diese Verbrechen zum „Genozid am belarussischen Volk“ zu erklären. Die Verabschiedung des Gesetzes wurde von langer Hand vorbereitet und kam nicht überraschend. Der Zweite Weltkrieg ist sowohl in Putins Russland als auch in Lukaschenkos Belarus ein historisches Schlüsselthema und wird seit Langem für politische, ideologische und propagandistische Zwecke instrumentalisiert. In der aktuellen Situation – nach den Protesten gegen das Lukaschenko-Regime im Jahr 2020 und mit Blick auf Russlands Krieg gegen die Ukraine – dient es dazu, die Bevölkerung in der Konfrontation mit den USA und der EU um die Diktatoren zu scharen.  
Das Gesetz hat repressiven Charakter und zwingt der Gesellschaft ein Narrativ auf, das seit der Sowjetzeit bekannt ist und jetzt an die Bedürfnisse der Lukaschenko-Diktatur angepasst wurde, als verzerrtes Schwarz-Weiß-Bild der Welt: hier das „Gute“ – die UdSSR und ihr geistiges Erbe in Gestalt der Russisch-Belarussischen Union –, dort das „Böse“ – die Nazis und der „kollektive Westen“ als ihr geistiges Erbe. Im Großen Vaterländischen Krieg, so heißt es, hat das Böse versucht, das Gute zu vernichten und im 21. Jahrhundert wiederholt sich nun die Geschichte.

 

2. Was wird im Gesetz unter der Bezeichnung „belarussisches Volk“ verstanden?

Bei der Ausarbeitung des Gesetzes hat das Lukaschenko-Regime drei Formulierungen verwendet: Genozid „am belarussischen Volk“, „am Volk von Belarus“ und sogar: „an den Völkern von Belarus“. Die beiden letzten, neutraleren Versionen sind verworfen worden, weil beschlossen wurde, den Akzent auf das „belarussische Volk“ zu legen und praktisch die gesamte Bevölkerung der Vorkriegs-BSSR, die in ethnischer, religiöser und sprachlicher Hinsicht sehr vielfältig war, darin aufgehen zu lassen. Dieser Begriff wird den verschiedenen Opfergruppen, die es gab, auch sonst nicht gerecht: den ermordeten Juden im Holocaust und den Getöteten in der Zivilbevölkerung, den Gefallenen an der Front oder den Opfern aus dem Feldzug der Nazis gegen die Partisanenbewegung, um nur einige zu nennen.
Das Gesetz wurde ganz bewusst so gestaltet, um der Bevölkerung von Belarus das Verständnis des Begriffs zu erleichtern und dem „Genozid am belarussischen Volk“ durch eine höhere Opferzahl mehr Gewicht zu verleihen. Der Begriff „Genozid“ allein reicht Lukaschenko und seinem Umfeld nicht aus. Er braucht maximale Verlustzahlen, um die belarussische Bevölkerung und die Weltgemeinschaft zu beeindrucken. Auch den Entschädigungsforderungen, die voraussichtlich an Deutschland auf Grundlage des neuen Gesetzes gestellt werden, soll dieser Begriff zusätzliches Gewicht verleihen. 
 

3. Auf welchen Zeitraum zielen das Gesetz und somit das Verständnis der Begriffswahl „am belarussischen Volk“ denn genau ab?

Das Gesetz bezieht sich auf den Zeitraum von 1941 bis 1951. Sowjetische Verbrechen im westlichen Belarus werden dabei aus ideologischen Gründen ausgeklammert. Außerdem wird die Nachkriegszeit bewusst einbezogen, um die damaligen polnisch-belarussischen Konflikte zum Thema zu machen. Schließlich gehört Polen in den Propaganda-Narrativen des Regimes heute zu den westlichen Staaten, die 2020 der offiziellen Erzählung nach über die Proteste einen Putsch gegen das Lukaschenko-Regime initiieren wollten. 
In dem Gesetz werden alle Bürger der Sowjetunion, die sich im genannten Zeitraum auf dem Territorium von Belarus aufgehalten haben, zum „belarussischen Volk“ gezählt und dabei nivelliert, darunter auch Juden und Roma und auch Zuwanderer aus anderen Sowjetrepubliken. Im November 2021 hat Lukaschenko in einem Interview mit der BBC erklärt, Belarussen und Juden hätten während des Krieges das größte Leid erfahren. Aus seinen Worten geht klar hervor, dass er jüdische Menschen nicht als Teil des belarussischen Volkes ansieht; er zieht bewusst eine Grenze zwischen den Juden in Belarus und den Belarussen. Das Widersprüchliche daran: Das hindert ihn nicht, die jüdischen Opfer zu Opfern des „Genozids am belarussischen Volk“ zu erklären. Das Lukaschenko-Regime braucht zur Rechtfertigung die größte Zahl an Opfern, die irgend denkbar ist.
 

4. In Bezug auf den Holocaust wird also die sowjetische Tradition der Legendenerzählung zum „Großen Vaterländischen Krieg“ übernommen?

Der Einfluss der sowjetischen Tradition ist ganz offensichtlich. Die belarussische Führung war es seit jeher gewohnt, jüdische Menschen als solche weder zu erwähnen noch wahrzunehmen und verfolgt im Wesentlichen weiterhin diesen Kurs. Zu Sowjetzeiten wurde die Herkunft der jüdischen Opfer vertuscht, indem sie als „(friedliche) sowjetische Bürger“ bezeichnet wurden. Jetzt werden sie zum „belarussischen Volk“ erklärt.
In der sowjetischen Erinnerungskultur kam der Holocaust nur am Rand vor. Und in der postsowjetischen Zeit galt er in Belarus als „jüdisches“ Thema. Die jüdischen Opfer galten als „unsere“, aber ihr Schicksal wurde als Tragödie der „anderen“ betrachtet. Nun hat man sich der jüdischen Opfer „erinnert“ – aber nicht mit Blick auf ihre Herkunft, sondern um sie im „belarussischen Volk“ aufgehen zu lassen. 
Auf die Juden als solche besinnt sich das Lukaschenko-Regime nur, wenn es Israel oder den USA Avancen machen will. Die Verschwörungstheoretiker in den herrschenden Kreisen von Belarus glauben offenbar, dass die (westliche) Welt von Juden beherrscht werde und sie dieser vermeintlichen „Tatsache“ Rechnung tragen müssten.
 

5. Ist diese Form des Antisemitismus ein fester Bestandteil in der Propaganda Lukaschenkos?

In Belarus ist die Meinung verbreitet, es gebe dort praktisch keinen Antisemitismus und dass es ihn auch nie gegeben habe. Das stimmt natürlich nicht. Die Geschichte des Antisemitismus in Belarus ist noch sehr wenig erforscht.
Und obwohl es nur noch wenige Juden im Land gibt, scheut die staatliche Propaganda nicht vor Antisemitismus zurück. Er taucht auf, sobald oppositionelle Journalisten und Intellektuelle oder ukrainische und westliche Politiker mit jüdischen Wurzeln das Regime attackieren. Dabei ist der Einfluss antisemitischer Narrative aus Russland in Belarus ziemlich stark zu spüren. Lukaschenko selbst hat keine Hemmungen, sich – offen oder verdeckt – antisemitisch zu äußern. Ein Beispiel dafür: Als Wolodymyr Selensky Russlands Angriff auf die Ukraine mit dem Angriff Nazideutschlands auf die UdSSR verglich, sagte Lukaschenko, der ukrainische Präsident, „der seiner Nationalität nach Jude ist“, solle sich bei diesem Thema „bedeckt halten und schweigen“ und behauptete, Belarussen seien bei der Verteidigung von Juden in der Ukraine und in Belarus gefallen.
Für Lukaschenko ist Selensky also in erster Linie ein „Jude“, der nicht das Recht hat, über die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs zu sprechen und den Belarussen noch dankbar dafür sein muss, dass sie sein Volk vor dem Genozid der Nazis gerettet hätten. 

 

6. Es gab seit 2020 auch zahlreiche Repressionen gegen Historiker und Wissenschaftler. Steht dieses  Vorgehen im Zusammenhang mit diesem Gesetz?

Das Lukaschenko-Regime braucht eigentlich keine speziellen Gesetze, um Historiker und Wissenschaftler zu verfolgen. Mit dem jetzt verabschiedeten Gesetz wird allerdings tatsächlich ein neuer Straftatbestand geschaffen: die öffentliche Leugnung des „Genozids am belarussischen Volk“. Es drohen bis zu zehn Jahre Haft. 
Es kann und wird höchstwahrscheinlich sowohl gegen Wissenschaftler als auch gegen den Normalbürger verwendet werden. Man darf sich da nichts vormachen. Es gab schließlich auch schon Anklagen wegen „Rehabilitierung des Nationalsozialismus“, wie beispielsweise gegen den belarussischen Journalisten Andrzej Poczobut von der polnischen Gazeta Wyborcza, der sich seit April 2021 in Haft befindet.

 

7. Wie reagiert die im Land verbliebene Wissenschaft auf das Gesetz?

Als über das Gesetz beraten wurde, gab es tatsächlich Diskussionen, allerdings außerhalb von Belarus. Schon vorher hatten es Historiker – besonders die, die sich mit Stalins Verbrechen und den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs befassten –, in der Ära Lukaschenko schwer und waren immer Repressionen ausgesetzt. Jetzt bleiben den Experten für Kriegsgeschichte, die sich noch in Belarus befinden, im Grunde noch vier Optionen: Sie können sich den neuen Begriff zu eigen machen und propagieren, sei es aus Überzeugung oder aus Opportunismus; sie können ihren Forschungsschwerpunkt auf weniger brisante Themen verlagern; sie können ihren Beruf aufgeben oder das Land verlassen. Offene Kritik an dem aufgezwungenen Begriff kann schwerwiegende Folgen bis hin zu Gefängnisstrafen nach sich ziehen. 

8. Mit dem Gesetz geht es also alles andere als um Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen? 

Die Erforschung und Aufarbeitung der Kriegsereignisse – einschließlich eines so schwierigen Themas wie der Beteiligung der lokalen Bevölkerung an den NS-Verbrechen gegen die Juden – kann das Anliegen einer demokratischen Gesellschaft sein, die Wesen, Ausmaß, Ursachen und Folgen der Gräueltaten begreifen möchte. Eine solche Gesellschaft will historische Erfahrungen nutzen, um sich weiterzuentwickeln. Das diktatorische Regime Lukaschenkos hat dieses Anliegen nicht und kann es auch gar nicht haben. Auf offizieller Ebene behandelt man die Geschichte in Belarus lieber nach dem Grundsatz „Geschichte ist in die Vergangenheit gekippte Politik“, es geht um die angesprochene Instrumentalisierung. Und in dieser Hinsicht nutzt Lukaschenko Geschichte auch, um seinen Machterhalt zu sichern. Das neue Gesetz dient dazu, Dissens schon im Ansatz zu verhindern, die eigenen Vorstellungen von der Vergangenheit durchzusetzen und damit die Position des Regimes zu festigen.

 

*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

Text: Alexander Friedmann 
Übersetzer: Anselm Bühling
Veröffentlicht am: 18. Mai 2022

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