Bystro #43: Wird Belaja Rus zur Einheitspartei im System Lukaschenko?

Belaja Rus, deren Name sich auf die historische Bezeichnung belarussischer Gebiete bezieht, war ursprünglich als eine angebliche soziale Bewegung für die Staatspolitik Alexander Lukaschenkos gegründet worden. Nun hat sie sich als Partei konstituiert. 

Warum dieser Schritt, ausgerechnet in diesem Jahr? Soll sie als Einheitspartei eine Rolle in der Umstrukturierung des belarussischen politischen Systems spielen? Wer ist ihr Vorsitzender? Und ist Lukaschenko wirklich daran interessiert, seine Macht zu teilen? Diese und weitere Fragen beantwortet der Politikwissenschaftler Kamil Kłysiński.

1. Wie kam es zur Gründung von Belaja Rus?

Im Unterschied zu vielen anderen undemokratischen Machtapparaten stützt sich das belarussische Modell nicht auf eine Partei. Die Entwicklung eines Parteiensystems hat Alexander Lukaschenko in den 1990er Jahren bewusst unterbunden. Er fürchtete, ein solches System könnte die Position der belarussischen Nomenklatura zu sehr stärken, vor allem die mittleren und hohen Beamten in zentralen Regierungsbehörden und die lokalen Führungskräfte. Da die staatlichen Funktionäre ohne institutionelle Repräsentation ihre (Gruppen)Interessen nicht artikulieren und schon gar nicht voranbringen konnten, blieben sie vom Präsidenten als faktisch einzigem Machtzentrum im Staat abhängig. Im Bewusstsein ihrer schwachen Stellung gründete die belarussische Beamtenschaft 2004 in Grodno die Bewegung Belaja Rus. Nachdem sie überall im Land Strukturen aufgebaut hatte, wurde sie 2007 schließlich als gesellschaftliche Organisation registriert. Dabei machten ihre Gründer von Anfang an keinen Hehl daraus, dass sie letztlich eine politische Partei etablieren wollten, die den Präsidenten und seine Politik bedingungslos unterstützt.

2. Welche Rolle spielt die Organisation im politischen System von Belarus?

Die Belaja Rus entwickelte sich rasch zur größten und am stärksten verankerten gesellschaftlichen Organisation der belarussischen Nomenklatura. Damit war und ist sie eine Stütze des belarussischen Herrschaftssystems. Ihre circa 200.000 Mitglieder werden in sämtliche Wahlkommissionen berufen, von den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen bis hin zu den Kommunalwahlen. Zugleich werden die personellen Ressourcen und die Büroräume der Organisation für die Wahlkampagnen regimetreuer Kandidaten genutzt, insbesondere zur regelmäßigen Wiederwahl Lukaschenkos. Ein erheblicher Teil der Abgeordneten des belarussischen Parlaments gehört außerdem der Belaja Rus an, auch wenn dies nicht offiziell bekanntgemacht wird. Zudem haben die meisten Mitglieder gleichzeitig Staatsämter inne, was das Potenzial der Organisation noch weiter stärkt. Da auch regierungstreue Künstler und Wissenschaftler dazu gehören, kann sie viele soziale Projekte umsetzen, die in den staatlichen Medien beworben werden. Sie zielen vor allem auf gesellschaftliche Gruppen ab, die der Regierung besonders wichtig sind, etwa Veteranen des Zweiten Weltkriegs, Kinder und Jugendliche oder Bauern.

3. Wer ist Oleg Romanow, der Vorsitzende von Belaja Rus?

Oleg Romanow wurde im Juni 2022 zum Vorsitzenden von Belaja Rus ernannt und ist bereits der dritte Leiter seit der Gründung. Anders als seine Vorgänger Alexander Radkow und Gennadi Dawydko hat Romanow bis dahin keine hohe Position in der Machthierarchie innegehabt. Er ist Professor für Philosophie und war Rektor der Universität Polazk, die nicht zu den führenden belarussischen Hochschulen gehört. In Polazk blieb er als radikaler Vertreter der imperialen russischen Ideologie der Russki Mir im Gedächtnis, der hart gegen die meisten pro-belarussischen Hochschullehrer vorging. Er sorgte persönlich für die Entlassung regimekritischer Beschäftigter und bevorzugte diejenigen, die sich nach Russland orientierten und sogar die kulturelle und nationale Identität der Belarussen leugneten. Dass ein so rückhaltloser Befürworter der Annäherung an Russland zum Vorsitzenden der Belaja Rus aufsteigen konnte, hat vor allem mit der politischen Gesamtkonstellation zu tun, in der sich Belarus seit 2020 befindet. In diesem Jahr kam der Dialog mit dem Westen völlig zum Erliegen. Einzig von Russland, seinem zentralen Wirtschafts- und Handelspartner und politischen wie militärischen Verbündeten, wurde Lukaschenko weiterhin unterstützt.

4. Warum hat Lukaschenko eine Einheitspartei immer abgelehnt?

Es kennzeichnet Lukaschenkos Regierungsstil, dass er den Anspruch der Nomenklatura auf institutionelle Repräsentation abblockt. Seit seinem Amtsantritt als Präsident 1994 hat er immer wieder betont, er wolle direkt mit den Bürgern kommunizieren, ohne politische Parteien als seiner Ansicht nach unnötige „Zwischenglieder“. Dies ist ein ideologisches Grundmerkmal des belarussischen Autoritarismus, in dem der Präsident als wichtigster (wenn nicht einziger) Garant für die Sicherheit der Bürger gilt. Nichts fürchtet Lukaschenko mehr als den Aufstieg einer im Staatsapparat verankerten Herrschaftspartei, die in der Lage wäre, die Interessen der Elite zu artikulieren und zu fördern. Denn eine solche Partei könnte seine Position im Staatsgefüge auf lange Sicht schwächen. Deshalb hat sich in Belarus während Lukaschenkos fast dreißigjähriger, ununterbrochener Regierungszeit kein Parteiensystem entwickelt. Die meisten Abgeordneten im – ohnehin unbedeutenden – Parlament sind parteilose Vertreter gesellschaftlicher Organisationen. Auch die Belaja Rus trat als solche auf.

5. Warum fand die Transformation von Belaja Rus in eine Partei ausgerechnet in diesem Jahr statt?

Die Belaja Rus hat wiederholt versucht, sich als politische Partei aufzustellen, stieß dabei aber jedes Mal auf Lukaschenkos Widerstand. Der Gründungskongress am 18. März 2023 war nun offenbar der entscheidende Wendepunkt in ihrer fast sechzehnjährigen Geschichte. Im Zuge der laufenden Rekonstruktion des belarussischen politischen Systems konnte sich Belaja Rus als Partei konstituieren. Ende 2022 sorgte Lukaschenko dafür, dass nur mehr Parteien anerkannt werden, die die politische Strategie des Regimes akzeptieren und kündigte die Auflösung aller noch zugelassenen Oppositionsparteien an. Im Februar 2023 wurde dann ein Verifikationsverfahren auf Basis der neuen Gesetze initiiert. Für den Frühling 2024 ist der erste Kongress der Allbelarussischen Volksversammlung angesetzt, die im Zuge der Verfassungsänderung von 2022 als neues Regierungsorgan eingeführt wurde. Diese Pseudo-Volksvertretung soll aus Abgeordneten bestehen, die unter anderem von einzelnen politischen Gruppierungen ernannt werden. Daraus erklärt sich die Notwendigkeit, ein der Regierung bedingungslos untergeordnetes Parteiensystem zu schaffen.

6. Welche Rolle wird die Partei im Machtgefüge von Belarus spielen?

In den letzten zwei Jahren hat Lukaschenko mehrfach öffentlich angedeutet, dass er das chinesische Modell bevorzugen würde, bei dem der Präsident nicht vom Volk, sondern von einer Delegiertenversammlung gewählt wird. Dies ist offenbar die Folge der Massenproteste gegen die abermalige Fälschung der Ergebnisse nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020, die er zweifellos als traumatisch erlebt hat. Bislang versichert die Regierung, das gegenwärtige Verfahren zur Wahl des Staatsoberhaupts werde beibehalten. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass es irgendwann zu einer weiteren Verfassungsänderung kommt, bei der die Allbelarussische Volksversammlung mit zusätzlichen, entscheidenden Vollmachten ausgestattet wird. Allerdings hat Lukaschenkos Begeisterung für das chinesische Modell ihre Grenzen. Er möchte nach wie vor keine politische Partei hochkommen lassen, die ähnlich erfolgreich agieren könnte wie in China und in anderen autoritären Systemen, etwa im Nachbarland Russland. Bei seiner jährlichen Rede zur Nation am 31. März 2023 hat er solchen Bestrebungen eine entschiedene Absage erteilt. Die Belaja Rus wird somit – trotz der Ambitionen ihrer Vertreter – im sterilen neuen System nur eine regimetreue Partei unter mehreren sein.  

 

Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

Text: Kamil Kłysiński
Übersetzung: Anselm Bühling

Veröffentlicht am 02.05.2023

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