Bystro #29: Wurde der Protestwille der Belarussen gebrochen?

Der Straßenprotest in Belarus ist in diesem Jahr fast vollständig zum Erliegen gekommen. Die Machthaber um Alexander Lukaschenko gehen dennoch weiterhin mit scharfen Repressionen gegen jeglichen vermeintlichen Widerstand vor. Nach wie vor werden Journalisten, Aktivisten oder einfache Bürger festgenommen, Medienunternehmen oder NGOs liquidiert, Telegram-Kanäle als extremistische Vereinigungen eingestuft. Zudem laufen zahlreiche Strafverfahren. 

Zusammen mit anderen Wissenschaftlern des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) hat Félix Krawatzek untersucht, inwieweit der Protestwille der Belarussen weiterlebt, wer nach dem Jahr der Demonstrationen die aktuellen Machthaber unterstützt und wie sich die Belarussen eine Lösung für die tiefgreifende Krise in ihrem Land vorstellen. Die Studie baut auf einer Umfrage aus dem vergangenen Jahr auf. Ein dekoder-Bystro* in sechs Fragen und Antworten.

1. Ist der Protestwille der Belarussen in diesem Jahr durch die massiven Repressionen vollends gebrochen worden?

Gebrochen ist der Protestwille in der belarussischen Bevölkerung weiterhin nicht. In unserer Umfrage vom Juni 2021 geben knapp 13 Prozent an, dass sie bereit sind, weiterhin an Protesten teilzunehmen, beziehungsweise in Zukunft zu protestieren. Dass momentan im Land fast keine Proteste mehr zu sehen sind, liegt zum einen an den massiven und anhaltenden Repressionen und Festnahmen, aber auch daran, dass politischer Wandel durch die Proteste ausgeblieben ist. Es ist natürlich schwer abzuschätzen, ob diese Protestbereitschaft tatsächlich nochmal zu einer massenhaften Mobilisierung führen wird, aber der Wert ist ein weiteres Indiz für die angespannte Situation im Land. Und er deckt sich ziemlich genau mit dem Anteil derer, die an den Protesten im Nachgang zur Wahl teilgenommen haben. Wir sehen also einen harten Kern der Bevölkerung, der sich durch die massiven Repressionen nicht hat einschüchtern lassen und stattdessen weiterhin das persönliche Risiko in Kauf nimmt, welches mit öffentlichem Widerstand gegen das Regime verbunden ist. In den Umfragen wird aber deutlich, dass sich den Protesten gegenwärtig keine neuen Personen anschließen. Die meisten Protestteilnehmer geben an, dass sie unmittelbar im August aktiv geworden sind, ein großer Teil auch schon im Vorfeld der Wahlen. Jenseits der aktiven Protestteilnahme ist aber auch noch zu betonen, dass knapp die Hälfte der von uns Befragten die Proteste im Nachgang zur Präsidentschaftswahl als wichtig erachtet. 

2. Schon 2020 ließ sich ein starker Vertrauensverlust gegenüber staatlichen Akteuren und Institutionen feststellen. Wie sieht es damit heute aus?

Einen deutlichen Vertrauensverlust in Lukaschenko und das gesamte staatliche Gefüge hat es bereits vor der Wahl gegeben, insbesondere unter jungen Menschen, die in einer Umfrage im Juni 2020 beispielsweise zu drei Vierteln angaben, dass sie dem Präsidenten oder den Sicherheitskräften nicht trauen. Für diesen Vertrauensverlust war die Entscheidung des Präsidenten, dem Coronavirus mit Spott und nicht mit Einschränkungen des öffentlichen Lebens zu begegnen, ein treibender Faktor. 
Das Vertrauen bleibt bis zum gegenwärtigen Stand gering, wobei es sich aber auf diesem geringen Niveau vorerst stabilisiert hat. Im Dezember 2019 gaben 45 Prozent an, dass sie dem Präsidenten überhaupt nicht vertrauen, im Juni 2021 ist dieser Wert auf 41 Prozent gesunken. Dieser leicht gesunkene Wert zeigt jedoch nicht automatisch an, dass Menschen dem Präsidenten nun mehr vertrauen, stattdessen steigt der Anteil derer, die keine Antwort auf diese Frage geben. Solche Nicht-Antworten sind schwer zu interpretieren, da sie zum einen ein tatsächliches Gefühl der Orientierungslosigkeit ausdrücken können, aber auch andere Aspekte: beispielsweise eine Sorge darüber, dass eine ehrliche Antwort zu Problemen mit dem Staat führen könnte. Darüber hinaus ist der Effekt der kontinuierlichen Propaganda nicht auszuschließen – in staatstreuen Medien wird Lukaschenko als Garant von Stabilität und Ordnung gefeiert, die Opposition hingegen diffamiert.

3.  Wie groß ist die Zahl derer, die Lukaschenko nach wie vor unterstützen und was sind das für Leute?

Dieses Gesamtstimmungsbild einzufangen ist tatsächlich nicht leicht, da man die Unterstützung für das Regime nicht allein auf die Frage des Vertrauens in den Machtinhaber reduzieren sollte. Es ist insofern notwendig, eine Reihe an Antworten auf soziale und politische Fragen zu kombinieren und zu gewichten. Eine derartige Analyse hat gezeigt, dass knapp ein Drittel der Bevölkerung als starke oder moderate Unterstützer des Regimes einzustufen sind. Besonders relevant ist hierbei der Unterschied zwischen Männern und Frauen. Letztere drücken ihre Unterstützung für das Regime deutlich eher aus in Belarus. Darüber hinaus zeigt sich in der Umfrage, dass ältere Menschen eindeutig stärker polarisierte Meinungen haben. Ein Teil der älteren Bevölkerungsgruppen zeigt eine stärkere Zustimmung, während ein anderer Teil deutliche Ablehnung zeigt. Jüngere Menschen sind hingegen überwiegend als moderat kritisch einzustufen. Darüber hinaus bleiben Faktoren wie Religiosität, ein geringerer Bildungsstand sowie höheres Einkommen relevante Indikatoren um zu verstehen, wer das aktuelle System unterstützt.

4. Wer unterstützt nach wie vor die Proteste? Und wie beurteilen die Menschen die Oppositionsbewegung, die ja mittlerweile fast vollständig vom Ausland aus agieren muss?

In der von uns befragten Bevölkerung hat sich die Einstellung zu den Protesten im Vergleich zum Dezember 2020 nicht grundlegend verschoben. 28 Prozent stimmen den Protesten vollständig zu, 18 eher und 20 wissen nicht, wie sie auf die Frage antworten sollen.
Getragen – und unterstützt – werden die Proteste im Nachgang der Wahl von einer recht diversen Gruppe, wenn man nach dem Alter der Befragten geht. In unserer Stichprobe der 16- bis 64-Jährigen gibt es in jeder Altersgruppe Teilnehmer an den Protesten, wobei sich eine minimal höhere Beteiligung der 16- bis 24-Jährigen feststellen lässt. 
Deutlicher ist das Bild, wenn es um den Bildungsstand geht: Ein höherer Bildungsstand ist ein starker Indikator für eine Protestteilnahme. Auffallend ist noch die Rolle von Wohlstand in Verbindung mit dem Wirtschaftszweig, in dem die Befragten tätig sind. Personen, die im privaten Sektor über eine höhere Kaufkraft verfügen, haben seltener an Protesten teilgenommen als ceteris paribus Personen mit geringerer Kaufkraft. Mit Blick auf die Proteste ähneln die Ansichten von wohlhabenderen Personen in der Privatwirtschaft den Ansichten von Menschen, die im Staatssektor beschäftigt sind.
Für die gesamte Bandbreite der oppositionellen Strukturen lässt sich kein eindeutiges Stimmungsbild ermitteln. Bei den Vertrauenswerten gegenüber dem Koordinierungsrat oder dem Team um Swetlana Tichanowskaja geben mehr als ein Fünftel an, dass sie hier nicht antworten können. Die Werte sind noch höher, wenn wir nach der Partei Razam fragen (60 Prozent). Unter denjenigen, die überhaupt eine Antwort abgeben, überwiegt das Misstrauen gegenüber den Strukturen der Opposition. 

5. Was kann man zu den gesellschaftlichen Knackpunkten oder Brüchen sagen, die im Zuge der Proteste offenbar geworden sind? 

Die Proteste haben die Fronten innerhalb der Gesellschaft verhärtet. Wir sehen dies auf eindrückliche Art in den offenen Antworten. Dort wird besonders deutlich, wie sehr die Sichtweisen auf die jüngsten Ereignisse auseinandergehen. Knapp 50 Prozent schreiben hier, dass die Proteste ihrer Meinung nach zu nichts geführt und stattdessen die Beziehungen zum Staatssystem und die wirtschaftliche Situation verschlechtert sowie die Staatsgewalt entfesselt hätten. Auf der anderen Seite haben wir Umfrageteilnehmer, die positiv hervorheben, dass die Proteste die belarussische Nation zum Erwecken gebracht, soziale Kohäsion befördert oder internationale Aufmerksamkeit generiert hätten. 

6. Wie soll die Krise in Belarus gelöst werden? Hat die Umfrage dazu neue Erkenntnisse geliefert?

Mittlerweile wünschen sich etwas mehr als die Hälfte der Menschen Neuwahlen, wobei diese Sicht von Dezember 2020 bis Juni 2021 sogar zugenommen hat. Stark kontrollierte Neuwahlen könnten somit eine Möglichkeit für die Machthaber sein, den gegenwärtigen Frust über die Missstände anzugehen, auch wenn sie natürlich immer ein unkalkulierbares Risiko beinhalten. Zudem besteht der Wunsch nach einer Verfassungsreform weiterhin fort. Diese Reform wurde mittlerweile vom Staat initiiert, selbstredend mit dem Ziel, die gegenwärtigen Zustände abzusichern und nicht etwa zu liberalisieren.
Mit Blick nach vorne lässt sich feststellen, dass sich die Menschen in Belarus durchaus mehr politische Beteiligung oder sich beispielsweise auch eine unabhängig agierende Justiz wünschen. Die wirtschaftlichen Sorgen bleiben jedoch ein überragender Aspekt, was sich auch in den Erwartungen an das Regierungshandeln für die unmittelbare Zukunft widerspiegelt. Die allgemeine Verbesserung des Lebensstandards sowie eine Verbesserung des Gesundheitssystems werden hier am häufigsten genannt. Denn auch wenn die belarussische Wirtschaft aktuell nicht am Boden liegt: Die langfristige Stabilität ist bei ausbleibenden strukturellen Reformen bestimmt nicht sichergestellt.

 

*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

Text: Félix Krawatzek
Veröffentlicht am: 01. November 2021

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