4. Advent: Bunin, 10. Band

Advent, Advent auf dekoder: Jeden Adventssonntag zünden wir hier zwar kein Kerzchen an, aber Gnosenautoren und Klubmitglieder geben ausgesuchte Geschenk-, Lese- oder einfach Kulturtipps. 

Am vierten Advent widmet sich Thomas Wiedling, Klubmitglied und Literaturagent, Iwan Bunin und dem Phänomen der Neuübersetzung von Klassikern – gut nachzuerleben bei den diesjährig verschärften Bedingungen unterm Weihnachtsbaum. Ein Lockdown-tauglicher Geschenktipp, zu bestellen beim Verlag, in der Buchhandlung Ihres Vertrauens oder bei Ihrem lokalen Online-Händler.

Die Bunin-Ausgabe, die im Dörlemann-Verlag erscheint, ist etwas Besonderes: Sie präsentiert das Werk chronologisch, beginnt jedoch mit einer Ausnahme. Der schmale Eröffnungsband Ein unbekannter Freund (2003) setzt quasi mitten im Werk Bunins ein, mit einer einzigen Erzählung von 1923 sowie Bunins Eindrücken der Nobelpreisverleihung von 1933. Außerdem ist dieser Band noch nicht von Dorothea Trottenberg übersetzt wie alle folgenden, sondern von Swetlana Geier, die zu einer ganz anderen Generation von Literaturübersetzerinnen zählt. Als wolle diese Bunin-Ausgabe gleich zu Anfang selbst vorführen, dass Klassiker für jede Generation neu übersetzt werden sollten.

Die Stafette wird mit Band 2 (2005) übergeben, Bunins Revolutionstagebuch von 1918/19 Verfluchte Tage. In der editorischen Reihenfolge eine erneute, aber freilich würdige Ausnahme und ein nötiger Paukenschlag, denn diese fast berühmteste Publikation Bunins ist in Trottenbergs Deutsch eine Erstübersetzung. So wie in den Folgebänden viele Erzählungen Bunins zum allerersten Mal auf Deutsch erklingen. Das ist eine weitere Besonderheit dieser Bunin-Ausgabe.

Trottenberg übernimmt den Übersetzungsstab von Geier, doch sie übernimmt nicht Geiers Ton. Sie schlägt einen eigenen an, der aufs Erste gar nicht so geschmeidig zu klingen scheint wie bei Geier. Und hier sind wir bei der nächsten Besonderheit dieser Ausgabe: Sie lässt den Leser nicht nur über diese wunderbaren Übersetzungen staunen, ganz egal, ob von Geier oder Trottenberg. Sondern sie lässt den Leser auch über eigene Lese- und Hörgewohnheit staunen. Wer die russische Literatur liebt, dessen Lesegehör hat sich meist an den großen russischen Klassikern gebildet. Im Russischen werden Erzählungen „kleine Prosa“ genannt im Gegensatz zur „großen Prosa“ des Romans. Und nun kommt mit hundert Jahren Verspätung diese großartige Bunin-Ausgabe daher mit ihrer „kleinen“ Prosa und flüstert ins Ohr: „Vergiss, woran du dich bisher geschult hast, vertraue mir. Ich will dich nicht umschulen, doch ich will dir die seltene Gelegenheit geben, nochmal neu an und mit mir zu wachsen.“

Und noch etwas ganz Besonderes an dieser Bunin-Ausgabe: Jeder einzelnen Textübersetzung liegt quasi die russische Urfassung, möglichst nah am Entstehungs- oder Erstveröffentlichungszeitpunkt, zugrunde – und nicht spätere Bearbeitungen durch Bunin. So wie die gesamte Bunin-Ausgabe bei Dörlemann – mit den genannten Ausnahmen – Band für Band Bunins Schaffensjahren und -perioden chronologisch folgt und nicht der Veröffentlichungsreihenfolge durch Bunin selbst. Und das erlaubt eine buchstäblich atemberaubende Lektüre, ähnlich dem Nacheinanderhören nach opus-Zahl und Nummerierung von allen Streichquartetten eines Komponisten (um im Vergleich mit einer „kleinen“ Form zu bleiben). Bei Schriftstellern sind opus-Zahlen unüblich, doch bei der Dörlemann-Ausgabe helfen die Jahreszahlen außen auf den Bänden. 
Wer zum ersten Mal zu Bunin greift, darf aber – ausnahmsweise – gern mit dem neu erschienenen zehnten Band Leichter Atem. Erzählungen 1919 beginnen. Darin fällt der Übersetzerin das Atmen ganz besonders leicht. Und dem Leser das Versprechen, danach gleich von ganz vorne anzufangen mit dem ganzen Bunin.


Thomas Wiedling vertritt als Literaturagent eine Vielzahl russischer Autoren außerhalb Russlands, darunter auch – seit einer komplizierten Klärung von Bunins Rechtsnachfolge vor einigen Jahren – das Werk von Iwan Bunin außerhalb Russlands und Frankreichs.

Weitere Themen

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2. Advent: Kossakowski, Mawromatti & Hunde im Weltall

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Sprache und das Trauma der Befreiung


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