„Diese Regime werden alle untergehen”

„Die Strafverfolgungsbehörden schweigen bis heute und tun so, als wäre es unmöglich, die genauen Umstände von Romans Tod aufzuklären oder die Täter zu finden.” Das sagt Olga Kutscherenko im Interview mit dem belarussischen Online-Medium Salidarnasc/Gazeta.by, das wir in deutscher Übersetzung veröffentlichen. 

Kutscherenko ist die Cousine von Roman Bondarenko, der am 11. November 2020 von einer Gruppe maskierter Männer in einem Minsker Hinterhof, dem sogenannten Platz des Wandels, zusammengeschlagen wurde und am folgenden Tag seinen Verletzungen erlag. Bondarenko wurde 31 Jahre alt und für die belarussische Protestbewegung des Jahres 2020 zum Symbol des unbändigen Freiheitswillens.

Der Totschlag ist bis heute nicht aufgeklärt. Im Februar 2021 wurde zwar ein Strafverfahren eingeleitet, aber im September desselben Jahres wieder eingestellt, weil man – die Behörden – keine Tatverdächtigen finden könne. Allerdings hatten belarussische Medien erdrückende Hinweise dafür zusammengetragen, dass der Chef des belarussischen Eishockey-Verbandes Dimitri Baskow am Tatort gewesen sein soll, als Bondarenko attackiert wurde. Außerdem der frühere Kickboxer Dmitri Schakuta. Beide unterliegen wegen mutmaßlicher Verwicklung in den Überfall verschiedener internationaler Sanktionen.
Nach Bondarenkos Tod war die tut.by-Journalistin Katerina Borissewitsch festgenommen und in einem Strafverfahren zu sechs Monaten Haft verurteilt worden. Die Behörden hatten verbreiten lassen, dass Bondarenko betrunken gewesen sei. Borisewitsch interviewte den behandelnden Arzt, der die Unterstellung entkräftete. 

Zu Bondarenkos Beerdigung in Minsk kamen Tausende, um ihre Anteilnahme und Trauer zu demonstrieren. In einem sehr persönlichen Interview mit Salidarnasc/Gazeta.by spricht seine Cousine Olga Kutscherenko, die mittlerweile in Polen lebt, über viele offene Fragen, über Erinnerungen an ihren Cousin, über seine Mutter, die Lage in der Heimat Belarus und den Krieg in der Ukraine.

Salidarnasc: Sie haben einmal gesagt, Roman Bondarenkos Sachen seien seiner Mutter Jelena Sergejewna auch nach einem Jahr noch nicht ausgehändigt worden.

Olga Kutscherenko: Jedenfalls nicht alle. Soweit ich weiß, nur der Ausweis, seine Uhr, fünf Rubel und ein Ladegerät, das ihm gar nicht gehörte – er hatte ein brandneues iPhone, aber da war einfach nur ein altes Kabel ohne Ladeblock.
Seine Sachen wurden im Krankenhaus gestohlen, genau wie die Auflistung der persönlichen Gegenstände. Auch Romans Kleidung und seine Wohnungsschlüssel sind nicht aufgetaucht.

Wird Ihre Familie und seine Mutter von jemandem bedroht?

Nein, aber es gibt keine Garantie dafür, dass das so bleibt. Jeder kann sehen, was jetzt im Land passiert. Damals, direkt nach Romas Tod, als man uns seinen Leichnam lange nicht aushändigen wollte, kamen sie zu meiner Mutter, Romas Tante, auf die Arbeit und sagten zu ihr: Sie verstehen doch, wenn die Beerdigung an einem Wochentag stattfindet, ist das eine Sache, aber am Wochenende – das wäre was anderes. Dabei waren das Leute vom städtischen Gesundheitsamt, die weder mit Roma noch mit uns irgendetwas zu tun hatten.

Roman Bondarenko und seine Cousine Olga Kutscherenko in Teenagerjahren / Foto © privat

Haben Sie damit gerechnet, dass so viele Menschen Anteil an Romans Tod nehmen würden, dass es geradezu eine Welle auslöst?

Nein, das haben wir nicht erwartet. Ich weiß noch, wie ich an dem Tag, an dem er starb, spät abends durch die Stadt fuhr und überall, entlang der Straße, an den Haltestellen, vor den Häusern, in allen Fenstern Kerzen brannten. Ich habe anfangs gar nicht verstanden, dass die Menschen auf diese Weise mit uns zusammen trauern. Erst danach habe ich auf Telegram von den Aktionen erfahren.

Den stärksten Eindruck haben bei mir die Ereignisse vom 15. November hinterlassen, als die Menschen Blumen in unserem Hof niederlegten und dafür brutal zusammengeschlagen wurden. Aber sie kamen trotzdem, auch später zur Beerdigung – obwohl man sie in Angst versetzt hatte. Das hat mich sehr stolz auf die Belarussen gemacht, auf ihren Mut.

Wie geht es Jelena Sergejewna, Romans Mutter?

Sie bekommt Unterstützung von sehr vielen wundervollen Belarussen. Natürlich auch von ihrer Familie. Wir versuchen, ihr zu helfen. Sie ist sehr tapfer, sucht weiterhin nach Interesse am Leben und lässt den Kopf nicht hängen.

Tante Lena ist oft auf dem Friedhof und erzählt, dass viele Menschen an Romans Grab kommen. Sie bringen Blumen und kleine Geschenke, zum Zeichen, dass sie an ihn denken. So sehr die Staatsmacht auch versucht, alle einzuschüchtern, sie kann nicht verhindern, dass die Menschen  nachdenken und verstehen, was passiert.

Für unsere Familie ist es wichtig, dass Romas Name nicht in den Schmutz gezogen wird, dass er nicht als „Säufer und Unruhestifter“ verunglimpft wird. Uns ist wichtig, dass er als der Mensch in Erinnerung bleibt, der er wirklich war. Und natürlich wollen wir, dass die Täter bestraft werden.

Es ist schrecklich, was Russland da tut, und auch, dass die offizielle Führung in Belarus das unterstützt

Warum haben Sie Belarus verlassen?

Nicht, weil mir jemand gedroht hätte. Mein Mann lebt und arbeitet seit anderthalb Jahren in Polen. Meine Tochter und ich besuchten ihn gerade, als der Krieg ausbrach, und wir beschlossen eine Weile zu bleiben.

Hier konnte ich endlich wieder etwas an meine Arbeit denken. Ich bin Designerin, aber nach 2020 war ich in einer Zwangspause: Erst die Proteste, dann Romas Tod. Das hat mich alles aus der Bahn geworfen.

Und noch bevor wir richtig zu uns kommen konnten, begann dieser Krieg. So langsam sehe ich mir den Markt genauer an, sehe, dass ich hier eine Perspektive habe.

Was empfinden Sie angesichts der Ereignisse in der Ukraine?

Wie alle vernünftig denkenden Menschen machen wir uns Sorgen. Es ist schrecklich, was Russland da tut, und auch, dass die offizielle Führung in Belarus das unterstützt. Ich weiß nicht, ob sie begreifen, dass das auf jeden Fall Konsequenzen haben wird. Ob die belarussischen Offiziere und Soldaten das verstehen, von deren möglicher Beteiligung am Krieg ständig die Rede ist.

Natürlich wird die Ukraine siegen, daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Aber der Schock saß sehr tief. Ich habe Freunde in der Ukraine, Freunde in Belarus, die wegen der Ereignisse bei uns in die Ukraine geflohen waren und nun wieder fliehen mussten, als der Krieg begann. In den ersten Tagen hat eine Freundin bei uns gewohnt, die sich aus Irpen gerettet hat. Das ist alles so schrecklich.

Auch dass die Menschen wegen ihrer Nationalität diskriminiert werden, bereitet mir Sorgen, die Stimmungen hier in Europa. Als die Belarussen in den ersten Tagen ihre Autos versteckt haben, damit man sie nicht beschädigt. Als russischsprachige Kinder in der Schule beleidigt wurden.

Nicht alle Ukrainer wissen, dass die Belarussen, die derzeit in Europa sind, die Ukraine von ganzem Herzen unterstützen. Ich wünsche mir sehr, dass sie das verstehen. 

Doch ich treffe auch hier viele Menschen, die nicht nur über die Ereignisse in der Ukraine, sondern auch in Belarus Bescheid wissen. Erst gestern hatte ich ein erstaunliches Gespräch mit einem Taxifahrer, einem Usbeken. Als er erfuhr, dass ich aus Belarus komme, erzählte er mir vom Usurpator Lukaschenko, den Repressionen in Belarus und dass die Belarussen nicht in der Ukraine kämpfen wollen.

Verfolgen Sie die Ereignisse in Belarus?

Sicher. Ich betrachte das, was gerade passiert, als niederträchtige Rache einer kleinen Gruppe von Menschen am ganzen Volk. Ich glaube, das kommt daher, dass sie sich in eine vollkommen ausweglose Situation gebracht haben.

Diese Gesetze, die sie erlassen, die nicht enden wollenden Repressionen – das zermürbt natürlich einerseits die Menschen, aber gleichzeitig erschwert das auch die Position der Staatsmacht. Sie reiten sich immer tiefer rein.

Wie bewerten Sie heute die Ereignisse von 2020? Manche werfen uns vor, dass wir es nicht zu Ende gebracht hätten.

Ich glaube, jede Nation hat ihren Weg, ihre Mentalität. Für die Belarussen steht das Leben der Menschen an erster Stelle. Ja, wir leiden immer noch, wir sind immer noch Repressionen ausgesetzt, aber dafür haben wir nicht so viele Todesopfer davongetragen.

Ich denke, wenn wir zu den Waffen gegriffen hätten, hätte es viel mehr Tote gegeben. Womöglich wäre auch ein Bürgerkrieg ausgebrochen. Aber auf so etwas waren die Belarussen nicht aus, wir wollten zeigen, dass wir mit dem Wahlergebnis nicht einverstanden sind und dass wir die Mehrheit stellen

Ich glaube, es war richtig, dass wir nicht zu den Waffen gegriffen haben. Und es gibt auch generell keine Gebrauchsanweisung, wie man sich in so einer Situation zu verhalten hat.

Niemand außer uns selbst kann über die Zukunft von Belarus entscheiden

Jetzt, nach fast zwei Jahren, glauben Sie, dass wir uns von der lichten Zukunft, von der wir alle träumen, entfernen oder uns ihr – im Gegenteil – nähern?

Ich glaube, wir nähern ihr uns. Nur auf Umwegen. Im Moment sind die äußeren Umstände sehr bestimmend, also die Ereignisse in der Ukraine.

Ich weiß nicht, ob das Regime in Russland schneller fällt als das in Belarus, wie lange es durchhalten und dem belarussischen Regime dazu verhelfen wird, an der Macht zu bleiben. Aber es ist vollkommen offensichtlich, dass sie alle untergehen werden und wir uns in entgegengesetzter Richtung nach oben bewegen.

Anders kann es überhaupt nicht sein. Ich bin generell Optimistin und habe nie auch nur eine Minute lang daran gezweifelt, dass wir es schaffen werden. Ich glaube fest an das belarussische Volk und sein Potential.

Hängt die Zukunft von Belarus von den Ereignissen in der Ukraine ab?

Wir sind ja die unmittelbaren Nachbarn. Und entsprechend sind wir voneinander abhängig. Natürlich hängt vieles von dem Sieg der Ukraine ab, aber nicht alles. Ich glaube, niemand außer uns selbst kann über die Zukunft von Belarus entscheiden. Weder Europa noch die USA – niemand wird uns den Sieg auf dem Silbertablett präsentieren.

Aber ich glaube, dass uns das Beispiel der Ukraine sehr anspornt, und es ist durchaus denkbar, dass die Belarussen – falls sich die Dinge entsprechend entwickeln und sie zur Waffe greifen müssen – dass sie das in erster Linie tun würden, um sich und ihre Kinder zu verteidigen

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