Bidens Bärendienst

Denken Sie, dass Putin ein Killer ist? „Das tue ich“, antwortet Joe Biden, als US-Präsident noch ziemlich frisch im Amt, im ABC-Interview und löst damit eine weltweite Debatte aus: Endlich deutliche Worte? Unverschämte Beleidigung? Oder Zeichen dafür, dass die USA Russland (von Obama als „Regionalmacht“ geschmäht) wieder ernst nehmen, und sei es als Bedrohung – wie es der Historiker Sergej Radtschenko im Interview mit Meduza nahelegt. Insofern legitimiere Bidens Aussage Putin geradezu. 

Der russische Präsident hatte zunächst mit einer Anekdote aus seiner Kindheit im Petersburger Hinterhof gekontert, damals hätte es geheißen: „Wer anderen einen Namen gibt, heißt selbst so.“ Er wünsche Biden Gesundheit, „ohne Ironie“, und bot ihm außerdem ein Gespräch an, online und live. Das Weiße Haus reagierte ausweichend, man werde sicher irgendwann wieder miteinander reden. Unmittelbar nach dem Interview hatte Moskau seinen Botschafter aus Washington zu Beratungen zurückbeordert.

Ganz egal, welche Auswirkungen Bidens Antwort auf die russisch-amerikanischen Beziehungen haben mag: Vor allem spielt Biden der russischen Wir-sind-von-Feinden-umzingelt-Propaganda in die Hände, findet Iwan Dawydow in seinem Kommentar auf Republic.

Der Präsident der Vereinigten Staaten hat den russischen Politikern und Propagandisten ein echtes Geschenk gemacht. Noch nie war es so leicht, Loyalität zu demonstrieren. Nach der (übrigens ziemlich unvorsichtigen) Bemerkung von Biden ist ein regelrechter Wettstreit darüber entflammt, wer wohl mutiger zurückschlagen oder sich liebedienerischer beim Führer einschleimen könne. Es lassen sich gar nicht alle zitieren – es gab bereits dutzende Reaktionen, und dieser Karneval wird wohl noch mindestens bis zum Ende der Woche andauern.

Nehmen wir zum Beispiel Andrej Turtschak von der Regierungspartei Einiges Russland (in Journalistenkreisen natürlich vor allem für seine leidenschaftliche Liebe zu Eisenstangen bekannt): „Bidens Aussage ist Triumph des politischen Wahnsinns der USA und der altersbedingten Demenz seines Führers. Eine aus Hilflosigkeit geborene äußerste Stufe der Aggression.“ Was dann folgt ist beinahe poetisch, oder wie soll man es nennen, wenn etwas derart Heiliges berührt wird: „Wir besiegen die Pandemie. Unser Impfstoff ist der beste der Welt – die anderen planen nur. Wir haben die Familie und ihre Werte – die haben Gender und Transgender.“ Und das Wichtigste: „Überhaupt ist es schlicht eine schamlose und widerwärtige Aussage. Es ist eine Kampfansage an unser ganzes Land.“

Oder Wjatscheslaw Wolodin. Der Duma-Vorsitzende verzichtet auf jedwede Sentimentalität und kommt direkt zum Punkt: „Biden hat mit seiner Äußerung die Bürger unseres Landes beleidigt. Aus einer ohnmächtigen Hysterie heraus. Putin ist unser Präsident, Angriffe auf ihn sind Angriffe auf unser Land.“

Diese beiden prominenten Vertreter von Einiges Russland sind sehr politikerfahren. Oder, besser gesagt, erfahren in etwas, das in Russland schon seit Langem die Politik ersetzt. Beide spüren genau, was geschehen ist. Und beide setzen ohne zu zögern ein Gleichheitszeichen – und man beachte den feinen Unterschied – nicht zwischen Putin und dem Staat, sondern zwischen Putin und dem Land. Russland ist Putin. Sein Schmerz ist unser Schmerz. Anders kann es gar nicht sein. 

Russland ist Putin. Sein Schmerz ist unser Schmerz

Während sich weise Analytiker fragen, ob wir eine neue Stufe der Verschlechterung der russisch-amerikanischen Beziehungen zu erwarten haben (falls das überhaupt möglich ist), wollen wir einen Blick darauf werfen, was uns die Ereignisse über die Struktur des russischen Regimes verraten.

Regimekritiker sprechen oft – und nachdrücklich – von der „internationalen Isolation Russlands“. Die Verteidiger des Regimes weisen diesen Vorwurf zornig zurück und behaupten, die Isolation Russlands sei ein Mythos, wobei sie sich zum Beweis auf irgendein weiteres Abkommen mit Togo über die Nichtverbreitung von Waffen im Weltraum berufen. 

Ich würde gern mal die Begriffe genauer klären:

Alle Probleme in den Beziehungen zu Europa und den USA hat sich Putins Russland selbst geschaffen. Sukzessive, zielstrebig, über mehrere Jahre (dieser Text erscheint übrigens am Jahrestag der Rückkehr einer gewissen Halbinsel in den Heimathafen, herzlichen Glückwunsch, liebe russische Staatsbürger). Das heißt, es ist angemessener, nicht von „Isolation“, sondern von „Selbstisolation“ zu sprechen. Die russische Föderation hat auf internationaler Ebene die Praxis der Selbstisolation eingeführt.

Anfänglich sah es wie eine „Gefechtsaufklärung“ aus, oder sogar, ich bitte um Entschuldigung, wie ein Test: Wenn wir den Westen hier anpieksen, wie wird er reagieren? Und hier? Aber mit der Zeit entwickelte sich dies zu einer Praxis, die vor allem für den internen Gebrauch notwendig war.
Normale Beziehungen zum „kollektiven Westen“ werden sich nicht mehr herstellen lassen, immer weniger sind die dortigen Politiker bereit, in Putin einen verhandlungsfähigen Partner zu sehen (ich nehme übrigens an, dass Biden etwas Derartiges meinte, falls seine Bemerkung überhaupt irgendeinen Sinn hatte). Denn Putin ist Russland – denken Sie an die oben angeführten Sieger-Zitate im Wettkampf um die Liebe zum Präsidenten. Man kann ihn nicht ausklammern, und man kann auch Russland nicht gänzlich aus dem internationalen Leben streichen – letztendlich ist es zu groß, zu reich an immer noch wichtigen fossilen Brennstoffen und zu gefährlich. Also wird man es zähneknirschend ertragen. Wohin auch mit ihm – der Erdball ist klein.

Und wenn das nunmal so ist, dann kann man dem Westen ganz unverblümt Gopnik-Streiche spielen und jeden seiner Versuche, darauf zu reagieren, zum eigenen Vorteil wenden.

Konflikt als Strategie

Sanktionen erfreuen die russische Führung immer weniger, aber sie bringen sie nicht um (auch künftig nicht, das ist ebenfalls klar). Also ist für die innere Ordnung jede Verschärfung der Beziehungen zur Welt ein Geschenk. Worte sind hier noch willkommener als Taten. Biden hat Putin Killer genannt – nun, dann hat er ihn eben so genannt – wie viele Vorteile lassen sich doch daraus ziehen! Und zwar hier in Russland, wenn es um die Aufgabe des Machterhalts geht.

Andere Aufgaben gibt es schon lange nicht mehr und seit die Bürger der Verfassungsänderung bei der Abstimmung an frischer Luft auf Baumstümpfen zugestimmt haben, wird nicht einmal mehr sonderlich versucht, diese Tatsache zu verbergen.

Erheben die verdammten Russophoben jenseits des Ozeans etwa ihre Köpfe? Wagen sie es, unseren Wladimir, die Rote Sonne, zu beleidigen? Wie bitte? Auf die unverschämten Machenschaften des Buchhalters Kukuschkind werden wir, die Russen, antworten wie aus einem Mund: Rückt nahe zusammen! Schließt die Reihen! Der Feind steht vor der Tür!

Biden hat Putin Killer genannt – nun, dann hat er ihn eben so genannt – wie viele Vorteile lassen sich doch daraus ziehen!

Doch der eigentliche Feind des Regimes ist die eigene Bevölkerung. Deren Maß an Geduld ist zwar riesig, aber vermutlich doch nicht grenzenlos. Gegen ihre (hypothetischen) Einmischungsversuche in die Politik gilt es sich zu schützen. Mit einem Regime der Selbstisolation auf internationaler Ebene lässt sich die Notwendigkeit solcher Schutzmaßnahmen wunderbar rechtfertigen:

All die endlosen Kommissionen, die „den Tatbestand ausländischer Einmischung untersuchen“, die Strafgesetze für ausländische Agenten, die Geschichten über eine internationale Verschwörung gegen Russland, das Einimpfen von Hass gegen die Welt über die staatlichen Fernsehsender ist nicht etwa deshalb nötig, weil die derzeitige russische Führung tatsächlich Angst vor einer Bedrohung durch den „kollektiven“ (das heißt fiktiven) Westen hat.

Wobei es natürlich sein kann, dass sie mittlerweile tatsächlich Angst hat. Es spricht viel dafür, dass unsere Politiker, angefangen beim obersten Führer, irgendwann begonnen haben, an ihre eigene Propaganda zu glauben. Aber das ist nicht das Entscheidende.

Das Entscheidende ist, dass es in einem Regime, das sich in internationaler Selbstisolaton befindet, leicht ist, jeden internen Kritiker zu einem Handlanger des Westens zu erklären, ihm seine Selbstbestimmung abzusprechen und ihn nicht (nur) zum Feind, sondern schlimmer noch, zum Komplizen des Feindes, zum Verräter zu machen. Ein Krieg vereinfacht das Weltbild stark, und ob tatsächlich Krieg herrscht, spielt im Endeffekt keine Rolle.

Wenn du aber daran zweifelst, dass Krieg herrscht, heißt das, du bist ein feindlicher Agent.

Der Leere entgegen

Sinnvoller als darüber nachzudenken, wie sich Bidens kurze Bemerkung auf die russisch-amerikanischen Beziehungen auswirken werden, scheint es daher, sich Gedanken zu machen, was das Regime in seiner Selbstisolation auf internationaler Bühne der einfachen russischen Bevölkerung bereits (ein)gebracht hat und noch einbringen wird.

Und hier liegen die Dinge sehr einfach. Es bedeutet, dass ein Russe, der von einem Polizisten zusammengeschlagen wurde (weil er Parolen gerufen hat, einen falschen Gesichtsausdruck hatte oder dem Polizisten zufällig seine Brieftasche gefiel) sich vom Vorsitzenden des Rats für Menschenrechte eine erbauliche Rede darüber anhören darf, wie wichtig es ist, unsere Sicherheitsbeamten zu unterstützen, die uns vor Terroristen und Verschwörern schützen. Das ist alles, was er zu hören bekommt, denn die wirklichen Menschenrechtsverteidiger haben immer weniger Raum zu überleben.

Es bedeutet, dass es keine unabhängigen NGOs mehr geben wird, die die Wahlen verfolgen, Diabetikern helfen oder sich um obdachlose Katzen kümmern. Und es wird auch keine unabhängigen Aufklärungskampagnen mehr geben (die sowieso schon faktisch verboten sind).

Es wird auch keine unabhängigen Medien mehr geben. Wenn sogar die Verfassung auf Bitten der Werktätigen hin geändert werden kann, warum sollte dann nicht auch eine Zeitung auf den Wunsch der Männer des Achmat-Kadyrow-Regiments geschlossen werden können? Und so wird es weitergehen.

Für den Streit der Herren, die die Welt regieren, muss immer der Knecht seinen Kopf hinhalten.

PS: Die Praxis der Selbstisolation ist durchaus wirksam, wir sind leider Zeugen davon. Ganz ohne Makel ist sie jedoch nicht: Unweigerlich wird der Moment kommen, da der Verweis auf die Machenschaften ausländischer Feinde und ihrer hiesigen Mitläufer nicht mehr als Antwort auf jede beliebige Frage ausreichen wird, schon gar nicht auf die einfachen. Also nicht die Fragen zu Wahlen und anderen komplizierten Angelegenheiten, sondern nach den Preisen in den Läden.

Die Zerstörung jeglicher wirklicher Kommunikationskanäle mit der Gesellschaft ist kein Weg zur Stabilität, sondern zu einer Explosion. Aber erstens kann es ein langer Weg sein und zweitens gibt es keine Garantie, dass nach der Explosion auf den Trümmern der Autokratie von selbst ein wunderschönes Russland der Zukunft erwächst. Nach einer Explosion ist da normalerweise erstmal ein Krater. Ein Loch.

Weitere Themen

„Großmächte brauchen einen Großfeind“

Krim nasch

Umzingelt von Freunden?

Petersburger Trolle im US-Wahlkampf

Die Honigdachs-Doktrin

„Wir haben einen hybriden Krieg“


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter: