Das Echo nach dem Schuss

Bei einer Wohnungsdurchsuchung in Minsk durch eine Einheit des belarussischen KGB wurden am 28. September zwei Menschen getötet. Andrej Selzer, Mitarbeiter eines IT-Unternehmens, erschoss mit einem Gewehr einen der Geheimdienstler. Beim darauf folgenden Schusswechsel wurde auch Selzer selbst getötet. Die obskure Durchsuchung, die offizielle Stellen damit begründeten, dass Selzer angeblich zu einer terroristischen Vereinigung gehört haben soll, löste in den sozialen Medien Wut und Trauer aus und wirft viele Fragen auf. 

Nach der Schießerei wurden bis zum heutigen Tag über 100 Personen festgenommen, viele angeblich, weil sie in den sozialen Medien kritische Kommentare in Bezug auf den KGB und die Wohnungsdurchsuchung hinterlassen hatten. Auch wurde die Webseite des belarussischen Ablegers der russischen Zeitung Komsomolskaja Prawda (KP) geblockt, die Einschätzungen zur Schießerei von einer ehemaligen Mitschülerin Selzers in einem Artikel veröffentlicht hatte. Dann wurde der Autor und KP-Journalist Gennadi Mosheiko festgenommen. Am 5. Oktober gab die Zentrale des Blattes in Moskau bekannt, die Redaktion für die belarussische Ausgabe in Minsk zu schließen. Zur selben Zeit setzten die belarussischen Behörden die Schließung von weiteren Organisationen fort, so wurde auch die letzte im Land verbliebene Menschenrechtsorganisation Zvyano aufgelöst. Insgesamt beläuft sich die Zahl der liquidierten NGOs damit auf 275. Ales Bjaljazki, Träger des Alternativen Nobelpreises und Gründer der ebenfalls liquidierten Menschenrechtsorganisation Wjasna, der sich bereits seit Juli in Untersuchungshaft befindet, soll der Steuerhinterziehung im großen Stil angeklagt werden. Ihm drohen bis zu sieben Jahre Haft. 

Der Journalist Alexander Klaskowski analysiert in einem Text für das belarussische Medium Naviny.by die neuerlichen Vorgänge in Belarus und fragt sich, welche Strategie die Machthaber in Bezug auf die fortwährende Krise im Land verfolgen.

Manche hatten schon die Ausrufung des Ausnahmezustandes und die Aussetzung des Verfassungsreferendums prophezeit, andere vertraten die Meinung, dass der Mord an dem KGB-Mitarbeiter flächendeckende Säuberungen nach sich ziehen sollte – dazu äußerte sich Lukaschenko folgendermaßen: „Hört mal zu, wir sind doch nicht so dumm, unter den gegenwärtigen Umständen flächendeckend vorzugehen. Wenn wir flächendeckend vorgehen (und das können wir), könnten unschuldige Menschen zu Schaden kommen.“
Dann fügte er noch hinzu, sie würden „gezielt und präzise mithilfe der Geheimdienste und anderer Abteilungen des Innenministeriums und so weiter gegen diverse Leute, diverse Organisationen und verschiedene Varianten vorgehen“.

Plötzlich ist da ein Schatten des IS

Derweil wirft das Video von dem Vorfall in der Uliza Jakubowskaja immer mehr Fragen auf. Insbesondere, warum die Beamten keine bei solchen Einsätzen üblichen kugelsicheren Westen und sonstige Ausrüstung trugen. Laut Lukaschenko sollten die Menschen nicht beunruhigt werden, weil sie auf Beamte in voller Montur nicht gut reagieren.

Übrigens tragen mit lautem Gebrüll eingetretene Türen auch nicht gerade zur Beruhigung der Bevölkerung bei (sind aber, o weh, im heutigen Belarus leider fast Alltag). Viele fragen sich bloß noch, wann und unter welchem Vorwand man bei ihnen gewaltsam eindringen wird. Solch massive Repressionen wie in den letzten anderthalb Jahren hat es in Belarus wohl seit der Stalinzeit nicht gegeben. Wobei man es damals vorzog, die Leute im Stillen zu verhaften.

Bislang haben im Zusammenhang mit dem tragischen Vorfall in der Uliza Jakubowskaja vor allem die Menschen etwas abbekommen, die gewagt hatten, für die Regierung unzulässige Kommentare zu den Ereignissen zu posten. Der stellvertretende Innenminister Nikolaj Karpenkow, der auch die Inneren Polizeieinheiten befehligt, erklärte sogar, die Verfasser von negativen Kommentaren über den Tod des Beamten „gehören physisch vernichtet und sonst nichts“.

Menschenrechtler sprechen von 83 Personen, die am 29. und 30. September festgenommen wurden. Lukaschenko erklärte gar, dass „schon mehrere Hundert einsitzen“. Vielleicht übertreibt er, vielleicht wissen die Menschenrechtler aber auch noch nicht alles. 

Von den prominenten Regierungsgegnern wurde der sich derzeit im Ausland aufhaltende Waleri Zepkalo, mit Aufmerksamkeit bedacht. Gegen ihn wurde wegen seines Kommentars zur Schießerei in Minsk ein weiteres Verfahren eingeleitet – nach Paragraph 361 Strafgesetzbuch Absatz 3 (Anstiftung zu Handlungen, die die nationale Sicherheit von Belarus gefährden). Lukaschenko, der es sonst vermeidet, die Namen seiner Gegner auszusprechen, erklärte diesmal, „wenn diese Mistkerle wie Zepkalo und Konsorten glauben, wir könnten ihnen im Ausland nichts anhaben, dann haben sie sich geirrt“.

Zudem behauptet Lukaschenko, es gäbe Verbindungen zwischen dem Schützen und dem Netzwerk Rabotschy ruch, dessen Arbeit mittlerweile unterbunden ist, wie der KGB kürzlich berichtete. Lukaschenko zufolge sei es nämlich „eine einfache IS-Zelle nach europäischer Provenienz auf dem Gebiet von Belarus“.

Das Stichwort hier lautet „IS“, wobei die Festgenommenen sicher keine radikalen Islamisten sind. Man benutzt es als psychologisches Schreckgespenst für den Westen, wo der IS und Terrorismus als das absolut Böse gelten. 
Für das Inland setzt man eher auf das Narrativ, die Opposition hätte sich radikalisiert und der Westen führe einen hybriden Krieg gegen Belarus. Außerdem sollen alle eingeschüchtert werden, die sich angewöhnt haben, die Regierung online, in den sozialen Netzwerken zu kritisieren.

Bleibt die Frage, ob die breite Masse die offizielle Version glaubt. Das Vertrauen zur Regierung ist ja grundsätzlich nicht groß. Zumal Lukaschenko obendrein erklärte, Rabotschy ruch hätte mit den amerikanischen Geheimdiensten in Verbindung gestanden, „allem voran mit dem FBI“ – das sich bekanntermaßen mit Ermittlungen im Inland befasst.

Zivilgesellschaft ohne Nicht-Regierungsorganisiationen

Alles in allem versucht die Regierung offenbar, die Situation in der Gesellschaft mit den üblichen polizeilichen und bürokratischen Mitteln (nach ihren Maßstäben) zu normalisieren. Was die bürokratischen Mittel angeht, spricht Lukaschenkos Vorschlag Bände, gesetzlich festzulegen, wer künftig im Land zur Zivilgesellschaft gehört.

„Es ist an der Zeit, ein Gesetz zu verabschieden und festzuschreiben, dass zu unserer Zivilgesellschaft keine NGOs, NPOs und sonstiger Scheiß gehören. Sondern dass wir gemeinnützige Organisationen haben. Und gleich festschreiben, welche. Dass wir Gewerkschaften haben und die BRJU [Belarussische Republikanische Junge Union]. Dass wir Veteranen- und Frauenvereine haben.“

Eigentlich sind NPO und NGO ja völlig neutrale Abkürzungen. Aber für die belarussische Führung sind es offenbar mittlerweile Schimpfwörter geworden. 

Die Idee einer Zivilgesellschaft, die aus regierungsfreundlichen Organisationen besteht, äußert Lukaschenko nicht zum ersten Mal. Aber plötzlich gibt es ein pikantes Detail: Bei derselben Sitzung gibt er in einem Anflug von Ehrlichkeit zu: „Die Zusammenarbeit mit den gemeinnützigen Organisationen ist komplett gescheitert. Vor allem mit solchen wie der Jungen Union und der Belaja Rus.“

Und diese gescheiterten ideologischen Projekte sollen jetzt also per Gesetz zu den Grundpfeilern der Zivilgesellschaft erklärt werden. Gleichzeitig wurden funktionierende, eigenständige Organisationen fast vollständig zerschlagen. So zum Beispiel hat der Oberste Gerichtshof am 30. September das belarussische Helsinki-Komitee (BHK) aufgelöst. 

Doch der Leiter des Komitees, Oleg Gulak, gab bekannt, dass das BHK seine Arbeit auch ohne staatliche Zulassung fortsetzen wird: „Immer vorwärts.“ So oder so ähnlich äußerten sich auch die Leiter der anderen Organisationen, die von den Säuberungen betroffen sind.

Offenbar versucht die Regierung, durch solchen juristischen Schnickschnack die Autorität der BRJU, der Belaja Rus und so weiter zu stärken. Das sind allesamt Organisationen, die auf administrativem Wege erschaffen wurden und deren Hauptaufgabe darin besteht, Sprachrohr der Regierung zu sein und die Loyalität der Massen zu gewährleisten. Als könnte ein normativer Akt den kritisch denkenden Bürger dazu bringen, die Augen vor der Regierungsnähe dieser Organisationen zu verschließen. 

Der Regierung scheint nicht klar zu sein, dass sich eine echte Zivilgesellschaft von unten herausbildet und von der Reife ihrer Bürger abhängt. Die Ereignisse des letzten Jahres haben gezeigt, dass ein Großteil der Belarussen diese Reife hat, horizontale Verbindungen zu knüpfen und sich zu organisieren. Die offizielle Auflösung bestimmter Organisationen wird diese Fähigkeiten und Bestrebungen nicht vernichten. 

Wahrscheinlich ist das der Regierung durchaus klar; sie tut es einfach, um ihre Gegner leichter verfolgen zu können.

Die große Frage: Wer verleiht dem Oberst seine Schulterklappen?

Insgesamt ist klar, dass die Regierung es immer noch darauf anlegt; gesellschaftliche Probleme durch rohe Gewalt und Einschüchterung zu lösen. Doch zufällig zeigte Lukaschenko jetzt Interesse an der ideologischen Ausrichtung der Kader. Man scheint sich also zusätzlich auch über eine subtile Beeinflussung der Menschen Gedanken zu machen.

Davon zeugen auch die Äußerungen von regierungsfreundlichen Experten, die vorschlagen, den weniger radikalen Teil der Opposition in „konstruktive“ Projekte wie den runden Tisch von Juri Woskressenski zu integrieren. Lukaschenko regte seine Untergebenen dazu an, Diskussionsplattformen für Studenten zu gründen. 

Wie geeignet jedoch ist dieses, nach spezifischen Kriterien – allem voran regimetreue – ausgesuchte Personal zur subtilen Arbeit mit dem Geist der Bürger? Dadurch, dass man den Gewerkschaftsbund FBP und die BRJU zur Basis der Zivilgesellschaft erklärt, wird ihre Arbeit noch nicht weniger staatsnah.
Das politische System ernsthaft zu modernisieren und das Gesellschaftsmodell zu transformieren, hat Lukaschenko definitiv nicht vor. Heute ist ihm rausgerutscht: „Hätte man die Machtbefugnisse zur rechten Zeit neu verteilt, bräuchte man heute über die Verfassung vielleicht gar nicht reden.“

Diese Bemerkung bestätigt die Meinung vieler Beobachter, dass Lukaschenko die Verfassungsreform nicht gerade unter den Nägeln brennt und er es vorzöge, nur ein paar kosmetische Änderungen vorzunehmen. Und was die Verteilung der Macht betrifft, ist Lukaschenkos Aussage vom 28. September bei der Versammlung der Verfassungskommission bezeichnend: „Heute stellt sich dann die Frage, ob ich als Staatsoberhaupt den Rang des Oberst verleihen oder mich auf die Generäle beschränken soll.“

Das sind die kolossalen Änderungen, die uns erwarten: das Recht, einem Oberst die Schulterklappen zu verleihen, könnte an den Verteidigungsminister übergehen. Die Neuerungen in den anderen Bereichen werden wahrscheinlich ähnlich radikal.

Wir brauchen also nicht darauf zu hoffen, dass solch eine Systemtransformation die Spannungen in der Gesellschaft auflöst.

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