Nächster Halt: BSSR 2.0

Seitdem die belarussischen Machthaber im Sommer 2020 begannen, zunächst die Proteste auf den Straßen mit Gewalt niederzuschlagen und schließlich mit aller Schärfe gegen Protestierende und Andersdenkende vorzugehen, wird in Gesellschaft und Medien diskutiert, inwiefern sich das politische System von Alexander Lukaschenko verstärkt sowjetischen und totalitären Methoden und Strukturen annähert. 

Für einen Beitrag des Online-Mediums Reform.by analysiert der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch anhand der Kategorien „Freiheiten“, „Politisches System“, „Marktwirtschaft“ und „Ideologie“, inwieweit eine zunehmende Sowjetisierung tatsächlich festgestellt werden kann.

Freiheiten

Die Meinungsfreiheit ist in Belarus abgeschafft. Da gibt es nichts zu diskutieren, man braucht nur zu wissen, dass aktuell 32 belarussische Journalisten im Gefängnis sitzen. Unabhängige Medien werden „extremistischen Vereinigungen“ gleichgestellt und blockiert. Wer ihre Inhalte verbreitet, riskiert eine Ordnungshaft oder Schlimmeres. In Sachen Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit herrschen in Belarus längst wieder sowjetische Zeiten. Und zwar bei Weitem nicht die „vegetarischsten“.

Die Repressionsmaschine läuft in Belarus sogar besser als in der UdSSR. Allein schon, weil es viel mehr Möglichkeiten gibt, Opponenten aufzuspüren. Die Digitalisierung hat nicht nur neue Instrumente für den Kampf gegen repressive Regime gebracht, sondern auch neue Instrumente zur Verfolgung von Andersdenkenden. Für die Sicherheitsdienste ist es heute viel einfacher als früher, große Menschenmengen zu kontrollieren. Und das tun sie, indem sie die Bevölkerung seit über zwei Jahren unermüdlich und flächendeckend einschüchtern. Die Pläne der Machthaber geben klar zu verstehen, dass die Repressionen nur noch zunehmen werden.

Noch sind die Grenzen nicht geschlossen. Im Gegenteil, das Regime versucht, möglichst viele Unzufriedene aus dem Land zu drängen. So haben das schon die Bolschewiki nach dem Oktoberumsturz 1917 gemacht: In den ersten Jahren nach der Machtergreifung hinderten sie ihre politischen Gegner nicht daran, das Land zu verlassen, oder verbannten sie sogar. Erst später gingen sie dazu über, Andersdenkende physisch zu vernichten.

Noch werden politische Gegner nicht erschossen. Auch wenn gewisse Schritte in diese Richtung schon unternommen wurden – in unserem Land steht auf die „Vorbereitung eines terroristischen Akts“ die Todesstrafe. Wobei die großzügige Auslegung des Begriffs „Terrorakt“ nahelegt, dass diese Maßnahme auch gegen Regimekritiker eingesetzt werden kann.

Belarus steht der UdSSR in Sachen Unterdrückung von Andersdenkenden also kaum nach. Sucht man in der sowjetischen Geschichte nach Analogien, so könnte man die heutigen Ereignisse vorbehaltlich einiger Einschränkungen mit dem Ende der Belarussifizierung in den 1930er Jahren und der Zeit nach dem Anschluss von West-Belarus an die BSSR vergleichen. Es findet eine sukzessive Säuberung der Gesellschaft statt. Ihr werden die Spielregeln eines totalitären Staates aufgezwungen.

Das politische System

Das heutige Belarus hat ein anderes politisches System und andere Institutionen als die Belarussische Sowjetrepublik (BSSR). Um nur ein Beispiel zu nennen: Artikel 6 der sowjetischen Verfassung von 1977 proklamierte die Rolle der Kommunistischen Partei als „führende und lenkende Kraft der sowjetischen Gesellschaft, den Kern ihres politischen Systems, des Staates und der öffentlichen Organisationen“. Die Verfassung der BSSR führte unter derselben Ziffer einen analogen Artikel. Die heutige belarussische Verfassung sieht demgegenüber ein Mehrparteiensystem vor und stellt klar: „Die Ideologie politischer Parteien, religiöser oder anderer öffentlicher Vereinigungen oder gesellschaftlicher Gruppen darf den Bürgern nicht vorgeschrieben werden.“

Allerdings enthielt auch die Verfassung der UdSSR viele demokratische Leitsätze. Zum Beispiel garantierte Artikel 47 den Bürgern der Sowjetunion „die Freiheit des wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Schaffens“. Das hinderte die Zensurbehörde jedoch nicht daran, Bücher, Filme, Theaterstücke und andere künstlerische Werke zu verbieten, die der Partei aus irgendwelchen Gründen missfielen.

Zwischen einer Deklaration und der realen Sachlage liegt manchmal ein unüberwindbarer Graben. Sowohl dem Grundgesetz der BSSR als auch der heutigen belarussischen Verfassung zufolge gehört die Macht dem Volk. Auch in der BSSR fanden Wahlen statt, nur ohne Wahlmöglichkeiten. In Belarus sind die Wahlmöglichkeiten zwar formal vorhanden, aber jeder Versuch, sie in die Tat umzusetzen, endet so, wie wir es 2010 und 2020 gesehen haben. Auch wenn die Aussage „Es kommt nicht darauf an, wie gewählt wurde, es kommt darauf an, wie ausgezählt wird“ nicht von Josef Stalin stammt, sondern von Napoleon III., ändert das nichts an ihrem Sinn. Eine reale Demokratie gab es weder in der BSSR, noch gibt es sie im heutigen Belarus.

Unübersehbar ist auch der Versuch der belarussischen Regierung, die Staatsverwaltung nach dem Vorbild der Parteitage der KPdSU zu gestalten, indem sie ähnliche Funktionen und Befugnisse auf die Allbelarussische Volksversammlung überträgt.

Der Rhetorik der Entscheidungsträger nach zu urteilen, versteht man da oben selbst noch nicht, wie dieses durch die jüngsten Verfassungsänderungen geschaffene Organ genau funktionieren soll. Aber Alexander Lukaschenko vergleicht die Volksversammlung ohne Umschweife mit den Zusammenkünften der KPdSU: „Diese Dokumente sind in ihrer Bedeutung vergleichbar mit den Entscheidungen des Parteitags der Kommunistischen Partei“, erklärt Lukaschenko. Wo ist da der Unterschied zur „führenden und lenkenden Kraft“? Der Vorschlag, Parteien zu liquidieren, die vom Kurs der Volksversammlung abweichen, verwandelt zudem die politischen Akteure trotz ihrer formalen Existenz in unbedeutendes Beiwerk.

Auch wenn sich das politische System in Belarus nach wie vor von dem der BSSR unterscheidet, wurde mit der Allbelarussischen Volksversammlung ein großer Schritt zurück in die Vergangenheit gemacht.

Marktwirtschaft

Die freie Marktwirtschaft ist eine der letzten Bastionen im Widerstand gegen eine Rückkehr in die Sowjetrepublik. Noch hält sie den zahlreichen Angriffen stand, etwa dem kürzlich von Lukaschenko verhängten Moratorium auf Preiserhöhungen und dem daran anschließenden Dekret über die staatliche Preisregulierung. Der Versuch, das Problem auf administrativem Weg zu lösen, steht im Widerspruch zur freien Marktwirtschaft. Nicht, dass es uns komplett in die Zeit des staatlichen Preiskomitees beim Ministerrat der UdSSR zurückversetzen würde, das für die Preisgestaltung und die Disziplinierung dieses Bereichs verantwortlich war. Aber es ist (durchaus) ein Schlag gegen die Marktwirtschaft, die Unternehmen, die auf dem belarussischen Markt tätig sind, und gegen die Verbraucher, die den Rückgang des Warenangebots in den Geschäften bereits zu spüren bekommen.

Das Entscheidende ist aber, dass man ein Gleichheitszeichen zwischen der Marktwirtschaft und dem Privateigentum setzen kann, vor dem die belarussischen Behörden ohnehin keinen Respekt haben. „Niemand soll sich einbilden, dass Privateigentum heilig wäre“ – so formulierte jüngst Alexander Lukaschenko seine diesbezügliche Haltung. Die Regierung ist stolz darauf, dass es in Belarus keine umfassende Privatisierung gab oder geben wird. Sie ist überzeugt von den Vorzügen des Staatseigentums und beschlagnahmt Konzerne von Privateigentümern, wie es bei Motovelo oder dem Metallwalzwerk in Miory der Fall war. Sie kämpft unermüdlich gegen Zwischenhändler und „dickwanstige“ Geschäftsleute und beweist damit ihr Unverständnis und ihre Ablehnung marktwirtschaftlicher Dynamiken.

Noch wurde die freie Marktwirtschaft in Belarus nicht abgeschafft. Aber das Regime macht ihretwegen nicht viel Federlesen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Druck auf die Unternehmer noch zunehmen wird, sollte sich die wirtschaftliche Situation weiter zuspitzen. Auf ihrem Weg zurück in die BSSR wird die Macht das opfern, was ihrer Meinung nach am wertlosesten ist.

Ideologie

Eine klare Ideologie hat die heutige Regierung im Gegensatz zur Kommunistischen Partei in der BSSR bisher nicht. Aber wir hörten bereits von Alexander Lukaschenko, dass noch keine bessere Ideologie als die marxistisch-leninistische erfunden worden sei. Die Ideen, die man heute den Menschen anbiete, fänden „weder in ihren Seelen noch in ihren Herzen Anklang“

Während unsere russischen Nachbarn bei der Formulierung der „Werte, Faktoren und Strukturen, die Russland zugrunde liegen“ zwischen X und Y schwanken, tasten auch die belarussischen Ideologen nach den Grundfesten. Darunter finden sich die bereits erwähnte „Wiedervereinigung von West-Belarus mit der BSSR", der Sieg im Zweiten Weltkrieg, der Genozid am belarussischen Volk und die gesellschaftliche Bedeutung des Oktoberumsturzes der Bolschewiki. Das wäre wohl alles, was bisher deutlich zu hören war.

Es ist bezeichnend, dass diese Konzepte nicht über die Geschichte der BSSR hinausreichen. Die Sowjetzeit spielt die zentrale Rolle. Auch das ist ein Grund, von einer Rückkehr in die BSSR zu sprechen, deren Geschichte unlösbar mit der sowjetischen und russischen verwoben war. Alle anderen Epochen werden im Schnelldurchlauf durchgenommen und eingedampft auf die „jahrhundertelange Sklaverei des belarussischen Volkes und seinen Wunsch nach Befreiung aus dem polnisch-litauischen Joch“. Der zentrale Dreh- und Angelpunkt der aktuell entstehenden Ideologie ist die BSSR.

Die totalitären Praktiken innerhalb der Gesellschaft nehmen erst Fahrt auf. Noch unterschreiben Arbeitskollektive keine Appelle an die Behörden, „Volksfeinde“ aufs Schärfste zu verurteilen. Und doch gibt es bestimmte Verschiebungen in diese Richtung. Es finden Versammlungen statt, bei denen Regierungsvertreter die aktuelle Politik erklären und die Bedrohungen erörtern, denen Belarus von allen Seiten ausgeliefert sei. Der Staat beginnt bereits, eine Beteiligung der Öffentlichkeit einzufordern. Bisher genügte es, bei solchen Versammlungen still die Zeit abzusitzen – was an sich schon an die späte BSSR erinnert. Aufrufe von Arbeitskollektiven und Verbänden, zu „bestrafen“ und „nicht davonkommen zu lassen“, wären lediglich der nächste Schritt in den Totalitarismus.

Die Rückkehr in die BSSR ist nicht einfach nur eine hübsche Redewendung. Der Ruck in diese Richtung lässt sich in vielen Bereichen beobachten. In einigen von ihnen – zum Beispiel bei der Beschränkung ziviler und politischer Rechte – ist der Prozess bereits sehr weit fortgeschritten. Bei der Umgestaltung des politischen Systems und in der Wirtschaft macht sich der Rückschritt noch nicht so deutlich bemerkbar, aber bestimmte Tendenzen weisen darauf hin, dass die Machthaber für die Entwicklung des Landes einen Kurs eingeschlagen haben, der in vielem in die nahe Vergangenheit weist.

Die Fallgeschwindigkeit ist gleich 

Es ist freilich nicht die Rede davon, dass die Regierung einfach alle Institutionen und Praktiken des Sowok kopieren würde. In ihrem Streben zurück in die UdSSR träumt die russische genauso wie die belarussische Führung von einer Sowjetunion 2.0, mit Raketen und Waschpulver. Mit geistigen Klammern und einem relativ akzeptablen annehmbaren Lebensstandard. Im Detail gibt es kleine Unterschiede in dem, was in den Köpfen der Initiatoren vorgeht. Deswegen gibt es in Russland noch etwas mehr wirtschaftliche Freiheit. Aber alles in allem ist das Ziel eine UdSSR, die den Kalten Krieg gewinnen kann. Ausgehend von dieser Prämisse wird klar, dass die politischen Freiheiten als Erstes weichen müssen. Und genau das beobachten wir in der Praxis. In der Politik ist die Rückkehr in die Vergangenheit eine vollendete Tatsache.

Wirtschaftliche Freiheiten wird es geben dürfen, solange sie den Staatsinteressen nicht im Wege stehen. Der Druck auf sie ist ebenfalls unvermeidlich, aber in ihrem Bestreben, die Bevölkerung mit Waschmittel zu versorgen, werden ihn die Regierenden sparsam dosieren und die Erschütterungen möglichst gering halten. Die Stärke des Drucks wird von der Kompetenz derjenigen abhängen, die Entscheidungen treffen. Wobei der Totalitarismus unausweichlich in alle gesellschaftlichen Bereiche vordringen wird. Wie schnell das gehen wird, ist wiederum abhängig von den wirtschaftlichen Erfolgen oder Misserfolgen der Machthaber.

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