Menschen im Sumpf

Es sind Bilder von Szenen und Menschen, die aus der Zeit gefallen scheinen. Pferdekarren, hölzerne Kanus als Transportmittel, unbefestigte Straßen, Frauen, die Flachs schlagen. Vielleicht stellte sich auch bei Louise Arner Boyd (1887–1972) dieser Eindruck ein, als die berühmte Forscherin 1934 das südliche Belarus mit seinen wilden Sümpfen und Wasserwegen bereiste. Schließlich kam sie aus den damals vergleichsweise hochmodernen USA in diese archaisch wirkende Region, die in Belarus von einem nahezu mystischen Faszinosum umweht ist und der der Schriftsteller Iwan Melesh (1921–1976) mit seinem Epos Menschen im Sumpf (1962) ein literarisches Denkmal setzte. 

„In der literaturwissenschaftlichen Forschung wird Melesch oft als Beispiel für ein sakralisiertes Raumverständnis herangezogen“, schreibt die Slawistin Nina Weller in einem Feature für Deutschlandfunk. „Das Bild des Menschen im Sumpf steht demnach für einen belarussischen Menschentypus, der sich durch die Erfahrung des Überlebens unter widrigen Bedingungen, aber auch durch die unbeirrte Wiederaneignung des fremdbestimmten Raums auszeichnet. Der Mensch im Sumpf verharrt eher passiv in seinem kleinen Kosmos, passt sich dem aufgezwungenen Schicksal an, doch nutzt er die Situation gewitzt auch zum eigenen Vorteil.“

Die Fotos, die Louise Arner Boyd auf ihrer Reise durch die Sümpfe machte, geben auch einen Eindruck von dieser kulturellen Mystik. Das belarussische Online-Medium Zerkalo hat sie für seine Leser wiederentdeckt. Die einzigartigen Bilder stammen aus der Sammlung der American Geographical Society Library, die an den University of Wisconsin-Milwaukee Libraries aufbewahrt wird. Wir zeigen eine Auswahl.

Vor fast 90 Jahren, im Jahr 1934, unternahm die berühmte US-amerikanische Forscherin und Reisende Louise Arner Boyd nach der Teilnahme an einem internationalen Geographenkongress in Warschau eine dreimonatige Reise durch die Länder der sogenannten Kresy. Sie reiste mit dem Auto von Przemyśl in Polen über Lwiw, Kowel, Kobrin, Pinsk, Kletsk, Njaswish und Slonim nach Wilna. Ihre Fotos und Notizen über die Länder des heutigen Belarus, Polens, der Ukraine und Litauens können uns viel über das Leben der Menschen erzählen, die in der Zwischenkriegszeit in dieser Region lebten. Dabei schenkte die Reisende dem belarussischen Polesien, dem Fluss Prypjat und seinen Nebenflüssen sowie der Hauptstadt der Region – Pinsk – besondere Aufmerksamkeit. 

Wir bieten einen Blick in das Alltagsleben der Bewohner von Polesien in der Zwischenkriegszeit, das die Reisende in ihren Fotos festgehalten hat, begleitet von ihren ureigenen Bildunterschriften bzw. Anmerkungen.

Ein Bauer mit Pflug und Pferd in einem Boot in den Prypjatsümpfen, 1. Oktober 1934
Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Eine Familie steht am späten Nachmittag am Ufer der Prypjatsümpfe, dahinter ihr Haus. Links eine Frau beim Wäschewaschen, 1. Oktober 1934
„Die Menschen hier besitzen ihr eigenes Grundstück, und die Grundstücksgrenzen sind entlang der Uferpromenade durch Markierungen gekennzeichnet. Sie bemessen ihr Eigentum nach Sznwry, was Seil bedeutet. Sie sagen: ,Ich habe so viele Sznwry‘, anstatt in Hektar zu messen.“
Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Ein Mann fischt von einem Kanu aus, Prypjatsümpfe, 1. Oktober 1934
Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Zwei Frauen stehen in einem Kanu und waschen Wäsche, 2. Oktober 1934
Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Ein Segelboot auf dem Fluss Pina in der Nähe von Pinsk, 3. Oktober 1934
Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Männer beim Abladen von Heu von Lastkähnen am Markt von Pinsk, 30. September 1934
Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Ein Lastkahn, beladen mit Holz, nähert sich Pinsk, 30. September 1934
„Viele dieser Lastkähne kommen aus der Nähe der Grenze zu Russland.“
Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Ein Passagierschiff legt am Ufer in Pinsk an, 30. September 1934
„Dies ist die Art von Seitenrad-Dampfer, wie sie auf dem Prypjat und seinen Nebenflüssen verwendet werden.“
Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Menschen in einem mit Baumstämmen beladenen Kanu vor Pinsk, 2. Oktober 1934
Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Menschen sitzen in Kanus am Pinsker Markt, 3. Oktober 1934
Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Markt von Pinsk: Karren mit Heu und Birkenrinde, die für die Herstellung von Sandalen genutzt wird, 3. Oktober 1934
Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Ein Stand mit Stiefeln auf dem Markt in Pinsk, 3. Oktober 1934
Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Eine Pferdekutsche auf der Hauptstraße in Pinsk am Markttag, 3. Oktober 1934
Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Verkaufsstände auf dem Pinsker Marktplatz, 3. Oktober 1934
„Stände auf dem Marktplatz oberhalb der Uferpromenade. Töpferwaren, Holzwaren, Eisenwaren und so weiter auf Gehweg und Straße.“
Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Mutter und Kind stehen neben einem strohgedeckten Gebäude, 1. Oktober 1934
„Im Vordergrund rechts steht ein hölzernes Instrument zum Tragen von Flachs. Das Gebäude verfügt über gewebte Seitenwände, um eine Belüftung zu ermöglichen, und ist mit Stroh aus Riedgras gedeckt. Im Hintergrund stehen aufrecht am Zaun zwei Stangen zum Löschen von Dachbränden. An einem Ende befindet sich eine Bürste zum Ausschlagen der Funken und am anderen Ende ein Eisenhaken zum Abziehen des brennenden Strohs.“
Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Ein Automobil auf einer unbefestigten Straße östlich von Kobryn, 29. September 1934
Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Frauen dreschen Flachs, 2. Oktober 1934
„Scheune und Getreidespeicher. Links bearbeiten zwei Frauen Flachs. Rechts eine hölzerne Egge. Ein Bündel Roggen. Diesen Leuten ging es gut. Sie waren sauber und die Kinder trugen gute Kleidung. Sie waren orthodox-griechische Katholiken, und ihre Kirche befand sich zwischen den Kiefern.“
Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Drei Dorfbewohner sitzen zusammen, 7. Oktober 1934
„Nahaufnahme von Männern in einem Dorf. Links: langer Bart, in der Mitte Schnauzer, rechts: glatt rasiert.“
Fotografin: Louise Arner Boyd/ Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Ein Pferd zieht große Baumstämme, östlich von Iwazewitschy, 8. Oktober 1934
„42 Meilen östlich von Iwazewitschy. Wagen mit Holzstangen, die die Hinterräder verbinden und dazu dienen, das hintere Ende der langen Baumstämme zu lenken. Form einer Wünschelrute. Links die Vorderseite eines weiteren Wagens.“
Fotografin: Louise Arner Boyd“/ Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Kreuze auf einem Dorffriedhof, 5. Oktober 1934
„Friedhof. Hohe unbemalte Kreuze ohne Namen oder Erkennungszeichen. Pflöcke markieren, wo die Toten begraben sind. Moos auf den Kreuzen.“
Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

Im Original erschienen bei Zerkalo
Bildredaktion: Andy Heller
Übersetzung: dekoder-Redaktion

Mit freundlicher Genehmigung der The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

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