Alyona Kochetkova: Als ich krank war

Eine junge Fotografin bekommt Brustkrebs – und fotografiert ihren Heilungsprozess. „Es ist nicht leicht, Empfindungen zu zeigen, die sich im Inneren abspielen und von außen nicht sichtbar sind.“ Eine Fotoserie von Alyona Kochetkova.

 

 

An meinem 29. Geburtstag bekam ich die Diagnose Brustkrebs. Es war ein Schock. Wie konnte ausgerechnet ich diese Krankheit bekommen, wo ich doch immer auf eine gesunde Lebensweise geachtet hatte? Krebs ist weltweit die zweithäufigste Todesursache. Jede achte Frau in den USA und der EU erkrankt im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs. Und dennoch wusste ich nichts darüber, und ebenso wenig wusste ich, wie es jetzt weitergehen sollte.

Fotos © Alyona Kochetkova

Ich war seit mehr als zehn Jahren Fotografin. Die Geschichten, an denen ich bisher gearbeitet hatte, handelten von Dingen, die sich außerhalb von mir abspielten. Als ich die Krebsdiagnose bekam, war es Zeit, mich selbst zum Gegenstand meiner Arbeiten zu machen. Dabei wollte ich nicht nur die Stadien der Krankheit dokumentieren oder eine beängstigende Geschichte erzählen. Ich wollte Bilder machen, die einen starken visuellen Eindruck erzeugen. Sie sollten das Stigma der Diagnose durchbrechen und Verständnis dafür wecken, wie sich Menschen fühlen, die mit einer schweren Erkrankung konfrontiert sind. Ich hoffe, dass meine Geschichte andere Krebspatienten ermutigt, ihren Weg durch diese schwierige Lebensphase zu finden.

Erst hatte ich Angst um mein Leben und war zu erschöpft, um zu fotografieren. Aber mein Therapieplan gab mir Hoffnung auf Besserung – eines von vielen Gefühlen, die ich empfand, während ich versuchte, meinen Körper von der Krankheit zu befreien. Es gab Phasen der Depression, Phasen der festen Zuversicht, dass alles in Ordnung kommen würde, scheinbar endlose Phasen der Müdigkeit und Phasen morbider Selbstbeobachtung. Durch die Krankheit sah ich mein ganzes Leben mit neuen Augen. All das wollte ich in meinen Bildern erfassen.

Anfangs habe ich die Fotos nur für mich selbst gemacht. Aber als ich im Krankenhaus anderen Krebspatienten begegnete – und besonders, nachdem ich die Bilder einer Mitpatientin zeigte, die mittlerweile eine Freundin geworden war – begriff ich, dass viele von ihnen ähnliche Gedanken und Ängste hatten wie ich. Heute sind einige gute Freunde von mir. 

Eine der wichtigsten Eigenschaften der Fotografie ist für mich, dass sie von Dingen spricht, die sich mit Worten schwer ausdrücken lassen. Sie ist eine Universalsprache, die auf der ganzen Welt verstanden wird.

Während der Chemotherapie war mein Immunsystem geschwächt. Ich habe Selbstporträts gemacht, während ich mit Übelkeitsanfällen auf meinem Bett lag. Ich begann mit meiner roten Nachttischlampe zu experimentieren. Die Farbe traf genau meine Gefühle. Das war interessant, weil eines der wichtigsten Medikamente, die ich bei der Chemotherapie einnehmen musste, auch rot war.

Ich konnte nicht mehr herumfahren und im Freien fotografieren wie früher. Es gab Zeiten, in denen ich nicht einmal das Haus verlassen konnte. Meine eigene Wohnung war für mich zum Gefängnis geworden. Fotografie war das einzige, womit ich mich noch beschäftigte und was mich mit dem Leben vor der Krankheit verband. Sie war auch eine Art Kunsttherapie. Das war besonders wichtig, als ich mich krank fühlte, auf mein aufgedunsenes Gesicht und meine frische Glatze starrte und mich nur noch abschotten wollte.

Ich habe meine Haare immer lang getragen. Während der Chemo begann es auszufallen, also schnitt ich mir den Zopf ab. Das war ein schmerzloser, jedoch sehr emotionaler Verlust. Dieses Bild ist eines der einprägsamsten in meinem Projekt. Es symbolisiert die körperlichen und seelischen Veränderungen, die ich in Kauf nehmen musste.

Ich hatte auch ein Chemobrain. Mit diesem Ausdruck beschreiben Krebspatienten und Überlebende kognitive Schwierigkeiten und Gedächtnisprobleme, die während und nach der Krebstherapie auftreten können. Ich konnte mich auf nichts mehr konzentrieren. Manchmal fühlte ich mich wie zerbrochenes Glas.

Es ist nicht leicht, die Empfindungen zu zeigen, die sich ganz im Inneren abspielen und von außen nicht sichtbar sind. Nach dem ersten Chemotherapie-Zyklus spürte ich heftige Knochenschmerzen. Es fühlte sich an, als ob in verschiedenen Körperteilen glühende Asche lodert. Ich konnte nur mit Mühe eine erträgliche Körperhaltung finden. Ich habe mir einen Laserpointer gekauft und angefangen zu experimentieren.

Ich habe versucht, meine Kräfte beisammen zu halten, und ich wusste, wie wichtig es ist, zu essen, aber ich hatte keinen Appetit. Eigentlich mag ich Borschtsch, eine nahrhafte und kräftigende Suppe mit Roter Bete und Rindfleisch, die in Russland sehr beliebt ist. Aber nach einer Chemotherapie ekelst du dich vor dem Essen. Etwas so Selbstverständliches wurde plötzlich wegen der starken Übelkeit und der Geschmacksveränderungen zu einem ernsten Problem. Deshalb habe ich Fotos von der Essenszubereitung immer wieder aufgeschoben.

Manche ehemalige Krebspatienten möchten die Zeit ihrer Erkrankung am liebsten vergessen. Mir geht es nicht so. Das Leben ist komplex. Schmerz, Krankheit und Tod gehören ebenso dazu wie Freude, Hoffnung, Glaube und Liebe. Während meiner Therapie hat meine Schwester geheiratet. Ich habe mir eine knallrote Perücke gekauft, eines meiner Lieblingskleider angezogen und bin zur Hochzeitsfeier gegangen. Das war nicht leicht, aber es hat Spaß gemacht und ich hatte das Gefühl, dass ich trotz allem mein Leben lebe.

Wie viele andere habe auch ich mich gefragt: Warum ausgerechnet ich? Auf diese Frage gibt es keine wirkliche Antwort. Aber als gläubiger Mensch bin ich überzeugt: Krankheit kann eine Prüfung sein, eine Strafe ist sie nicht. Sie erinnert dich an das, was dir wirklich wichtig ist – Sinnvolles zu tun, etwas zu schaffen, anderen zu helfen, statt nur zu konsumieren. Und sie ist ein Teil des Lebens, der uns etwas lehrt und zu spirituellen Wandlungen führt. Vieles, was ich für wichtig gehalten habe, hat sich als unwesentlich erwiesen und ist verblasst. Ich bemühe mich jetzt, freundlicher zu den Menschen in meiner Umgebung zu sein und mehr Zeit mit meinen Verwandten zu verbringen.

Meine Therapie war auch für meine Familie und Freunde belastend. Und doch haben sie mir immer ihre Liebe gezeigt, mir Hoffnung und Kraft gegeben. Das ist nicht die Zeit, um zu streiten, auch wenn es vielleicht schwer fällt. Selbst die beste Behandlung garantiert keine Heilung.

Es geht mir nicht darum, den Menschen Angst einzujagen, die in ihrem Leben keine Erfahrung mit Krebs gemacht haben. Ich will zeigen, dass meine Geschichte kein Einzelfall ist. Sie ähnelt den Geschichten vieler anderer Menschen auf der ganzen Welt, die an Krebs erkrankt sind. Nicht alle können darüber sprechen, aber alle brauchen Liebe und Unterstützung.


Fotos: Alyona Kochetkova
Bildredaktion: Andy Heller
Text: Alyona Kochetkova
Übersetzung: Anselm Bühling
Veröffentlicht am 05.03.2020

 

 

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