„Ich werde leben, es wird mich doch niemand umbringen“

In der Nacht zum 11. Juli 2023 verstarb der belarussische Künstler und Aktivist Ales Puschkin auf der Intensivstation des Krankenhauses in der westbelarussischen Stadt Hrodna. Dorthin war er bewusstlos aus dem städtischen Gefängnis gebracht worden. Wie Medien später berichteten, soll ein Geschwür zum Durchbruch der Magenwand geführt haben. 

Der Aufschrei nach Bekanntwerden seines Todes in der belarussischen Zivilgesellschaft und Kulturlandschaft war groß. In vielen europäischen Städten organisierte die belarussische Diaspora Gedenkveranstaltungen für den beliebten Künstler. 

Warum Puschkin in Haft war, was ihn über die Jahrzehnte zu einem der prägendsten Künstler und Aktivisten in Belarus hat werden lassen – das erzählen die Journalisten Smizer Pankawez und Wassil Harbazjuk für das belarussische Online-Medium Nasha Niva.

„Das Kreuz, das ich mir aufbürde, muss ich tragen, so schwer es auch sein mag. Was droht mir hier schon? Vielleicht sperren sie mich für fünf bis zwölf Jahre ein, aber ich werde leben, es wird mich doch niemand umbringen.“ Heute klingen diese Worte Ales Puschkins furchtbar. Er sagte sie 2021 in einem Interview mit Nasha Niva, nachdem er nach Belarus zurückgekehrt war, obwohl dort ein Strafverfahren auf ihn wartete. Er war aus Prinzip zurückgekehrt. Am nächsten Tag wurde er festgenommen. Ales Puschkin war einer der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler und Ikonenmaler in Belarus. Seine ereignisreiche Biografie umfasst sowohl den Afghanistan-Krieg als auch ein unkonventionelles Privatleben. Wir haben zusammengetragen, was über ihn bekannt ist.

Ales Puschkin im Selbstporträt / Bild © Privatarchiv Ales Puschkin

Am 30. März 2021 wurde Puschkin an seinem Arbeitsort in Shylitschy im Kreis Kirau, wo er an der Restaurierung des Bulhakau-Palais arbeitete, abgeholt und ins Gefängnis von Hrodna gebracht. Genau ein Jahr später wurde er auf Grundlage von Artikel 130 Absatz 3 wegen „Anstiftung zu Rassen-, nationalem oder religiösem Hass“ verurteilt.

Die Staatsmacht zog gegen ein von Puschkin gemaltes Porträt des Partisanen Auhen Shychar zu Felde, der in der Zwischenkriegszeit im Gebiet Wizebsk aktiv gewesen war. Man beschuldigte Puschkin, mit dem Gemälde den Nazismus zu rehabilitieren. Puschkin selbst bestritt das.

Als das Strafverfahren angestrengt wurde, hielt Puschkin sich gerade in Kyjiw auf, das war noch lange vor Kriegsbeginn. Puschkin kehrte umgehend nach Belarus zurück, obwohl er wusste, dass ihm zu Hause eine Gefängnisstrafe drohte. Im Gespräch mit Nasha Niva sagte er damals, er sei bereit für einen echten Kampf, nicht für einen virtuellen. Das war nicht der erste Fall, in dem gegen den Künstler ermittelt wurde. Puschkin beteiligte sich erst am Kampf für die Unabhängigkeit von Belarus von der Sowjetunion, später ging er gegen das prorussische Regime Aljaxandr Lukaschenkas vor. 

Sein Lebensweg endete am 11. Juli 2023 auf der Intensivstation der Notfallambulanz von Hrodna, wohin er aus unbekannten Gründen und in unbekanntem Zustand aus dem Hrodnaer Gefängnis überstellt worden war.

Benannt nach seinem toten Bruder

Puschkin wurde 1965 in der Kleinstadt Bobr im Kreis Krupki geboren. Sein Vater Mikalaj war Elektriker im örtlichen Sägewerk. Seine Mutter war aufgrund einer Behinderung kaum arbeitstätig.

Der Vater wurde in der Sowjetzeit nach Tschita verbannt, später nach Sachalin. Zu Beginn der 1990er Jahre wurde Mikalaj Iwanawitsch rehabilitiert. Puschkin war stolz darauf, dass seine Familie seit mindestens fünf Generationen in der Kleinstadt Bobr ansässig war und den Ort nie verlassen hatte. 

Auch seine ältere Schwester Swjatlana lebt in Bobr. In der Familie hatte es bereits einen Aljaxandr Puschkin gegeben [Ales ist die belarussische Kurzform von Aljaxandr – dek], er war jedoch nur ein Jahr alt geworden. Vier Jahre später gaben die Eltern dem nächsten Sohn noch einmal denselben Namen. 

Kriegsdienst in Afghanistan

Im Alter von sechs Jahren begann Ales zu malen. Als er dreizehn Jahre alt war, kamen Talentsucher der Achremtschyk-Internatsschule für Musik und Bildende Kunst in den Ort. Die Schule nahm talentierte Kinder aus der ganzen BSSR auf. Der Vater beschloss, den Jungen zur Ausbildung nach Minsk zu schicken. Die Schule war ein geschlossener Ort, den die Schüler kaum verlassen durften. Ales lernte dort acht Jahre lang. 

Anschließend begann er ein Studium am Belarussischen Staatlichen Institut für Theater und Kunst, das er für den Militärdienst unterbrechen musste. Das erste Diensthalbjahr leistete Ales in Kamyschyn, wo er gemeinsam mit Jaraslaw Ramantschuk diente; das darauffolgende halbe Jahr verbrachte er in Afghanistan, wo er als Mechaniker in einer Hubschrauberstaffel diente. Ales berichtete später, er habe in der Armee niemanden so gehorsam erlebt wie die Belarussen. 

Er erzählte, dass der Vorsteher der Arrestzelle, Fähnrich Belski, sein in belarussischer Sprache verfasstes Tagebuch las und ihn daraufhin beim Vorgesetzten verpfiff. Der bestrafte Puschkin mit zehn Tagen Arrest. Insgesamt verbrachte Ales 28 Tage seines Kriegsdienstes unter Arrest.

Einer der ersten politischen Gefangenen

Zurück in Belarus schloss Ales sich der Talaka-Bewegung an, später der Belarussischen Volksfront. Im Vorfeld der legendären Aktion an Allerheiligen (Dsjady) 1988 verbreitete Puschkin Flugblätter mit dem Aufruf zur Teilnahme an der Veranstaltung. Er wurde noch vor der Aktion festgenommen und zu fünf Tagen Freiheitsentzug verurteilt, die er in Einzelhaft im Akreszina-Untersuchungsgefängnis verbrachte. 

Am 25. März 1989 ging Ales Puschkin auf die Straße. Er hatte eine durchgestrichene Flagge der BSSR und ein Plakat mit der Aufschrift: „Nieder mit der sozialistischen Republik, lassen wir das unabhängige Belarus auferstehen!“ dabei. Damit wollte er den gesamten heutigen Prospekt der Unabhängigkeit entlanglaufen, bis zum Regierungsgebäude, doch schon bei der Akademie der Wissenschaften wurde er festgenommen. 

Das Gericht verurteilte den Künstler zu zwei Jahren auf Bewährung und entzog ihm für fünf Jahre das Wahlrecht. Allerdings wurde er nicht vom Studium ausgeschlossen. Zur Verhandlung erschien der Künstler im traditionell bestickten Hemd (Wyschywanka) und antwortete auf Belarussisch, was damals einer Kampfansage an das sowjetische System gleichkam. 

Noch im selben Jahr ging die Staatspresse zu einer Hetzjagd auf Ales Puschkin über. Die Zeitungen schrieben, er träume von „einem Belarus ohne Juden und Kommunisten“. Zehn Jahre später sagte Ales, er wolle ein Belarus sowohl mit Juden als auch mit Kommunisten, im Land solle Platz für alle sein. 

Die Galerie U Puschkina

Nach dem Studium ging Ales nach Wizebsk. Er sagte, er habe sich diese Stadt selbst ausgesucht, da seine Geschichte mit der Malerei, Chagall und Malewitsch, verbunden sei. Er arbeitete in einem Betrieb für Kunsthandwerk und hatte einen Wohnheimplatz. Doch das genügte Ales nicht, und so eröffnete er bald die seinerzeit erste private Kunstgalerie des Landes, die er ganz bescheiden U Puschkina [dt. Bei Puschkin] nannte. 

An diesem Ort fand der erste Kongress der belarussischen Nationalisten statt, initiiert von Puschkin und Slawamir Adamowitsch. Die Veranstaltung wurde von der Polizei aufgelöst. 1997 musste die Galerie schließen. Im November 1994 führte Ales eine seiner schillerndsten Performances auf: Barfuß lief er durch die vom ersten Schnee bedeckten Straßen der Stadt Wizebsk, um den Leidensweg des unierten Metropoliten Josaphat Kunzewitsch nachzuvollziehen. Danach setzte er sich in ein Boot ohne Ruder und ließ sich die Dswina (Düna) hinuntertreiben. 

Zwei außereheliche Töchter, zwei eheliche Kinder

Politik stand für Puschkin jedoch nie im Vordergrund. Er lebte für die Kunst; um sein Privatleben ranken sich Legenden. In seiner Jugendzeit hatte Ales eine Romanze mit einer russischen Geschäftsfrau aus Tambow. Er war 24, sie 39 Jahre alt. Aus der Beziehung stammt seine Tochter Hanna.

Später erregte Ales Aufmerksamkeit mit der Aussage, er würde nie eine Frau heiraten, die nicht Belarussisch spricht. In seiner Zeit in Wizebsk hatte er eine weitere Affäre, aus der seine Tochter Dascha hervorging. Lange Zeit wusste der Künstler nichts von ihrer Existenz; er lernte sie erst kennen, als sie schon 17 Jahre alt war. Beide Töchter sprechen Belarussisch. 

1997 heiratete Puschkin schließlich. Seine Auserwählte war eine junge Frau, die weit von dem Leben der Bohème entfernt war – eine Lehrerin aus dem Kreis Staubzy namens Janina Demuch. Sie hatten sich in Mahiljou kennengelernt, wo Ales als Restaurator der Kathedrale des Heiligen Stanislaus arbeitete. Über die Jahre war aus dem provokanten Performance-Künstler Puschkin ein Restaurator und Ikonenmaler geworden. 

Alles in allem war Puschkin ein Mensch, der eine gewaltige Transformation durchlebt hatte und nach wie vor durchlebte, sowohl in künstlerischer als auch in ideologischer Hinsicht. Janina war katholisch, Ales orthodox. Die Ehe brachte zwei Kinder hervor, Mikola und Marylja. Auf das erste Kind mussten die beiden sechs Jahre lang warten, in diese Zeit fielen zwei Fehlgeburten. Die Eltern setzten durch, dass ihr Sohn in der Schule auf Belarussisch unterrichtet wurde.

Wandmalerei in der Kirche von Bobr

Die Wandmalerei in der orthodoxen Kirche seiner Heimatstadt Bobr bezeichnete Ales als eine der wichtigsten Arbeiten seines Lebens. Das berühmteste Motiv zeigte Sünder vor dem Jüngsten Gericht, und in ihrer Mitte einen Mann, der Ähnlichkeit mit dem belarussischen Diktator hatte. Zudem waren auf dem Gemälde OMON-Leute und hohe orthodoxe Würdenträger abgebildet. 

Dieses Bild musste Ales später übermalen, dennoch blieb seine Gesamtgestaltung der Kirche erhalten. Sonntags läutete Puschkin die Glocken in der Kirche. 2011 brannte die Kirche aus ungeklärten Gründen vollständig ab und musste von Grund auf neu erbaut werden. 

Mist für Lukaschenka

Die berühmteste Performance Puschkins ist zweifelsfrei der Mistkarren, den er im Juli 1999 vor Lukaschenkas Präsidialverwaltung schob. Ein roter Karren; weiße Handschuhe. Ales kippte den Mist aus, darüber warf er wertlose Rubelscheine und die Verfassung. Dann durchbohrte er diesen Haufen mit einer Mistgabel. Er wurde von Polizisten festgenommen, im Verhör weigerte er sich, seinen Namen zu nennen, und sagte, er sei „ein Mann aus dem Volk“. Man ließ ihn unter Auflagen laufen, aber einige Zeit später wurde er wegen Rowdytum zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.

Ales Pushkin und seine berühmteste Performance „Ein Geschenk für den Präsidenten“ am 21. Juli 1999

2015 sagte Puschkin, er würde im Jahr 2020 eine Schubkarre voll Rosen zur Präsidialverwaltung bringen, sollte Belarus dann noch ein unabhängiger Staat sein. Doch dann kam alles ganz anders. Ein weiteres Strafverfahren gegen Puschkin wäre beinahe im September 2007 eröffnet worden, als er nach dem Festival Schlacht bei Orscha gemeinsam mit Aktivisten der Malady Front [dt. Junge Front] aufs Polizeirevier gebracht wurde, wo er in einem unbeobachteten Moment die Staatsflagge nahm und sie aus dem Fenster des zweiten Stocks warf. Der Künstler sollte daraufhin wegen „geringfügigen Diebstahls“ angeklagt werden, aber vor Gericht sagte er, er wolle nicht mit solchen Formulierungen behelligt werden und lieber gleich ein ordentliches Strafverfahren bekommen. Letztlich blieb es dann bei zehn Tagen Untersuchungshaft. 

Foto © AP/picture allianceDas sind bei Weitem noch nicht alle Abenteuer, die der Künstler erleben durfte. Er wurde dafür festgenommen, dass er sich in einem Telefongespräch negativ über den KGB-Chef Szjapan Sucharenka äußerte, und er sollte für eine Explosion zur Verantwortung gezogen werden, die am Kupalje-Fest 2013 auf seinem Grundstück passierte, als er Graupensuppe kochte. Mit den Geschichten, die sich um Puschkin ereigneten, könnte man wohl ein Buch füllen.

Puschkin war dieser Typ Künstler, dessen Leben gern verfilmt oder in Romanen festgehalten wird. 

2020 wurde Puschkin während der Proteste um die Wahlen verprügelt, und auch daraus machte er eine Performance, indem er die blauen Flecken an Bauch, Rücken und Hintern öffentlich zur Schau stellte. Der Künstler hatte zuvor drei Tage im Akreszina-Gefängnis verbracht. Er nahm an fast allen Sonntagsmärschen und auch anderen Aktionen teil, wobei er eine Ikone bei sich trug.

Am 26. März 2021 eröffnete das Lukaschenka-Regime das Strafverfahren gegen ihn wegen des Auhen Shychar-Porträts. Am 30. März wurde Puschkin nach seiner Rückkehr aus dem Ausland festgenommen. Ein Jahr verbrachte der Künstler in Einzelzellen in Untersuchungshaft. Während einer Gerichtsverhandlung am 25. März 2022, die wie alle politisch motivierten Prozesse unter Lukaschenka einer Inszenierung glich, schnitt Puschkin sich zum Zeichen des Protestes den Bauch auf. Zudem weigerte er sich aufzustehen und verlangte, dass man ihm die Handschellen abnimmt. Am 30. März 2022 sprach Richterin Alena Schylko das Urteil: fünf Jahre Hochsicherheitslager. Ales Puschkin war einer von tausenden Belarussen, die aus politischen Gründen ihrer Freiheit beraubt wurden. 

Die massenhaften politischen Repressionen in Belarus halten seit 2020 an, als Aljaxandr Lukaschenka – legt man die Ergebnisse der Wahllokale zugrunde, bei denen unabhängige Beobachter zugelassen waren – die Präsidentschaftswahl an Swjatlana Zichanouskaja verlor, sein Amt aber nicht abtrat. 

Seit dem großangelegten Angriff Russlands auf die Ukraine im Jahr 2022 werden Belarussen auch für Meinungsäußerungen verfolgt, die sich gegen den Krieg richten und Sympathie mit der Ukraine bekunden. Seit 2020 gab es in Belarus mehr als 50.000 politisch motivierte Festnahmen; über 12.000 politische Strafverfahren wurden eröffnet. Zu manchen politischen Gefangenen besteht seit Monaten kein Kontakt mehr. 

Ales Puschkin wurde im August 2022 von der Verwaltung des Lagers Nr. 22 mit fünf Monaten Isolationshaft bestraft. Im Frühjahr 2023 wurde er schließlich ins Gefängnis in Hrodna überstellt. In der Gefangenschaft malte Puschkin weiter, auf alles, was ihm in die Hände kam. Seine letzten Werke verbleiben bei den Lagerhäftlingen und Gefängnisinsassen, denen es gelang, sie zu bewahren. 

Auf Anfrage teilte das Gefängnis in Hrodna Nasha Niva mit, dass Puschkin in die Notfallambulanz eingeliefert worden sei. Das Krankenhaus wiederum bestätigte, der inhaftierte Künstler sei mit Wachschutz in der Notaufnahme gewesen. Seine Familie wusste nichts davon. 

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