„Der Staat macht selbst vor der Gebärmutter nicht halt“

Im November 2023 hat das Oberste Gericht in Russland eine imaginäre „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“ eingestuft. Nun arbeitet die russische Führung an einem Verbot einer „Childfree-Bewegung“, die es ebenfalls nicht gibt. „Propaganda des freiwilligen Verzichts auf das Kinderkriegen“ wird damit unter Strafe gestellt. Darunter fallen nach Vorstellung der Initiatoren des Gesetzes Werbung für Verhütungsmittel oder Beratung vor dem Schwangerschaftsabbruch. Das Gesetz ist so schwammig formuliert, dass alle möglichen Informationen zu bewusster Kinderlosigkeit bestraft werden können. Zudem muss man befürchten, dass die Verabschiedung des neuen Verbots ebenso zu Diskriminierung und Stigmatisierung bestimmter Menschengruppen führen wird wie das bestehende russische Gesetz über die sogenannte „homosexuelle Propaganda“

Laut der Vorsitzenden des russischen Föderationsrats, Valentina Matwijenko, ist die „Childfree-Ideologie“ als eine „Entartung des Feminismus“ im Westen entstanden. Sie sei gegen Männer und gegen die „traditionellen Werte“ gerichtet. Andere Politiker wollen mit dem Gesetz die demografischen Probleme des Landes angehen. Für den Journalisten Anton Orech von der Novaya Gazeta ist das Gesetz krude Biopolitik: „Der Staat bestimmt, welcher Sex richtig ist und welcher nicht. Er legt fest, wer Kinder bekommen soll und wie viele. Er verbietet der Bevölkerung, nach eigenem Ermessen über den eigenen Körper zu verfügen.“ 

 

© Depositfoto / Imago Images

In einer Schule in Ocha auf der Insel Sachalin mussten sich die Schüler in der Aula einfinden und sich einen Vortrag darüber anhören, wie schlecht Abtreibungen sind. Zwecks Veranschaulichung, damit die Jugendlichen es auch wirklich kapieren, zeigte man ihnen auf einer großen Leinwand den ganzen ungeschönten Vorgang. Videos von dieser Aktion gingen durch Kanäle und Accounts – verpixelt und mit der Warnung versehen, es handle sich um verstörende Bilder. Für die Kinder in der Sachaliner Schule wurden sie weder verpixelt noch beschönigt. Die Sache blieb zwar nicht ohne Folgen, es wurde ermittelt, wer das überhaupt erlaubt hatte und wer der Vortragende war – doch da war es bereits zu spät, der Schaden war bereits angerichtet.        

Werbeverbot für Kondome? 

Mir stellt sich vor allem eine Frage: Was die Kinder da gesehen haben – ist das nun Propaganda fürs Kinderkriegen oder für Childfree? Will man nach so einem Anblick überhaupt noch Kinder bekommen? Oder erreicht man mit solch entsetzlichen Bildern nicht vielmehr das Gegenteil von Fortpflanzungsfreudigkeit? Sodass das demografische Problem erst recht nicht gelöst wird?  

Eine Abtreibung ist immer schlimm. Keine Frau würde so etwas aus Jux und unter normalen Umständen machen lassen. Und wer kein Baby kriegen will, kann ja verhüten – würde man meinen. Doch in der Duma wird bereits ein Werbeverbot für Kondome diskutiert, zur Bekämpfung von „Childfree“. Die Verbreitung von Syphilis und anderen Geschlechtskrankheiten wird die Gesellschaft natürlich viel weiter bringen. Wenn Frauen und Männer mit den Folgen von ungeschütztem Sex die Arztpraxen stürmen, wird es uns viel besser gehen. Es ist ja nicht nur der Tripper, der auf diesem Weg übertragen wird, da gibt es ja auch diverse andere Krankheiten.   

In einem Land, in dem Hunderttausende Menschen das HI-Virus in sich tragen, ist es natürlich oberste Priorität, Kondome abzuschaffen! 

Tja, und schwangere Teenager sind natürlich genau das, was uns allen noch gefehlt hat. Genau das scheint Senator Kutepow in Angriff zu nehmen: Er schlägt vor, Abiturientinnen bei der Aufnahmeprüfung zur Universität zusätzlich zu den üblichen Bonuspunkten für allerlei Olympiaden noch zehn weitere Punkte zu schenken, wenn sie im Jahr vor der Prüfung ein Kind gebären. In welcher Klasse muss man dann damit anfangen? Elfte, oder besser schon zehnte? Das sind völlig absurde Hirngespinste, doch eine einfache Wahrheit hat uns das Leben ja schon gelehrt: Es gibt kein Hirngespinst auf dieser Welt, das nicht irgendwann ein Gesetz in Russland werden könnte.  

Die auf die Nachwuchsproduktion fixierte Regierung hat das Thema Childfree entschlossen im Visier. Worauf man sich verlassen kann: Bald wird diese „Bewegung“ verboten, ihre Anhänger mit Strafen belegt. Dass es gar keine entsprechenden Strukturen gibt, macht überhaupt nichts. Das hat ja auch keinen daran gehindert, die „internationale LGBT-Bewegung“, die angeblich seit 1984 aktiv ist, zu verbieten.  

Bestrafung der Unterlassung 

Was „Childfree“ betrifft, könnte es sogar noch absurder werden. Während das LGBT-Verbot eine Handlung bestraft, würde ein „Childfree“-Verbot eine Unterlassung bestrafen. In Russland kann man ohnehin bald jeden von der Straße weg vor Gericht schleppen, aber um wegen gleichgeschlechtlicher Liebe belangt zu werden, muss man diese immerhin entweder praktizieren oder Solidarität mit solchen Menschen zum Ausdruck bringen. Das heißt, wenn man absolut nichts über LGBT sagt und „es nicht macht“, dann hat man seine Ruhe. Aber soll jetzt jede kinderlose Person unter Generalverdacht stehen, einer imaginären Childfree-Bewegung anzugehören? 

Sie sind verheiratet, aber haben keine Kinder? Soso, erklären Sie sich mal! Sie strengen sich an, aber es wird nichts? Wie können Sie Ihre Bemühungen beweisen? Sie haben gesundheitliche Probleme? Dann lassen Sie mal ein Attest sehen! Sie sind noch nicht bereit? Haben kein Geld? Keine Wohnung? Wollen erst Ihren Abschluss/Karriere machen? Das ist doch wohl alles kein Grund, sich nicht zu vermehren!  

In der Sowjetunion wurde eine Steuer auf Kinderlosigkeit erhoben. Eine absolute Demütigung. Aber damals kam man auch wegen homosexueller Kontakte und antisowjetischer Propaganda und Agitation ins Gefängnis, und die Rolle der Partei als „unserem Steuermann“ war in einer Verfassung verankert, die insgesamt vor Kuriositäten strotzte. Können wir wiederholen? Zudem werden andauernd neue Steuern eingeführt, und trotzdem hat der Staat komischerweise kein Geld.        

Der Staat macht selbst vor der Gebärmutter nicht halt 

Die strafrechtliche Verfolgung von „Childfree-Propaganda“ eröffnet ein weites Feld für Improvisationen. Allein der Begriff der „Propaganda“ ist abstrakt und der Paragraf absichtlich schwammig formuliert. Klar, dann kann man jeden belangen, den man will. Jeden beliebigen Aktivisten zum Beispiel, wenn sich sonst gar nichts anderes gegen ihn finden lässt.   

Aber noch viel wichtiger ist: Der Staat dringt buchstäblich in die Privatsphäre seiner Bürger und Bürgerinnen ein. Er legt sich zu ihnen ins Bett und macht selbst vor der Gebärmutter nicht halt. Der Staat bestimmt, welcher Sex richtig ist und welcher nicht. Er legt fest, wer Kinder bekommen soll und wie viele. Er verbietet der Bevölkerung, nach eigenem Ermessen über den eigenen Körper zu verfügen. 

Aber der Russe ist ganz einfach gestrickt. Geht es um irgendwelche abstrakten Begriffe, um Freiheiten oder „allgemeinmenschliche Werte“, dann winkt er ab, als ginge es um Sachen, die niemand so richtig versteht oder braucht und die ihn nicht wirklich was angehen. Aber kaum ist er von etwas direkt betroffen, spürt es am eigenen Leib, da fängt er plötzlich an, ganz anders zu empfinden.    

Lebensmittelpreise und steigende Wohnnebenkosten regen ihn viel mehr auf als jede Einschränkung von Freiheit. Die Frage nach Sex und Kinderkriegen ist allerdings maximal einfach zu verstehen, und die persönliche Betroffenheit könnte unmittelbarer nicht sein. Es ist äußerst schwierig, einen Menschen zum Kinderkriegen zu zwingen, wenn er nicht will. Und wenn ihm klar ist, dass er zwar von allen Seiten zur Fortpflanzung aufgefordert wird, es aber kaum Unterstützung für Familien mit Kindern gibt. Was hat er für Aussichten? Vermehrung in Armut? Fortpflanzung in der Schulzeit? Aber Wladimir Medinski hat die Lösung: Verkürzen wir doch einfach die Schulbildung, damit man nicht so viel Zeit mit Lernen verbringt, sondern schneller einen Beruf ergreift. Die Jungs in die Fabriken, die Mädels ins Geburtshaus. Und immer so weiter. Damit an „Childfree“ gar nicht mehr zu denken ist.     

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