Vor 25 Jahren verschwanden in Belarus die beiden prominenten Oppositionelle Viktor Gontschar und Anatoli Krassowski. Es waren die ersten Fälle des Verschwindenlassens von politischen Gegnern unter der Herrschaft von Alexander Lukaschenko, zwei weitere sollten folgen. Diverse Untersuchungen haben zu Tage gebracht, dass die vier Männer mit großer Sicherheit im Auftrag des Regimes entführt und ermordet wurden. Ihre Leichen wurden bis heute nicht gefunden.
In einem Beitrag für das belarussische Online-Portal Pozirk erinnert der Journalist Wjatscheslaw Korosten an diese dramatischen Ereignisse und an eine Zeit, in der Lukaschenko begann, seine Macht mit aller Brutalität abzusichern.
Der 16. September 1999 war der letzte Tag, an dem Viktor Gontschar, ehemaliger Vorsitzender des Zentralen Wahlkomitees und Abgeordneter des Obersten Sowjets, und sein Freund, der Unternehmer Anatoli Krassowski, lebend in Minsk gesehen wurden. Bekannt ist, dass sie an diesem Abend die Sauna auf der Fabritschnaja-Straße besuchten. Danach stiegen sie in Krassowskis Auto, konnten den Parkplatz aber nicht verlassen. Beide verschwanden spurlos und sind auch 25 Jahre später verschollen.
Auf Grundlage zahlreicher Medienberichte und wichtiger Beweise kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit behaupten, dass der Politiker und der Unternehmer auf Befehl von Alexander Lukaschenko entführt und später ermordet wurden. Ausgeführt wurde der Präsidentenwille von Kämpfern einer Sondereinheit, die aus einer Brigade eines Sondereinsatzkommandos des Innenministeriums gebildet und später von den unabhängigen Medien „Todesschwadronen“ genannt wurde. Auf dem Parkplatz fanden die Ermittler Glassplitter von dem Auto und Blutspuren vor.
Der mutmaßliche Chef der Schwadronen, Dmitri Pawlitschenko, wurde im Jahr 2000 sogar auf Anordnung des KGB-Vorsitzenden Wladimir Mazkewitsch und mit Genehmigung des Generalstaatsanwalts Oleg Boshelko verhaftet. Der Verdacht lautete auf Organisation politischer Morde. Einen Tag später wurde er jedoch auf persönliche Anordnung Lukaschenkos wieder freigelassen, Mazkewitsch und Boshelko wurden bald darauf in den Ruhestand versetzt.
Das Verschwinden von Gontschar und Krassowski war nur einer von mehreren ähnlichen Fällen. Am 7. Mai 1999 verschwand in der Gegend der Shukowski-Straße in Minsk der ehemalige Innenminister Juri Sacharenko, der in die Opposition gewechselt war. Am 7. Juli 2000 wurde der Journalist Dmitri Sawadski auf dem Weg zum Minsker Flughafen entführt. Mehrfach wurde gemeldet, dass auch hinter diesen Verbrechen die „Todesschwadronen“ stehen.
„Pawlitschenko hat alle persönlich ermordet”
Im Jahr 2019 bekannte das ehemalige Mitglied des Sondereinsatzkommandos SOBR Juri Garawski in einem Interview mit der Deutschen Welle, an den Entführungen von Gontschar, Krassowski und Sacharenko beteiligt gewesen zu sein. Er hatte Belarus inzwischen verlassen und gab an, zu einer Spezialeinheit gehört zu haben, die dafür sorgte, dass Oppositionelle verschwanden. Garawski erklärte, Pawlitschenko habe alle drei Entführten persönlich mit einem Revolver erschossen. Sacharenkos Leiche sei im Krematorium des Minsker Nordfriedhofes verbrannt worden, Gontschar und Krassowski seien auf einem Gelände des Innenministeriums nahe Begoml im Gebiet Witebsk vergraben.
Nach dem Interview brachten Menschenrechtsaktivisten eine Strafanzeige gegen Garawski ein. Das Verfahren fand in der Schweiz statt, wo der Ex-Elitekämpfer politisches Asyl beantragt hatte. Die Anklage lautete auf „Beteiligung an mehrfachem Verschwindenlassen“ (die Schweizer Gesetzgebung erlaubte keine Anklage wegen Mordes oder Beteiligung daran, da die Verbrechen auf belarussischem Territorium begangen worden waren.)
Im September 2023 wurde Garawski vom Kantonsgericht St. Gallen freigesprochen, man betrachtete seine Angaben als nicht ausreichend für einen Schuldspruch. Das Urteil begründete der Richter damit, dass dies ein besonderer Fall in der juristischen Praxis sei: Es sei eine Regierung involviert, die für die Gewaltverbrechen verantwortlich sei. „Daran sollte kein Zweifel bestehen. Aber bei der Befragung verstrickte sich der Angeklagte in Widersprüche und verweigerte Antworten“, sagte der Richter.
„Wer sich nicht gefügt hat, ist schon bis auf die Knochen verrottet“
Das Verschwindenlassen politischer Gegner war nicht Lukaschenkos Erfindung. Vermutlich hatte Pawlitschenkos Truppe die entsprechende „Lizenz zum Töten“ bereits einige Jahre vorher erhalten, ursprünglich für den Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Im postsowjetischen Raum waren die 1990er sehr unruhig. Diverse kriminelle Banden nutzten das Machtvakuum in den ehemaligen Sowjetrepubliken aus und brachten die Privatwirtschaft unter ihre Kontrolle, betrieben Drogenhandel, verübten Auftragsmorde und andere Schwerverbrechen.
Auch wenn das organisierte Verbrechen in Belarus weitaus schwächer ausgeprägt war als in Russland, beschloss Lukaschenko, das Übel an der Wurzel zu packen. Dafür schlug er, so nimmt man an, einen sehr effektiven Weg ein, griff aber zu illegalen Methoden.
In der zweiten Hälfte der 1990er verschwanden Autoritäten aus dem Verbrechermilieu plötzlich spurlos. Am meisten Aufsehen erregte der Fall des 37-jährigen Minsker „Diebes im Gesetz“ Wladimir Kleschtsch, genannt Schtschawlik. Im Dezember 1997 erhielt er auf seinem Mobiltelefon einen Anruf von einem Unbekannten, ging dann nach draußen, um „das Auto umzuparken“, und wurde nie wieder gesehen. Von Zeit zu Zeit kommentiert Lukaschenko nicht ohne Stolz seinen Sieg über die organisierte Kriminalität. Einzelne Aussagen kann man durchaus als Geständnisse interpretieren. 2001 ließ er verlauten, er habe bereits 1996 die Granden der Verbrecherwelt „über gewisse Schurken“ gewarnt: „Traut euch bloß nicht, eine Unterwelt zu schaffen, ich reiße euch allen die Köpfe ab“. Und fügte noch hinzu: „Es gab solche Fälle, wo sie sich nicht benommen haben. Ihr wisst ja noch, diese Schtschawliks und wie sie alle hießen. Und wo sind die jetzt? Eben, deshalb ist jetzt Ruhe und alle sind froh.“

Natürlich wusste Lukaschenko von der Rechtswidrigkeit seines Vorgehens, als er die Freigabe zur Abrechnung mit dem Kriminellen gab. Aber in diesem Fall heiligte seiner Ansicht nach der gute Zweck die Wahl der Mittel. Nicht umsonst rühmte er sich später damit, wie gnadenlos diese Schtschawliki in Belarus ausgemerzt wurden. Davon, dass mit der Zeit seine politischen Gegner die Rolle der Schtschawliki einnahmen, schwieg er lieber. Man kann das ja auch als logische Folge betrachten: So eine Todesschwadron erweitert, wenn sie mal gegründet ist, auf natürlichem Weg ihren Aufgabenbereich.
Früher oder später wird es eine Untersuchung geben
Lukaschenko gelangte 1994 durch vollkommen faire Wahlen an die Staatsspitze. Sofort begann er, die demokratischen Institutionen zu zerlegen, und demonstrierte so seine Absicht, an der Macht zu bleiben. Mithilfe zweier Volksabstimmungen konzentrierte er praktisch unbegrenzte Befugnisse in seinen Händen. Dabei bewegte sich der erste Präsident mehrfach auf Messers Schneide, besonders 1996, als es fast zu einem Amtsenthebungsverfahren kam.
Ursprünglich hätten die nächsten Wahlen für das höchste Staatsamt 1999 stattgefunden. Wäre das politische System in Belarus erhalten geblieben, hätte Lukaschenko durchaus verlieren können, da die Ergebnisse seiner ersten fünfjährigen Amtszeit nicht gerade berauschend waren. Doch mit den erwähnten Methoden hatte er die Machtstrukturen völlig verändert und ausschließlich auf seine Person ausgerichtet. Dadurch fand die nächste Wahl erst 2001 statt, wurde aber von der internationalen demokratischen Gemeinschaft nicht anerkannt. 1999 ging vornehmlich als das Jahr in die Geschichte ein, in dem prominente Oppositionelle verschwanden.
Das war der Moment, in dem Lukaschenko eine rote Linie überschritt, die das Szenario eines friedlichen Machtwechsels ausschloss. Nach dem Ende seiner Amtszeit hätte eine unabhängige Untersuchung der Fälle Gontschar, Krassowski, Sacharenko und Sawadski beginnen können, wie es die Angehörigen der Vermissten, die Opposition und westliche Politiker forderten. Und sehr schnell wären Hinweise darauf gefunden worden, dass auch dem belarussischen Präsidenten ein Platz auf der Anklagebank gebührt. Eigentlich verliert eine solche Untersuchung mit den Jahren nicht an Aktualität. Auch deshalb kämpfte Lukaschenko 2020 um seinen Absolutismus, ohne Rücksicht auf die Mittel. Etwas Schlimmeres als 1999 hätte dieses Regime auch vor vier Jahren nicht mehr anrichten können.
Die Immunitätsgarantien, die nach dem Referendum von 2022 in die Verfassung aufgenommen wurden, sind ebenfalls auf die Ereignisse von vor 25 Jahren zurückzuführen. Ergänzt wurde ein Punkt, dass „der Präsident nach dem Ende seiner Amtszeit für Handlungen, die er im Rahmen seiner Amtsausübung und seiner präsidentiellen Befugnisse ausgeführt hat, nicht zur Verantwortung gezogen werden kann.“
Der 70-jährige Lukaschenko spricht immer häufiger davon, dass er nicht ewig lebt, und baut gewissenhaft an einem System seiner persönlichen Sicherheit im Fall einer Machtübergabe an einen Nachfolger. Regelmäßig spricht er auch von der Notwendigkeit, dass seine Nachkommen sein Erbe bewahren. Was die Sicherheit angeht, kann ihm alles gelingen. Die Staatsmacht wirkt monolithisch, die Sicherheitsorgane befinden sich in ständiger Kampfbereitschaft, und von den Wahlen 2025 sind keine Überraschungen zu erwarten.
Das mit dem Erbe ist weniger rosig. Früher oder später wird Belarus eine Demokratisierung erfahren, das Volk wird sein Recht zurückerhalten, die Regierung zu wählen. Eine offene und transparente Untersuchung der aufsehenerregenden Entführungen von 1999-2000 wird auf jeden Fall zu den Prioritäten einer neuen Regierung gehören. Und die Ergebnisse, im ganzen Land veröffentlicht, könnten sogar die eisernsten Verfechter der belarussischen Stabilität erschüttern.
Weitere Themen
Bystro #31: Verfassungsreform in Belarus – Machtverlust für Lukaschenko?
Bystro #38: Proteste in Belarus 2020. Was ist vom Widerstand geblieben?