„Russlands Resilienz hat Grenzen“

Russland hat die Sanktionen wegen des Angriffskrieges auf die Ukraine bislang besser weggesteckt als erwartet. Das Haushaltsdefizit fällt in diesem Jahr geringer aus als geplant, der Entwurf für das kommende Jahr sieht noch einmal deutliche Steigerungen bei den Verteidigungsausgaben vor. Das liegt vor allem am hohen Ölpreis und an der schwachen Währung. Der Ökonom und Russland-Experte Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik erklärt, wo dabei die Risiken liegen und was was diese Entwicklung für die russischen Bevölkerung bedeutet.

dekoder: Russland kurbelt seine Rüstungsproduktion massiv an. Im Haushaltsentwurf für 2024 wurden die Ausgaben für Verteidigung fast verdoppelt. Mehr als jeder dritte Rubel wird für Militär und Sicherheit ausgegeben. Ist das schon Kriegswirtschaft? 

Janis Kluge: Aus meiner Sicht sind wir noch nicht an diesem Punkt. Um von Kriegswirtschaft zu sprechen, müssten etwa zivile Industrien per Dekret verpflichtet werden, für das Militär zu produzieren. So etwas hat es im Zweiten Weltkrieg gegeben. Wenn Fabriken, die vorher Autos herstellten, auf staatliche Anordnung hin gepanzerte Fahrzeuge vom Fließband ließen, wäre das Kriegswirtschaft. Letztlich ist das Planwirtschaft. In Russland sind aber marktwirtschaftliche Mechanismen bislang noch weitgehend in Kraft. Die Rüstungsproduktion läuft größtenteils über staatliche Unternehmen und gewöhnliche Marktprozesse. Im kommenden Jahr wird Russland insgesamt wahrscheinlich knapp zehn Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Militär und Rüstung aufwenden. Da kann man schon davon sprechen, dass die Wirtschaft auf das Kriegführen ausgerichtet wird. Aber obwohl die Kosten enorm sind, ist der wirtschaftliche Alltag davon noch relativ unbeeinträchtigt. Das wäre bei einer Kriegswirtschaft nicht mehr der Fall. 

Wie finanziert Moskau diese Ausgaben?

Trotz steigender Militärausgaben sollen die Ausgaben in anderen Bereichen nur leicht sinken. Dafür plant das Finanzministerium mit Mehreinnahmen in unterschiedlichen Feldern: Es gab im vergangenen Jahr eine Stundung von Sozialbeiträgen, die 2024 fällig werden. Im Öl- und Gassektor gibt es kleinere Steuererhöhungen. Dazu kommt eine neue Exportsteuer für viele Industrien, die steigt, wenn der Rubel fällt, und damit die Wechselkursgewinne der Exporteure abschöpft. Große Defizite sind nicht geplant, im Gegenteil: Das russische Haushaltsdefizit fällt in diesem Jahr sogar geringer aus als erwartet. Das Finanzministerium hatte für 2023 ein Defizit von zwei Prozent eingeplant, aktuell rechnet man nur noch mit einem Prozent. Die Kriegsausgaben lenken den Staat jedoch davon ab, nachhaltigen Wohlstand für die Bevölkerung zu schaffen.

Welche Rolle spielt dabei der schwache Rubel?

Der Staat profitiert von der schwachen Währung, weil er für jeden Dollar aus dem Export von Öl und Gas mehr Rubel in die Kasse bekommt. Umgekehrt werden Importprodukte teurer und der Lebensstandard der Bevölkerung sinkt. Auch Unternehmen spüren die Währungsschwäche, wenn sie zum Beispiel Maschinen aus China kaufen. Hohe Preise auf dem Weltmarkt und eine schwache Währung machen es für russische Unternehmen attraktiver, ihre Produkte zu exportieren. Der Staat hat deshalb zeitweilig den Export von Getreide und Benzin beschränkt. Denn wenn die Unternehmen mehr Geld mit dem Export verdienen können, sagen sie sich: Okay, dann erhöhe ich auch meine Preise im Inland. Für die Verbraucher wirkt die Rubelschwäche wie eine versteckte Besteuerung, im Ergebnis führt sie zu einer Umverteilung von den Bürgern in den Staatshaushalt.

Wie lange macht die Bevölkerung das mit?

Auf lange Sicht kann sich die Inflation zu einem Problem entwickeln. Der Staat wird deshalb auch die Renten und die Löhne staatlicher Bediensteter anpassen müssen. Auch deshalb will das Finanzministerium trotz der kurzfristigen Mehreinnahmen nicht, dass der Rubel weiter an Wert verliert. Im nächsten Jahr stehen außerdem Präsidentschaftswahlen an, und da ist es schlecht, wenn die Bevölkerung die gestiegenen Preise allzu sehr im Supermarkt spürt. 

Wie sieht es mit dem Arbeitsmarkt aus? 

Russlands Arbeitslosigkeit befindet sich derzeit auf einem Rekordtief, an vielen Orten herrscht Arbeitskräftemangel. Der ergibt sich aus mehreren Faktoren: Hochqualifizierte Fachkräfte verlassen das Land, weitere Arbeiter verschluckt die Mobilisierung. Außerdem treten aufgrund des demografischen Wandels aktuell ohnehin wenig junge Leute in den Arbeitsmarkt ein. Die niedrige Arbeitslosigkeit bedeutet auch: Viele Arbeitnehmer profitieren von der auf Krieg ausgerichteten Wirtschaft, denn durch die Knappheit steigen ihre Reallöhne stärker als die Inflation. Das trifft vor allem auf diejenigen zu, die in kriegsrelevanten Branchen arbeiten. Wenn einem der politische Hintergrund egal ist, ist die aktuelle Situation sogar ein guter Moment, um Karriere zu machen. Denen, die gut vernetzt sind und dem Krieg positiv gegenüberstehen, bieten sich durch die Abwanderung ausländischer Investoren viele Gelegenheiten. Deswegen fühlt es sich für viele Russinnen und Russen nicht wie eine Krise an.

Welchen Einfluss haben da die Sanktionen?

Von den Sanktionen sind besonders die Sektoren betroffen, die eng mit dem Westen verflochten waren, zum Beispiel die Automobilindustrie. Aber auch in vielen anderen, wirtschaftlich weniger wichtigen Branchen gibt es Auswirkungen: Kinos können sich zum Beispiel jetzt nicht mehr auf legalem Weg westliche Filme beschaffen. Hinzu kommt, dass die Sanktionen Fachleute dazu zwingen können, das Land zu verlassen, wenn sie weiterhin bestimmte westliche Software-Dienstleistungen nutzen oder Teil der vernetzten Welt sein wollen. Das macht sich vor allem in der IT-Branche bemerkbar. 

Je nach Schätzung sind im letzten Jahr bis zu einer Million Russinnen und Russen emigriert.

Ja, aber es haben auch einige Unternehmen ihre Zelte im Land abgebrochen. Es sind also nicht unbedingt so viele Stellen tatsächlich frei geworden, denn einige sind zurückgekehrt, nachdem sie den Schock der Teilmobilisierung überwunden hatten. Oder sie arbeiten aus der Ferne weiter für ihre russische Firma. Es ist also nicht so ganz klar, wie viele nun wirklich weg sind vom Arbeitsmarkt, deswegen ist der Effekt auf die Wirtschaftsleistung nicht eindeutig. Bei den weniger qualifizierten Berufen funktioniert weiterhin die Arbeitsmigration. Auch dieses Jahr sind wieder sehr viele Arbeitsmigranten vorrangig aus Zentralasien und dem Kaukasus nach Russland gekommen, die sind ein wichtiger Ersatz für russische Männer, die in die Armee eingezogen wurden. 

Wo weniger gearbeitet wird, kann weniger produziert werden. Der Staat muss seine Verluste also irgendwie kompensieren. Da ist zum Einen die wachsende Rüstungsindustrie. Was noch?

Der Staat versucht zu verhindern, dass die Produktion ausländischer Unternehmen wegfällt. Deshalb versucht die russische Führung, internationale Konzerne dazu zu zwingen, im Land zu bleiben oder ihre Unternehmen zu Spottpreisen an russische Eigentümer zu verkaufen, die das Geschäft fortführen sollen. Damit wird auch der Rubelkurs geschützt. Normalerweise müsste ein russischer Käufer, der ein deutsches Unternehmen übernimmt, erst einmal Euros besorgen, um es auszubezahlen. Der Abfluss ausländischen Kapitals schwächt aber weiter den Rubel, und das möchte man vermeiden. De facto werden Firmen wie Danone oder Carlsberg, die jetzt ihre Geschäfte aufgegeben haben, dadurch enteignet, selbst wenn sie nach den offiziellen Regeln spielen wollten.

Volkswagen hat seine Produktion in Russland nach Beginn des Angriffskrieges eingestellt. Das Werk in Kaluga könnte an einen chinesischen Hersteller gehen / Foto © Boevaya mashina/Wikimedia (CC BY-SA 4.0)Und das funktioniert?

Die Fortsetzung des Geschäfts nach so einem Eigentümerwechsel funktioniert unterschiedlich gut. Um das zu beurteilen, schaut man sich am besten die Lieferketten an. Je mehr das Unternehmen in westliche Lieferketten integriert ist, desto schwieriger ist es, die Produktion komplett vom vorherigen Eigentümer unabhängig zu betreiben. In der Automobilindustrie ist es bisher kaum gelungen, sie unter russischer Führung wieder in Gang zu bringen. Anders ist das zum Beispiel bei McDonald’s, weil es da von vornherein lokale Lieferketten gab. Aber das ist nicht alles, denn langfristig hat diese Unternehmen sicher noch mehr ausgezeichnet, als nur ein westliches Label auf irgendwelche russischen Dinge draufzuschreiben. Weil die Kommunikation mit dem Mutterkonzern jetzt abgeschnitten ist, werden wichtige Prozesse in den russischen Zombie-Unternehmen nicht weiter verbessert und dadurch fehlen Innovationen. 

Wie lange kann der Westen den wirtschaftlichen Druck aufrechterhalten? 

Für den Westen steht wirtschaftlich erst einmal nicht so viel auf dem Spiel wie für Russland, weil die Kosten der Sanktionen sich auf eine viel größere Volkswirtschaft verteilen, während der Schaden in Russland konzentriert auftritt. Für den Westen ist auch die Unterstützung der Ukraine nicht sehr teuer.

Ist die Belastung des Westens durch den Krieg, die viel diskutierte „Ukraine fatigue“, nur Einbildung?

Wenn die Unterstützer der Ukraine dauerhaft nur 0,3 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Ukrainehilfen aufbringen würden, wäre das immer noch mehr, als Russland aktuell für den Krieg ausgeben kann. Das spürt der einzelne Bürger nicht in seinem Portmonee. Aber die Frage „Unterstützen oder nicht?“ ertrinkt immer mehr in Symbolik und wird zu einem Streitthema in Wahlkämpfen. Tatsächlich kommt Deutschland trotz des Sondervermögens nur mit Ach und Krach auf die von der NATO empfohlenen 2 Prozent an Verteidigungsausgaben. Der Westen schöpft seine wirtschaftlichen Möglichkeiten, sich dem Krieg entgegenzustellen, nicht aus.

Wann könnte Russland doch noch in Schwierigkeiten geraten?

Der Ölpreis ist entscheidend. Russland hat aktuell kaum Reserven, um niedrige Preise abzufedern. Früher hat der Staat bei hohen Ölpreisen Reserven in ausländischen Währungen gebildet. Wenn die Preise wieder sanken, wurden die Reserven in Rubel umgetauscht, um den Rubel zu stärken. Diesen Ausgleichsmechanismus kann Russland jetzt nicht mehr auf die selbe Weise nutzen, denn durch die Sanktionen kann die Zentralbank die noch vorhandenen Reserven nicht mehr verkaufen und zumindest selbst auch keine neuen Reserven in liquiden Währungen wie Dollar und Euro anhäufen. Wenn der Preis für Öl plötzlich einbräche, wie etwa 2014, würde das Russland jetzt viel stärker treffen. Danach sieht es zwar aktuell nicht aus, aber dennoch: Russlands wirtschaftliche Resilienz hat Grenzen.

Experte: Janis Kluge
Interview: Alexandra Heidsiek
Veröffentlicht am 2.11.2023

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