Geburt und Tod der Russischen Welt

„Identitätskrise“, „Wertevakuum“, „kollektives Trauma“, „postimperiales Syndrom“ – nach dem Zerfall der UdSSR hat die russische Gesellschaft viele verschiedene Diagnosen bekommen. Zahlreiche Politiker und Intellektuelle haben in dieser turbulenten Zeit deshalb unterschiedliche Sinnangebote unterbreitet. Einer dieser Entwürfe stammte von den Polittechnologen Pjotr Schtschedrowizki und Efim Ostrowski. Demnach sollte Russland kein aggressives Imperium sein, sondern eine progressive Welt, die „neue Zukunftsbilder entfaltet“ und über eine starke Anziehungskraft verfügt – vor allem für die Menschen, die „auf Russisch denken und reden“. Diese Welt bekam einen Namen: russki mir – die „russische Welt“. 

Analog zur Frankophonie oder zum British Commonwealth war die „russische Welt“ ursprünglich ein Kulturkonzept. Es war die Idee einer friedlichen Wiederherstellung der Identität Russlands, Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit und Einbindung seiner in der ganzen Welt zerstreuten Diaspora.

Es kam anders: Bereits seit den frühen 2000er Jahren hat der Kreml immer wieder versucht, diese Idee zu instrumentalisieren, sie ideologisch aufzuladen und zur Durchsetzung des russischen Einflusses im postsowjetischen Raum einzusetzen. Historiker Ilja Budraitskis zeichnet für das Onlinemedium Posle (dt. Danach) die Geschichte und Umwandlung von russki mir von seiner Entstehung in den 1990er Jahren bis zum Angriffskrieg gegen die Ukraine nach.

Collage © Posle.Media

In seiner Rede kurz vor Kriegsbeginn bezeichnete Wladimir Putin die Ukraine als „integralen Bestandteil unserer Geschichte, Kultur und unseres geistigen Raums“. Daraus ergibt sich für ihn eine unmittelbare militärpolitische Folgerung: Die Grenzen dieses „geistigen Raums“ müssen mit den Staatsgrenzen der Russischen Föderation übereinstimmen. Die Idee einer Einheit von Kultur und Armee, von Staat und Sprache, von nationaler Identität und Staatsbürgerschaft ist bekannt als Doktrin des russki mir – der „russischen Welt“. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde sie vom Kreml konsequent verfolgt, bis sie endgültig zu einem Schlüsselelement wurde, das einem ganzen Volk sein Existenzrecht abspricht und einen Angriffskrieg rechtfertigt. Was verbirgt sich hinter dem Konzept der „russischen Welt“, und wie ist es entstanden?

Russisch sprechen, denken und fühlen

Der Begriff russki mir taucht in Moskaus intellektuellen Kreisen bereits in den 1990er Jahren auf, als Reaktion auf das Bedürfnis nach einer umfassenden kulturellen Definition der russischen Identität, die sich von nationalistischen und revanchistischen Definitionen abheben sollte. Anfang der 2000er Jahre wurde das Konzept jedoch um neue Inhalte erweitert und allmählich zur offiziellen Staatsdoktrin entwickelt. Im Oktober 2001 erläuterte Putin auf dem sogenannten „Weltkongress der [im Ausland lebenden] Landsleute“ zum ersten Mal sein Verständnis dieser Doktrin: Die „russische Welt“ bestehe aus Millionen von Menschen außerhalb der Russischen Föderation, die „russisch sprechen, denken und fühlen“. Die Zugehörigkeit zur „russischen Welt“, so Putin, sei eine freiwillige Entscheidung; sie sei „eine Frage der geistigen Selbstbestimmung“. Und weil „Russland konsequent den Weg der Integration in die globale Gemeinschaft und Wirtschaft“ gehe, hätten „unsere Landsleute alle Möglichkeiten, ihrem Heimatland in einem konstruktiven Dialog mit internationalen Partnern zu helfen“. Man merkt Putins Rede an, dass er sich damals viel mehr für die „russisch gesinnten“ Bewohner von London, Paris oder New York interessierte als für den Donbass oder Nordkasachstan. Das Jahr 2001 war so etwas wie Putins Flitterwochen mit dem Westen: Russland unterstützte aktiv die militärische Operation der USA in Afghanistan, während im eigenen Land liberale Wirtschaftsreformen durchgeführt wurden, die auch ausländische Investoren anziehen sollten. Insofern ist die „russische Welt“ auch als einflussreiche und wohlhabende Diaspora zu verstehen, die in einer globalisierten Welt Russland einen wichtigen Wettbewerbsvorteil bringen könnte.

Das Jahr 2001 war so etwas wie Putins Flitterwochen mit dem Westen

Die Idee der „russischen Welt“ als „kultureller und menschlicher Ressource“ auf dem Weltmarkt beschrieb detailliert der kremlnahe Polittechnologe Pjotr Schtschedrowizki bereits im Jahr 2000. Er trat als Verfechter der „russischen Welt“ als „humanitär-technologischem Ansatz“ auf und stellte sie dem serbischen Szenario einer „gewaltsamen Lösung territorialer und ethnokultureller Probleme“ entgegen.

Mitte der 2000er Jahre hatte Putins Russland jedoch als Rohstofflieferant seinen festen Platz in der Weltwirtschaft eingenommen, und die Entwicklung „kultureller Ressourcen“ rückte in den Hintergrund. Gleichzeitig versetzten die „Farbrevolutionen“ 2003 in Georgien und 2005 in der Ukraine der politischen Vorherrschaft Moskaus im postsowjetischen Raum einen schweren Schlag. Das Vertrauen des Kreml in seine informellen Beziehungen zu den lokalen Eliten wurde enttäuscht, während die allmähliche Abkühlung der Beziehungen zum Westen eine aktive Informationskampagne notwendig machte. 

Die russischsprachige Bevölkerung als Instrument der Einflussnahme 

Die „russische Welt“ wurde nun vollständig von den politischen Interessen des russischen Staates bestimmt: Die russischsprachige Bevölkerung des nahen Auslands musste zu einem Instrument der Einflussnahme werden, und aus Sympathie für Russland aufgrund seiner Geschichte und Kultur (und in diesem Sinne auch für Russland als Erbe der Sowjetunion) musste Unterstützung für seine Außenpolitik werden. Zu diesem Zweck wurden Mitte der 2000er Jahre Projekte wie die Stiftung Russki Mir, der Fernsehsender Russia Today, das Institut für Demokratie und Zusammenarbeit und das Rossotrudnitschestwo geschaffen. Jede dieser Institutionen spielte in der Förderung der russischen „Soft Power“ seine eigene Rolle: RT beispielsweise konzentrierte sich auf „alternative Nachrichten“, die die Positionen der westlichen Medien in Frage stellten und für den Kreml günstige Interpretationen des Weltgeschehens anboten, während das Institut für Demokratie und Zusammenarbeit ein Netzwerk konservativer Experten schuf, die Putins Russland als Bollwerk Europas gegen „Linksliberalismus“ und Feminismus zeichneten.

Die ‚russische Welt‘ wurde als Konglomerat von ‚Werten‘ verstanden, deren Förderung im Interesse des Staates ist

Die „russische Welt“ wurde nicht mehr einfach als die internationale Gemeinschaft der Russischsprachigen verstanden, sondern als Konglomerat von „Werten“, deren Förderung im Interesse des Staates ist. Es fand eine „Sicherheits-Politisierung der russischen Welt“ statt, wie die ukrainische Forscherin Vira Ageyeva es nannte: Der kulturelle Einfluss war de facto nicht mehr von der „nationalen Sicherheit“ und dem Schutz vor äußeren Bedrohungen zu trennen. Als der stellvertretende Chef des russischen Generalstabs Alexander Burutin 2008 die Gründung des Instituts für Demokratie und Zusammenarbeit begrüßte, hob er dessen Bedeutung für die „Informationskriege“ hervor, deren Objekt „die Menschen und ihre Weltbilder“ seien.

Waffe in einem unsichtbaren Krieg

In dieser Interpretation weichen die Grenzen zwischen „Soft Power“ und „Hard Power“ auf, und die Inhalte der „russischen Welt“ – Sprache, Kultur, das Gefühl einer „Verbindung zu Russland“ – sind nichts anderes mehr als eine Art Waffe in einem unsichtbaren Krieg. In der Interpretation des Kreml ist die „russische Welt“ lediglich eine Antwort auf die Expansion des Westens, der Begriffe wie „demokratische Wahlen“ oder „Menschenrechte“ als Mittel zur Schwächung Russlands einsetze. In dieser Interpretation besitzen „Werte“ keinen Wert an sich, sondern sind Instrumente für nationale Interessen. Und während jeder Menschenrechtsaktivist oder Oppositionelle innerhalb Russlands als Kanal für den westlichen Einfluss gebrandmarkt wurde, wurden die Träger russischer Kultur außerhalb Russlands zu Agenten des politischen Einflusses gemacht.

Sprache, Kultur, das Gefühl einer ‚Verbindung zu Russland‘ – sind nichts anderes mehr als eine Art Waffe in einem unsichtbaren Krieg

Nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Kriegs im Donbass 2014 ist die „russische Welt“ endgültig von den Zeichen der „Soft Power“ befreit und zum Irredentismus geworden – das heißt zu einem Programm zur Wiedervereinigung verlorener „historischer Gebiete“, wenn nicht innerhalb der Russischen Föderation, so doch in der direkten Umlaufbahn ihrer politischen und militärischen Präsenz. Patriarch Kirill erklärte in einer Rede, die „russische Welt“ sei „eine eigene Zivilisation von Menschen, die sich heute mit unterschiedlichen Namen bezeichnen – Russen, Ukrainer und Weißrussen“. Die Zugehörigkeit zur „russischen Welt“ ist in dieser Lesart keine Frage der persönlichen Entscheidung, sondern durch das Schicksal – per Herkunft und Geburtsort – bereits vorbestimmt. Für den Kreml-Strategen Wladislaw Surkow ist die „russische Welt“ überall dort, wo man „die russische Kultur schätzt, die russischen Waffen fürchtet und unseren Putin respektiert“. Teil der „russischen Welt“ zu sein bedeutet also, in irgendeiner Form ein Untertan Putins zu sein, seine Autorität anzuerkennen und sich ihr zu unterwerfen. Man kann sich keine Formel vorstellen, die den völligen Zusammenbruch aller bisherigen Vorstellungen von der „russischen Welt“ als „Soft Power“ deutlicher offenbaren würde: Russland darf nicht einfach für seine hohe Kultur geliebt werden, auch sein politisches und soziales Modell findet niemand attraktiv, dafür ist es in der Lage, mit seiner militärischen Macht Angst und Schrecken zu verbreiten.

Scheitern der „russischen Welt“

Die staatlichen Institute, die seit einem Jahrzehnt mit dem Aufbau der „russischen Welt“ betraut sind, haben sich als fruchtlos erwiesen, als ein weiterer Mechanismus zur Einverleibung riesiger Haushaltssummen. Selbst die Russisch-Orthodoxe Kirche, von der sich unmittelbar nach Kriegsbeginn Millionen ukrainischer Mitglieder abwandten, erlitt einen moralischen Bankrott. Das Scheitern der „russischen Welt“ als „Soft-Power“-Strategie ist jedoch nicht allein auf Korruption zurückzuführen, sondern vor allem auf die antidemokratische Weltsicht der russischen Staatselite, die zutiefst davon überzeugt ist, dass das einfache Volk unter keinen Umständen sein eigenes Schicksal bestimmen darf. Die eigentliche „russische Welt“ – die zig Millionen russischsprachigen Menschen – wurde nicht als Partner in einem gleichberechtigten Dialog, sondern als „Aktiva“ des Staates gesehen, die es zu verwalten und zu seinem Vorteil zu nutzen gilt. 

Das Scheitern der ‚russischen Welt‘ als ‚Soft-Power‘-Strategie ist jedoch nicht allein auf Korruption zurückzuführen

Heute ist diese „russische Welt“ buchstäblich zur Geisel und zum Opfer eines Staates geworden, der einen verbrecherischen Krieg führt. Es waren vor allem russischsprachige Ukrainer, die unter den russischen Bomben in Mariupol und Charkiw starben oder flüchten mussten. Die Logik des Kreml läuft auf eine grausame Formel hinaus: Wenn man die „russische Welt“ nicht unterwerfen kann, dann muss man sie zerstören. Daraus folgt, dass die russische Kultur und Sprache nur dann eine Zukunft haben können, wenn man sie auf den Trümmern des Putin-Staates aufbaut. 

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