„Solange die Hälfte des Landes im Zombie-Zustand verharrt, wird nichts besser“

Russlands Krieg gegen die Ukraine wird auch in den Köpfen der Menschen geführt. Das Politische schneidet dabei so scharf ins Private ein, dass ganze Familien zerbrechen. Seit der Invasion passiert das in Russland zigfach, noch mehr als das ohnehin schon seit 2014 und dem Krieg im Donbass der Fall war. Diese Kluft verläuft entlang der offiziellen Linie der russischen Führung, zwischen Eltern und ihren Kindern, unter Geschwistern, ja sogar Eheleuten. Der bekannte russische Journalist Andrej Loschak hat darüber einen Dokumentarfilm gedreht: Rasryw Swjasi (dt. Beziehungsabbruch). Er wurde auf YouTube veröffentlicht, eine der wenigen Nischen, in der in Russland noch kritische Standpunkte zum Krieg zu finden sind. 

Mit Loschak hat die ukrainische Journalistin Anna Filimonowa, Herausgeberin des Online-Magazins Majak, für Holod über seinen Film gesprochen – über Mütter, die Putin alles glauben, das Klammern an Mythen und die letzten Chancen des Zweifelns. 

Hier gibt es die Doku Rasryw Swjasi (dt. Beziehungsabbruch) mit englischen Untertiteln

Anna Filimonowa: Ich wollte Sie eigentlich zunächst fragen, seit wann Sie sich für das Thema Ukraine interessieren. Doch in Ihrer Dokumentation Rasryw swjasi geht es im Grunde gar nicht um die Ukraine, oder?

Andrej Loschak: Das ist heute schwer zu trennen – es ist nicht das erste Mal, dass Russland in die Ukraine einmarschiert und dort einen Krieg beginnt. Leider hängt die Situation in der Ukraine jetzt davon ab, was die Russen dazu denken und fühlen. Da gibt es eine direkte Verbindung: Je mehr Russen aufhören, das Vorgehen der Regierung zu unterstützen, desto schneller wird die Aggression vorbei sein. Und für mich als Journalist, der immer mit dem russischen Kontext gearbeitet hat, lag es in der Natur der Sache, etwas darüber zu machen, wie das alles in Russland wahrgenommen wird. Allein schon, weil ich viel weniger davon verstehe, wie es die Ukrainer wahrnehmen.

Die Idee mit der Kluft zwischen Familienmitgliedern hatte ich eigentlich seit 2014. Schon damals hat die Krim die Gesellschaft stark polarisiert. Wobei es jetzt, wie mir scheint, mehr Menschen gibt, die gegen den Krieg sind – oder zumindest zweifeln. Weil sie diesmal nicht mit irgendwelchen Märchen über grüne Männchen durchkommen und von Anfang an alles schiefgelaufen ist. Die Menschen sehen, dass das eine blutige, schwerwiegende, furchtbare Geschichte ist, sodass trotz allem Zweifel aufkommen.  

Je mehr Russen aufhören, das Vorgehen der Regierung zu unterstützen, desto schneller wird die Aggression vorbei sein

Ich habe mir diese Mütter in Ihrem Film angesehen und hatte den Eindruck, dass für sie allein schon der Gedanke unerträglich ist, dass ein russischer Soldat vergewaltigen, plündern und Zivilisten töten kann. Sie schieben diese Vorstellung weit von sich – das kann nicht wahr sein, das ist Fake. Meines Erachtens ist das ein sehr wichtiger Aspekt, denn er zeigt, dass nicht alles Menschliche in ihnen abgestorben ist.   

Natürlich. Für mich ist genau das der Knackpunkt des Films: Eigentlich sehen wir ganz normale Menschen. Das heißt, sie sagen ziemlich ungeheuerliche Sachen, aber wir sehen auch, dass sie liebende Eltern, Ehemänner und dergleichen sind. Das war der Grund, warum ich familiäre Beziehungen zum Thema machte – die sind immer sehr menschlich: Man sieht lebendige Gefühle, Leiden, Freude etc. Auch hier. Aber wenn sie über das zu sprechen anfangen, was in der Ukraine passiert, verlieren sie ihre Menschlichkeit irgendwie. Ob sie jetzt Zombies sind oder Unmenschen – irgendetwas stimmt mit ihnen nicht. Ihre Gedanken sind nicht ihre Gedanken. Als ob sie nicht mit eigenen Worten sprechen würden. Ihre Stimmen, die Intonation, ihr Gesichtsausdruck – an allem sieht man, dass das nicht ganz sie sind. Als würde etwas von ihnen Besitz ergreifen, ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Das ist wahrscheinlich etwas Psychologisches oder Psychiatrisches.

Die Menschen haben 22 Jahre lang gedacht, dass alles mehr oder weniger okay ist. Und dann sagt man dir plötzlich, dass Russland mittlerweile als eine Art faschistisches Deutschland wahrgenommen wird

Wenn sie den Gedanken zulassen würden, dass die Russen das alles wirklich machen, dass sie auf fremdem Territorium Menschen umbringen, dann wäre das sehr schlimm für sie, sehr schockierend. Mit diesem Gedanken will die Mehrheit der Menschen, nach allem zu urteilen, einfach nicht leben.      

Diese Menschen haben 22 Jahre lang gedacht, dass alles gut ist, dass Putin unser Präsident, unser nationaler Leader ist, dass er gegen Feinde der Heimat kämpft, gegen den Westen, der uns zerstören will. Ihnen schien, dass alles mehr oder weniger okay ist. Und dann sagt man dir plötzlich, dass Russland mittlerweile als eine Art faschistisches Deutschland wahrgenommen wird. Es ist sehr schwer, das zu glauben, es ist sehr schwer, das zu akzeptieren. Der Mensch ist offenbar so angelegt, dass er sich bis zuletzt an irgendwelche Mythen klammert wie an Rettungsringe, die sein Bewusstsein ihm hinwirft. „Unsere Soldaten sind zu so etwas schlichtweg nicht imstande.“ Wirklich nicht? Haben Sie gesehen, was sie in Tschetschenien angerichtet haben?

Der Mensch ist offenbar so angelegt, dass er sich bis zuletzt an irgendwelche Mythen klammert wie an Rettungsringe

Ich habe Bücher über einfache Leute und über Soldaten im Dritten Reich gelesen, die ungeheuerliche Verbrechen begingen, aber bis dahin ganz normale Bürger waren. In ihren Verhörprotokollen ging es darum, wie sie sich verhalten haben und warum sie sich so verhalten haben. Sie sagten, sie wollten dazugehören. Alle machen das, soll ich etwa nicht? Bin ich etwa keiner von ihnen? Bin ich denn schwach, bin ich feige? Nein, ich will auch dabei sein. Man will nicht in der Minderheit sein – das macht Angst. Wenn man zur Mehrheit gehört, fühlt man sich irgendwie wohler. Und dann zimmert man sich seine Realität zurecht: Unsere Soldaten würden das nie tun. Punkt. Sie glauben das ja wirklich. Es ist nicht so, dass sie mich zynisch hinters Licht führen wollten, sondern sie glauben das. 

Ihr Film wurde in Tbilisi öffentlich gezeigt, und die Zuschauer lachten an den Stellen, wo Befürworter des Kriegs sprachen. Hat Sie das beeindruckt?

Ich habe davon gehört, dass die Leute gelacht haben, ja. Und meine Redakteurin Darina Lukutina sagte, dass das wie eine Schutzreaktion klang, ein sehr nervöses Lachen. Ich habe im Grunde kein Problem damit, wenn jemand über Dummheit oder logische Ungereimtheiten lacht – davon gibt es in den Antworten jener, die für den Krieg sind, genug, und ich habe bewusst versucht, sie herauszustellen.   

Es gibt da auch einen interessanten Effekt. Sie übernehmen quasi irgendwelche Formeln aus dem Fernsehen oder woher auch immer. Doch wenn man weiterbohrt und versucht, in die Tiefe zu gehen, fangen sie an, sich zu widersprechen und zu stammeln wie Studenten bei einer Prüfung, für die sie nicht gelernt haben. Das zu zeigen, war mir wichtig. Wie Menschen, die sich vor der Realität verstecken, einfach das glauben, was ihnen die Propaganda vorgaukelt. Aber die Propaganda benimmt sich oft seltsam – wenn sie etwas richtig verschissen haben, dann verbreiten sie einfach tonnenweise unterschiedliche Versionen und überfluten den Informationsraum mit Dreck. So wie bei Butscha. So kriegt man das Gefühl, dass alle lügen, und glaubt niemandem mehr – auch den Ukrainern nicht. 

Sie sind Menschen, normale Bürger, die sich auf diese Weise über Wasser halten. Doch das befreit sie nicht von ihrer Verantwortung, auf keinen Fall

Ich glaube nicht, dass das Publikum aus Herzlosigkeit gelacht hat. Und ich wollte meine Protagonisten auch nicht karikieren und lächerlich machen. Ich wollte, dass die Zuschauer in ihnen Menschen sehen. Weil das alles sehr komplex ist, sie sind nicht einfach irgendwelche Trolle oder Orks. Sie sind Menschen, normale Leute, die sich auf diese Weise über Wasser halten. Doch das befreit sie nicht von ihrer Verantwortung, das auf keinen Fall.

Sie sprechen davon, wie brüchig ihre Haltung ist. Wobei es unmöglich ist, sie von etwas anderem zu überzeugen.

Das ist deswegen unmöglich, weil es ein Glaube ist und sich somit außerhalb jeglicher Logik befindet: Es ist absurd, also glaube ich.

In Ihrem Film spricht eine Psychotherapeutin über eine narzisstische Spaltung: ein beklemmendes Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit, das man mit einem Gefühl von Grandiosität bekämpft. Das wird als narzisstischer Schutz bezeichnet. Mit der Mutter dieser Psychotherapeutin hatte ich am meisten Mitgefühl, weil sie so vertrauensselig in dieser Falle sitzt und inständig glaubt, für das Gute zu sein, aber in Wirklichkeit auf der Seite des Bösen steht. Was alle anderen betrifft, kommt natürlich so ein Gefühl auf, wo man auf Revanche hofft: Ich warte auf den Moment, wenn ihr endlich die Wahrheit erfahrt. So einen Film würde ich mir gern anschauen. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob das je passieren wird.  

Ja, ich träume auch davon, das zu sehen. Nicht aus Schadenfreude – für mich als jemanden, der immer noch russischer Patriot ist und dem Land  nur das Beste wünscht, ist es wichtig, dass diese Leute aufwachen. Das Entsetzen in ihren Augen zu sehen – das wäre ein Meilenstein auf dem Weg zu einer umfassenden Genesung. Das würde ich gern noch erleben. Denn solange mindestens die Hälfte des Landes in einem realitätsfremden Zombie-Zustand verharrt, wird in diesem Land nichts besser werden. Und das ist eine echte Bedrohung für die ganze Welt.

Es ist wichtig, dass diese Leute aufwachen. Das Entsetzen in ihren Augen zu sehen – das wäre ein Meilenstein auf dem Weg zu einer umfassenden Genesung

Ich weiß nicht, was die Soldaten denken. Ich würde ja gern eine Methode erfinden, wie ich in die Köpfe jener Leute hineinkriechen kann, die die Kriegsverbrechen verübt haben. Die Protagonisten von Rasryw swjasi kann man als Opfer betrachten – sie wurden gehirngewaschen, für dies und jenes drohen Haftstrafen, sie haben Angst und all das. Aber sie sind nicht direkt an Kriegsverbrechen beteiligt. Doch die, die im Krieg sind – ich würde nur zu gern wissen, was in ihnen vorgeht, was sie antreibt zu tun, was sie tun.  

Verfolgen Sie weiterhin, was mit Ihren Protagonisten passiert? Diejenigen, die in Russland leben und gegen den Krieg sind, gehen ja bestimmt ein Risiko ein. Hat sich in ihrem Leben etwas verändert?

Noch scheint alles relativ okay zu sein. Bis auf ein paar nervenaufreibende Anrufe ist bisher nichts passiert. Es sah zwar so aus, als gäbe es [für die staatliche Willkür] überhaupt kein Halten mehr, aber vielleicht doch. Den Leuten wird nicht einfach gekündigt, nur weil sie im Film sagen, dass sie gegen den Krieg sind. Mehr sagen sie ja nicht, sie sagen nichts Strafbares. Nur: Wir wollen keinen Krieg. 

Halten Sie es für möglich, dass Sie nie mehr nach Russland zurückkehren können?

Ja. Wahrscheinlich ist mir das noch nicht sehr bewusst, aber ich will nicht so wie die Protagonisten in meinem Film sein und mich an irgendwelche illusorischen Konstrukte klammern. Man muss sich deutlich bewusst machen, dass diese Möglichkeit besteht. Die Erfahrung früherer Migrationswellen zeigt, dass sich das jahrzehntelang hinziehen kann. 

Noch habe ich keine nostalgischen Anfälle von Heimweh, weil diese Erfahrung ja noch ganz frisch ist. Später wird das schon noch kommen, aber darum geht es nicht. Das Problem ist, dass mein Beruf mit Russland verbunden ist. Das ist das, wo ich mich halbwegs kompetent fühle: Ich kann Geschichten aus der russischen Pampa erzählen, über Russland und die russische Mentalität. Mich haben die Paradoxa dieser Mentalität immer interessiert, und damit habe ich gearbeitet. Ich kannte die Antworten nicht, aber ich wusste, welche Fragen ich stellen will. Jetzt muss ich mich wohl irgendwie umorientieren. Hinfahren [nach Russland] wird kaum gehen, dabei mache ich hauptsächlich Reportagen: Man fährt an den Ort, in die Gegend, und unterhält sich mit den Leuten dort. Wie es für mich jetzt ohne dieses Land weitergehen soll, das ist die große Frage.   

Wie es für mich jetzt ohne Russland weitergehen soll, das ist die große Frage

Wahrscheinlich wird sich mit der Zeit der Kontext ändern, es werden andere Interessen dazukommen. Aber ich stelle mir auch die Frage: Wozu machst du das? Weil ich eigentlich schon die russische Zielgruppe vor Augen hatte. Für wen soll ich sonst arbeiten, wenn nicht für sie? Wenn die Verbindungen jetzt endgültig abreißen – wenn das Internet abgedreht wird oder einfach bei jedem, der irgendetwas aus dem Ausland anklickt, sofort Genosse Major anklopft. Das ist denkbar, es geht in diese Richtung, ich bin darauf gefasst. Aber es macht mich fertig.    

Ich kann die Ukrainer nicht dazu bewegen, mit den Russen mitzufühlen, aber ich glaube, wir vergessen manchmal, dass ihr euer Land verliert. Wir verlieren unser Land nicht. Es stimmt, uns droht der Tod, aber was uns bleibt, ist unser Land. 

Ja, das ist ein grundlegender Unterschied. Ihr habt ein Land, in das ihr zurückkehren könnt. Also, natürlich müsst ihr euch erstmal von dieser Horde befreien, aber dann könnt ihr zurückkehren und aufbauen. Und ihr wisst, was ihr bauen wollt und wie. Bei uns herrscht absolute Ungewissheit. Vor uns liegt die Finsternis, ansonsten sieht man nichts mehr.          

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