Bystro #30: Warum ist Lukaschenkos Machtapparat derart stabil?

Das Jahr 2021 in Belarus war geprägt von einer Radikalisierung des Machtapparats um Alexander Lukaschenko: Der hat die Medien, die Zivilgesellschaft, Aktivisten oder Andersdenkende mit scharfen Repressionen bekämpft. Mittlerweile ist kaum noch jemand sicher vor dem Zugriff der Silowiki, auch für Kommentare auf Facebook oder Reposts in den sozialen Medien werden mittlerweile mehrjährige Haftstrafen verhängt. Zusätzlich wurden wichtige Posten in Regierung, Wissenschaft oder Administration mit Leuten aus den Sicherheitsdiensten wie beispielsweise dem KGB besetzt.

Warum arbeitet diese Repressionsmaschinerie derart konsequent? Wieso ist die Machtvertikale zu Beginn der Proteste nach dem 9. August 2020 nicht erodiert und weshalb zeigt sich der Apparat derart loyal gegenüber Lukaschenko? Auf diese und andere Fragen gibt der belarussische Politologe Waleri Karbalewitsch Antworten in diesem Bystro.
 

1. Welche Rolle spielt der Machtapparat für Lukaschenko?

Wie in jedem undemokratischen Staat spielen die Silowiki der Sicherheitsapparate und vor allem der Geheimdienste eine übergroße Rolle. Sie sind die zentrale Institution eines solchen Staates, das tragende Element des herrschenden Regimes und das wichtigste Instrument zum Machterhalt. Ihre Funktion ist in Belarus sehr viel weiter gefächert als in einem demokratischen Staat. Doch ihre Hauptfunktion besteht keineswegs im Schutz der Bevölkerung vor Verbrechern oder der Wahrung der öffentlichen Ordnung, sondern in der Verteidigung des Regimes gegen politische Opponenten. Wichtigste Aufgabe der Silowiki ist die Bekämpfung der Opposition. Sie sind an keinerlei Gesetze gebunden und ausgestattet mit dem Recht auf uneingeschränkte Macht. In Belarus gibt es keine zivile Kontrolle über das Militär und die Sicherheitsapparate.
Die Leiter sämtlicher Sicherheitsorgane sind Lukaschenko persönlich unterstellt; sie werden von ihm ernannt und entlassen. Sie alle konkurrieren um die Gunst des Herrschers und belauern sich gegenseitig.

2. Was hat sich innerhalb des zentralen Machtapparats durch die Proteste verändert?

Nach den Massenprotesten von 2020 wurden politische Repressionen zum Hauptaspekt der staatlichen Politik. Deswegen nahm die Dichte und die Bedeutung der Silowiki erheblich zu. Die staatlichen Institutionen entwickeln sich in Richtung Militarisierung, Militärregime und Polizeistaat. Die Silowiki sind in Lukaschenkos Staat zum systembildenden Element geworden.

Silowiki besetzen unterdessen Schlüsselposten im Staat. So ist etwa der Leiter der Präsidialadministration, Igor Sergejenko, ein General des KGB. Zum Katastrophenschutzminister wurde Wadim Sinjawski ernannt, ein General der Miliz. Justizminister ist der General der Miliz Sergej Chomenko. Selbst der Posten des stellvertretenden Vorsitzenden des Präsidiums der Nationalen Akademie der Wissenschaften wird von Oleg Tschernyschow, dem ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden des KGB, besetzt. Als Initiator für Gesetzesänderungen tritt in letzter Zeit vor allem das Innenministerium auf. Mal will das Ministerium Abonnenten „extremistischer“ Telegram-Kanäle zu Mitgliedern extremistischer Organisationen erklären. Mal will es Belarussen, die ins Ausland gegangen sind und es wagen, die Zustände im Land zu kritisieren, die Staatsbürgerschaft entziehen.

3. Der KGB gilt als eine der wichtigsten Säulen des politischen Systems Lukaschenkos. Wie mächtig ist er wirklich?

Sehr mächtig. Lukaschenko hat den Geheimdiensten jene Funktionen wiedergegeben, die sie in der UdSSR hatten. Laut Gesetz ist der KGB wie zu sowjetischen Zeiten zugleich Geheimdienst, Polizei- und Justizorgan sowie staatliche Verwaltungsbehörde. Er ist berechtigt, Verordnungen zu erlassen, die für andere staatliche Stellen verbindlich sind. Er kann seine Vertreter in eine Reihe mit den staatlichen Behörden stellen, und er kann in bestimmten Fällen die Truppen und Mittel der Armee, des Innenministeriums und des Grenzschutzes nutzen. Das Gesetz berechtigt den KGB, sich uneingeschränkt in die Tätigkeit aller (auch nichtstaatlicher) Wirtschaftssubjekte, Parteien, gesellschaftlicher Organisationen und in das Privatleben der Bürger einzumischen. Nach 2020 hat der KGB an Bedeutung gewonnen. Seine Aufgabe besteht jetzt darin, den Staatsapparat intensiv zu säubern und illoyale Verwaltungsbeamte aufzuspüren.

4. Warum konnten die Proteste dem Machtapparat nichts anhaben?

Für die Stabilisierung des Systems war es wichtig, dass Lukaschenko nach dem Beginn der Massenproteste 2020 die Leiter der Sicherheitsorgane ausgetauscht hat. Und zwar, weil er an deren Loyalität zweifelte. Wir können davon ausgehen, dass es dort anschließend gehörig anfing zu brodeln, denn in solch kritischen Momenten sind derlei Personaländerungen in den Sicherheitsbehörden nicht üblich. 
Die Proteststimmung in der Bevölkerung und der „Aufstand der Massen“ führten jedoch nicht zu einer Krise der Obrigkeit und nicht zu einer Spaltung der Eliten, was allen Theorien zufolge unabdingbare Voraussetzung für den Sieg einer Revolution ist. Die Erwartung, dass der Staatsapparat unter dem moralischen und psychologischen Druck der Bevölkerung auseinanderfällt und auf die andere Seite der Barrikaden wechselt, hat sich schlichtweg nicht bewahrheitet.

5. Warum sind die Fundamente dieser sehr loyalen und einflussreichen Machtvertikalen derart stabil?

Der Machtapparat blieb hinter Lukaschenko, weil das autoritäre Regime in Belarus mächtig und konsolidiert ist. Keine einzige staatliche Institution wird vom Volk gewählt, ist der Bevölkerung gegenüber verantwortlich oder wird vom Volk kontrolliert. Der Staatsapparat ist absolut frei von Dissens. Für Regimegegner gibt es dort und in diesem politischen System keinen Punkt, an dem man den Hebel ansetzen könnte. Die Opposition bewegt sich seit einem Vierteljahrhundert außerhalb des Systems. Es herrscht eine strenge Machtvertikale, die von oben, von Lukaschenko persönlich gestaltet wird. Der Staatsapparat ist nicht von der Bevölkerung abhängig und reagiert deshalb nicht auf deren Forderungen, sondern bleibt demjenigen gegenüber loyal, der ihn geschaffen hat.

Gleichzeitig ist der Staat in Belarus in allen Bereichen des öffentlichen Lebens ganz massiv präsent. Der Staat dominiert nicht nur die Wirtschaft, sondern auch den sozialen Bereich (Wohnungswesen, Gesundheit, Bildung), die Medien, die Kultur, den Sport und so weiter. Der Staat ist der wichtigste Arbeitgeber. Dadurch kann die Regierung die Gesellschaft unter die Kontrolle des Staates nehmen. Die politischen Repressionen werden nicht nur von den Polizei- und Justizbehörden und den Geheimdiensten vorgenommen, sondern von allen staatlichen Stellen. Die Arbeit sämtlicher staatlicher Einrichtungen ist jetzt weniger auf deren eigentliche Funktion ausgerichtet, sondern vor allem auf Repressionen.

Vor den Wahlen und auch danach hat Lukaschenko die Finanzierung der Polizei- und Justizbehörden erheblich aufgestockt. Bis zum August 2020 wurden jedem Milizionär, der an der Unterdrückung von Protesten teilnahm, rund 400 US-Dollar pro „Arbeitstag“ gezahlt. In Belarus ist das fast ein durchschnittlicher Monatslohn. Das Monatsgehalt von Angehörigen der Sondereinheit OMON betrug während der Massenproteste nach unterschiedlichen Berechnungen zwischen 2000 und 6000 US-Dollar.

6. Man hört immer wieder den Vorwurf, dass die Proteste zu friedlich waren, um den Machtblock zum Einsturz zu bringen. Hätte Gewalt gegen diesen hochgerüsteten Apparat überhaupt etwas ausrichten können?

Erstens zeigt die internationale Erfahrung, dass gewaltsame Auseinandersetzungen auf der Straße die Zahl der Protestierenden auf ein Viertel schrumpfen lässt. Zweitens wurde gegen die Protestierenden das Militär mit Maschinenpistolen in Stellung gebracht, also Truppen mit Kampfbewaffnung, und nicht nur mit Wasserwerfern und Gummigeschossen. Die Kräfteverhältnisse waren absolut zu Ungunsten der Protestierenden. Und der Versuch eines großen gewaltsamen Widerstands hätte zu sehr vielen Opfern geführt. Drittens hätte ein gewaltsames Vorgehen der Protestierenden eine militärische Intervention Russlands bedeutet; Putin hatte die ja angekündigt. Dann hätte sich das ukrainische Szenario wiederholt. Viertens würde ein Sieg über die Diktatur, der mit Gewalt errungen wird, diese Gewaltkomponente in die Politik eines neuen Regimes weitertragen. Die gewaltsame Konfrontation zwischen verschiedenen politischen Kräften würde sich dadurch verstetigen.

7. Wie sieht es mit der Zusammenarbeit zwischen den russischen und belarussischen Silowiki-Strukturen aus und hat der Kreml irgendeinen Einfluss auf den zentralen Machtapparat Lukaschenkos?

Die Zusammenarbeit der russischen und belarussischen Militär- und Sicherheitsapparate ist ziemlich eng und hat sich nach 2020 verstärkt. An erster Stelle stehen vom Umfang her die Streitkräfte und die Verteidigungsministerien der beiden Länder. Ein beträchtlicher Teil der belarussischen Offiziere wird an der russischen Militärakademie ausgebildet. Auch die Geheimdienste, der KGB in Belarus und der FSB in Russland, arbeiten intensiv zusammen. 

Was den Einfluss Russlands auf die Silowiki und den Militär- und Sicherheitsapparat in Belarus angeht, der ohne Lukaschenkos Wissen oder über seinen Kopf hinweg erfolgt, so ist der nicht groß. Die jetzige Offiziersgeneration hat ihre Karriere im unabhängigen Belarus gemacht. Außerdem bespitzeln sich die belarussischen Geheimdienste und Sicherheitsbehörden gegenseitig. In den letzten Monaten wurden Aufzeichnungen von Gesprächen und Telefonaten einiger Generäle und Offiziere verschiedener Behörden ins Internet gestellt. So stellte sich heraus, dass die Telefone des Innenministers und seiner Stellvertreter abgehört wurden.

8. Hat die demokratische Staatenwelt irgendwelche Möglichkeiten, Lukaschenkos Machtgefüge unter Druck zu setzen?

Es ist unwahrscheinlich, dass der Westen oder die Opposition politischen Druck auf diesen Apparat ausüben könnten. Im letzten Jahr gab es eine radikale Säuberung sämtlicher Sicherheitsbehörden, und sie wird fortgesetzt. Alle Mitarbeiter, die der Illoyalität verdächtigt wurden, wurden entlassen. Die verbliebenen stehen unter sorgsamer Kontrolle. Ihre Telefone werden überwacht (damit sie keine oppositionellen Telegram-Kanäle abonnieren), ihre Loyalität wird mit Hilfe von Lügendetektoren geprüft und Auslandsreisen sind ihnen verboten. Jede Illoyalität wird streng bestraft. Die wenigen Offiziere, die 2020 aus Protest gegen Lukaschenkos Politik ihre Entlassung einreichten, sitzen im Gefängnis. Das sind die Gründe, warum der Staatsapparat und vor allem der Militär- und Sicherheitsapparat nun monolithischer und gefestigter auftreten.

9. Was müsste passieren, damit die Machtvertikale ihre Stabilität einbüßt?

Es braucht eine heftige politische Krise, die das herrschende politische Regime bedroht, damit diese Vertikale ins Wanken gerät. Das könnte durch neue Massenproteste der Bevölkerung erfolgen, durch heftigen Druck aus Russland, einen sozialen oder wirtschaftlichen Zusammenbruch aufgrund von Sanktionen durch den Westen und so weiter. Es könnte auch durch einen Rückzug Lukaschenkos vom Präsidentenamt erfolgen, durch eine Doppelherrschaft. Solche Situationen sind aber nur schwer zu prognostizieren.

 

*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

Text: Waleri Karbalewitsch
Übersetzung: Hartmut Schröder
Veröffentlicht am: 16. Dezember 2021

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