Minsk-21, Transitzone

Zichan Tscharnjakewitsch, 1986 in der süd-belarussischen Stadt Pinsk geboren, gilt als einer der bekanntesten Literaturkritiker und -kenner seiner Generation. In diesem Text beschreibt er die momentane Lage, in der sich viele seiner Landsleute nach einem Jahr der scharfen Repressionen befinden. Eine Lage, die einem Zwischenzustand gleicht, wie in der Transitzone eines Flughafens, in der man die Gedanken ordnend vor sich hindämmert, bevor man endlich seinen Weg fortsetzen und in die Zukunft aufbrechen kann.

Russische Version auf Colta.ru

„Knoten der Hoffnung“ / Illustration © ToslaDie Stadt ist alt geworden, das spürt man. Obwohl, verflixt – ich weiß nicht, wie ich es euch erklären soll. Vielleicht ist mir etwas ins Auge geraten – Staub, ein Spiegelsplitter, und plötzlich ist alles verkehrt. 

In den Trolleybussen riecht es nach Kölnisch Wasser, nach süßlichen Fahnen von Obstwein, nach vergilbtem Mull selbstgebastelter Masken, nach warmem, feuchtem Kohlendioxid: Das schlägt sich an den geschlossenen Fenstern nieder und trägt den Tod in sich. Immer hustet jemand, ständig sitzt jemand ohne Maske da und hustet. Was hast du hier verloren, Jacques-Yves Cousteau, das erste Mal in deinem Tiefsee-U-Boot,  sehr unbequem, wie lang sich dieser Tauchgang wohl hinzieht. 

Ich stürze aus dem Trolleybus und stehe vor einer Polizeistreife. Denn in letzter Zeit geht es mir immer so: Wenn ich aus dem Trolleybus steige, stoße ich unweigerlich auf eine Polizeistreife. Neulich ging ich beim Polizeirevier Perwomaiski die Bjalinskaha Straße entlang und sah, wie die Patrouillen losmarschierten: Jede Minute kamen drei aus dem Tor heraus, dann wieder drei, insgesamt dreißig Mann mit Schlagstöcken. Hätte man die Szene gefilmt, hätte sie eins zu eins in den Director’s Cut von The Wall gepasst. Wäre später natürlich rausgeflogen. Denn eigentlich ist das langweilig. Nichts Lebendiges, keine hyperboreische Freude in den Bewegungen, keine Sturmhauben und Munitionsgürtel mehr. Routine.  

Das letzte Mal, dass einer der berühmten grünen Gefängnistransporter zielstrebig durch die Stadt rollte, war im Juli. Es war heiß, und die schwarzen Sturmhauben ragten aus den offenen Autofenstern, scannten angespannt die Umgebung. Es war der letzte Schultag und offenbar hatte sich jemand im Innenministerium gedacht, dass zumindest ein paar angenebelte Schulabgänger, die Fahnen von Eukalyptus und Menthol verströmten, sich mit inoffizieller Symbolik schmücken, regierungsfeindliche Parolen rufen, sich einer Festnahme widersetzen und an Uniformen zerren würden. Aber nein.    

Was soll ich denn sagen über die Zukunft? Sie dauert schon lange. Zeitspannen haben mich schon früher beschäftigt. Einmal habe ich den Sohn von Jakub Kolas gefragt, was denn Janka Kupala für ein Typ war. Während ich mich mit ihm über die 1930er und 1940er Jahre unterhielt, spürte ich eine gigantische, kosmische Distanz. Denn Gewalt verdichtet das Zeitgefühl. Gefüllt mit Gewalt, vergehen die Tage langsamer, sind voller Leidenschaft, Schmerz, Moosbeersaft. Je mehr kaputte Seelen, desto größer die Amplitude. Und das Blut in den Adern fließt nicht mehr, sondern verklumpt, verstopft und sperrt dich ein zwischen Vergangenheit und Gegenwart.    

Außerdem: Zukunft ist nur im Prozess ihrer Gestaltung möglich. Dafür braucht man Baumaterial und ständig erneuerbare Energiequellen. Modelle, Pläne, Programme, für die es Spielregeln gibt und die man befolgen und umsetzen kann. Besser: nicht nur umsetzen kann, sondern auch wirklich will. Gleich nach dem Aufstehen, ohne erst mal eine zu rauchen.   

Noch will man nach dem Lesen der Morgennachrichten sofort eine Zigarette rauchen: Einer ist zu Hause umgebracht worden, einer im Gefängnis gestorben, einer kam aus dem Gefängnis, hatte plötzlich Krebs und starb; wieder ein anderer sitzt einfach und lebt noch, hat zehn Tage bekommen. Oder zehn Jahre. Gerade waren es noch 700 politische Gefangene, kaum schaust du dich um, sind es schon über 900. Gerade hieß es noch, ein paar tausend politische Strafprozesse, und bumm, plötzlich sind es 5000. Sind fünf noch ein paar? Keine Ahnung, ich bin kein Linguist.      

Keiner meiner Freunde kauft Lebensmittel auf Vorrat. Das ist alles Luxus, den man vielleicht gar nicht brauchen wird. Ein halbes Dutzend Eier, zwei Syroki, ein kleiner Becher Schmand. Eine Packung Toastbrot wirkt schon merkwürdig. Planst du etwa für eine ganze Woche? Willst du 100 werden?


Und immerzu hustet jemand. Gestern bin ich in die Stadt gegangen, um mir den chinesischen Impfstoff spritzen zu lassen, damit ich ein Zertifikat bekomme, mir ein Ticket an die nächstbeste Küste kaufen kann, wo ich mitsamt der Kleidung ins Meer steige und vielleicht gleich dort abkratze. Im Stadtzentrum tummelten sich scharenweise Migranten, manche sogar mit Dolmetschern. Sie schienen bester Stimmung. „Ungefähr so werde ich auch drauf sein, wenn ich das Meer sehe“, dachte ich. Aber den chinesischen Impfstoff gab es nirgends, es gab nur noch Sputnik. „Ist hier vielleicht der chinesische aufgetaucht?“ habe ich bei den Impfstationen im ZUM und im GUM gefragt. „Noch nicht, kommen Sie morgen wieder. Alle fragen danach – Sie sind viele, und ich bin hier ganz allein.“

„Hätte ich ihr Geld zustecken sollen, oder Konzertkarten für Gasmanow?“, so die trostlosen Gedanken eines Menschen, der sich in der Fernsehgeräteabteilung des ZUM umschaut. Auf zwanzig Bildschirmen  gleichzeitig die Übertragung einer Sendung über die Entwicklung strukturschwacher Regionen. Es wurde vorgeschlagen, irgendwo Geld aufzutreiben und es großzügig in die Erneuerung der bestehenden Ordnung zu stecken.

Alle Regionen, die in der Sendung rückständig genannt wurden, würden im Fall einer Grenzziehung im Osten in den unteren und mittleren Schichten der Atmosphäre bestimmt zu Schmugglerparadiesen und bei Aufstiegsströmungen zu Freihandelszonen. Doch solange es keine Grenze gibt, fahren die Bewohner lieber auf Baustellen nach Moskau, um Estrich zu gießen und wer das nicht kann, um sich die Kehle zu füllen. Ich behielt meine Gedanken aber für mich. Wer weiß, was für Gerätschaften in dieser Fernseherabteilung noch herumstehen. Wozu habe ich überhaupt diesen ganzen Absatz geschrieben? Ich interessiere mich doch eigentlich gar nicht für Politik.    

Auf den Bildschirmen läuft jetzt ein Fußballspiel. Doch für Fußball interessiere ich mich auch nicht. Ja klar, ich habe davon gehört, dass letztes Jahr bei der Nationalmeisterschaft im Finale, in den letzten entscheidenden Sekunden, jemand den Ball von der Spielfeldmitte direkt ins Tor des amtierenden Meisters befördert hat. Doch der Schiedsrichter hat das Tor für ungültig erklärt. Als die Mannschaft daraufhin rebellierte, hat der Schiedsrichter alle einsperren lassen, die Fans im Stadion mit Granaten beworfen und dann ebenfalls festnehmen lassen. Die, die die Übertragung verantworteten, wurden auch eingesperrt, und jetzt buchtet man die ein, die die Übertragung gesehen haben. Ich habe das Spiel natürlich nicht gesehen, ich habe nur davon gehört. Ich besitze ja nicht einmal einen Fernseher. Wie gesagt, ich interessiere mich nicht für Fußball.

Die Stadt ist voll gelbem Ahorngestöber. Instagram ist voll bunter Blätter und in Vorstadtwäldern gefundenen Steinpilzen und Rotkappen. Es gibt auch Fans von Täublingen und Milchlingen, aber das ist eine Kaste für sich, viele Likes bekommen sie nicht. Der Schwarze Milchling ist außerdem ein Vorratspilz – da zeigt sie sich wieder, die Zukunft, die es nicht gibt. Und auch Spielregeln gibt es nicht. Nicht wie beim Angeln – fangen, ausnehmen, braten, essen. Das ist schon näher dran an der Realität.


Wie dem auch sei, man muss das Leben genießen. Ich halte mein Gesicht in die Sonne. Nichts hindert die letzten warmen Strahlen, nichts bremst die Lichtgeschwindigkeit, denn ich stehe neben dem neuen Gebäude des Obersten Gerichtshofes. Der Platz davor ist eine riesige Ödnis ohne Bäume. Ich bin gerade arbeitslos geworden; im Land wurden mehrere hundert Organisationen aufgelöst, und heute war unsere an der Reihe. Angeblich haben wir irgendwelche Vorschriften im „globalen Computernetzwerk Internet“ ignoriert und den Kontrollinstanzen Dokumente vorenthalten. Dass sie die Hälfte dieser Dokumente bei der Durchsuchung konfisziert und die andere Hälfte zusammen mit dem Büro versiegelt haben, hat niemanden interessiert. Ich stehe da und denke nach über das „globale Computernetzwerk Internet“. Ist es wirklich so global? Und geht es überhaupt um Computer, und wenn ja, warum?

Wenn Prousts Held sich schlaflos im Bett wälzt und seine blassen Beine betrachtet, denkt er an die Frauen, mit denen er es gut hatte. Wenn ich nicht schlafen kann, denke ich eher an das, was der in Ungnade gefallene Schauspieler Alexander Schdanowitsch einmal gesagt hat: „Jetzt in Belarus zu bleiben, ist wie in einem Zimmer zu wohnen, in dem sich unter dem Bett eine giftige Schlange versteckt.“ Eine Freundin von mir, sie ist Künstlerin, erwiderte, das Leben sei grundsätzlich eine Schlange unter dem Bett, nur sei es in Belarus eine schwarze Mamba. Ehrlich gesagt, wenn du schon ein Jahr chronisch an Schlafstörungen leidest, kommt es dir so vor, als würde unter deinem Bett ein ganzes Schlangennest hausen.

Wenn einem etwas scheint, dann muss man sich bekreuzigen, so ein Sprichwort. Schließlich kann man seine subjektiven Wirklichkeiten, die einen in Form von Empfindungen überkommen, nicht anderen Menschen aufzwingen. Ja, hier in dieser Stadt, wo zwölf deiner Freunde schon im Gefängnis gesessen haben und weitere Angehörige immer noch sitzen, kann man Lebensfreude nur imitieren. Andererseits musst du sie auch imitieren, sonst frisst dich die Brut auf, die unter deinem Sofa zischt.


„Na, Sie waren ja ewig nicht mehr zum Haareschneiden hier, bestimmt zwei Monate. Ist schon völlig rausgewachsen. Heute kam ein merkwürdiger Typ hier rein, der wollte unbedingt die Haare auf Pump geschnitten bekommen, hatte wohl sein Geld versoffen und kam dann her. Bei uns im Wohnheim wimmelt es von denen, wollen mal dies, mal das, und dann kommt noch dein Göttergatte, bettelt rum. Welches Wohnheim? Na, das für Energietechniker. Warum soll ich Energietechniker sein, ich bin kein Energietechniker, ich weiß gar nicht, wie viele es bei uns noch gibt von denen, vielleicht gar keine mehr, alle möglichen wohnen da, seit letztem Jahr sind es weniger geworden, die haben alle Rot-Weißen rausgefischt und auf die Straße gesetzt, wissen Sie, woran sie die erkennen? An den Augen. Als die auf die Straßen gekommen sind, da wurden ja die Augen gefilmt, und so haben sie nachher alle erkannt. Bei uns wurden vierzig Leute rausgeworfen. Aber jetzt ist kein Platz mehr, natürlich sind dafür Neue nachgekommen, sogar ein stellvertretender Minister hat bei uns gewohnt, als der alte entlassen wurde. Aus Witebsk kam der neue, hat immer gelächelt, unsere Mädels waren gleich Feuer und Flamme, aber dann kam seine Frau übers Wochenende, hat sie gesehen, und gesagt „Schluss, morgen ziehe ich hierher“. Die hat dann niemanden gegrüßt. Aber jetzt haben sie irgendeine Dienstwohnung bekommen. Aber klar, unsere Mädels sind heiß. Ach was, die sind keine Energietechnikerinnen. Die haben alle drei, vier Kinder, leben vom Kindergeld. Draußen findet man gar keinen Parkplatz mehr, die kaufen sich alle einen Geely auf Kredit, die Kinder lassen sie barfuß im Flur rumlaufen, in dreckigen T-Shirts, stehen alle rum und rauchen, sagen Hi!, die Kinder sind bis abends sowieso wieder durchnässt, das härtet ab, da braucht man keine Schuhe zu kaufen, wenn sie barfuß rumrennen Und dann immer: Hast du einen Bonbon für mich, manchmal geb ich ihnen eins. Haben Sie auch Kinder? Ja? Ach so.“


Insgesamt glaube ich nicht, dass sich alles auf Dauer beruhigt hat. Nur die Ordnung hat sich verändert im direkten wie im übertragenen Sinn. Die Belarussen waren schon immer Meister im Universum des Überlebens, diese Fähigkeit kann ihnen niemand nehmen. Ein vernünftiger Mensch denkt strategisch, das mag die Staatsmacht nicht. Denn das strategische Denken – das zukunftsgerichtete Denken, das Denken in großen Begriffen – spielt nie auf der Seite der Gewalt. Jede Thrombose wird früher oder später bereinigt, der Organismus versteht die Notwendigkeit, sich selbst zu heilen, damit das Blut normal fließen kann.

Aber bis dahin, bis dahin rauche ich in der Dunkelheit und atme die Fäulnis der Ebbe ein.     


Weitere Themen

Bystro #29: Wurde der Protestwille der Belarussen gebrochen?


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter: