Europas Energiewende – Russlands Systemkrise?

Bei Gazprom rollt derzeit der Rubel: Die Ostseepipeline Nord Stream 2 ist fertig, der Gaspreis in Europa bricht historische Terminbörsen-Rekorde, die europäischen Gasspeicher sind nach dem kalten Winter noch nicht aufgefüllt, und schon steht der nächste Winter vor der Tür. Obwohl Gazprom mit erheblichen Problemen zu kämpfen hat, sind die Aussichten des Unternehmens in den nächsten Jahren offenbar glänzend. 
Unkenrufe dagegen ertönen in jüngster Zeit zunehmend zum Thema Kohle und Erdöl(produkte): Sberbank-Chef German Gref etwa warnte kürzlich, dass durch die weltweit zunehmende Abkehr von fossilen Energieträgern Russlands Exporte einbrechen könnten, bis 2035 könnte sich dadurch ein riesiges Haushaltsloch auftun. Dann würden auch die Einkünfte der Menschen in Russland, so Gref, um fast 15 Prozent zurückgehen. 

„25 Prozent“, korrigiert Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew nun im Interview auf Znak. Die in vielen Ländern angestrebte Energiewende, meint Inosemzew, werde Russland schon bald stark zusetzen. dekoder bringt einzelne seiner Thesen.

„Das aktuelle politische System Russlands ist eine Rakete, die von der Erde losgeschossen in den offenen Kosmos geflogen ist, und nun fliegt sie und fliegt, weiter und weiter. Bis sie mit einem Asteroiden zusammenstößt.

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Der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern könnte sich als ein solcher Asteroid erweisen. Und zwar weitaus früher als 2035. Seinerzeit sprach man von der Schiefergasrevolution und Flüssiggas in einem Zeithorizont von 15 bis 20 Jahren, doch der Übergang zu Fracking und Flüssiggas vollzog sich sehr viel schneller, innerhalb von nur rund sechs Jahren. So gesehen wird uns die Energiewende schon in acht bis neun Jahren merklich treffen.

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Noch sind die Preise für Energieträger hoch und steigen möglicherweise noch weiter an. Zwei oder drei Jahre mit beeindruckenden Exporterlösen sind uns wahrscheinlich noch sicher. Der Staatshaushalt und der Nationale Wohlstandsfonds werden vor lauter Geld bersten. Doch es wird der letzte Atemzug sein, wie an einem Beatmungsgerät. Von 2024 oder 2025 an werden die Preise und die Exporerträge schnell schrumpfen. Angesparte Reserven und Staatsanleihen werden wohl noch weitere fünf Jahre für Linderung sorgen. Aber Anfang der 2030er Jahre wird es dann brenzlig.

Selbst wenn man sich vorstellt, der Kreml und das Weiße Haus würden morgen früh anfangen, Russland zu modernisieren, wird es immer noch anderen Ländern hinterherhinken. Man hätte damit schon vor 13 Jahren beginnen sollen, als die Ölpreise bei bis zu 140 Dollar pro Barrel lagen, der US-Dollar 23 Rubel wert war und die Bedingungen für Import und die Inbetriebnahme moderner Technik noch bestens waren. Doch stattdessen entspannte sich das russische Establishment und war glücklich und zufrieden. Und damit ist es nicht allein: Man geht keine Reformen an, wenn es einem gut geht. Das war bei den Japanern so, bei den Koreanern, in Taiwan, eigentlich überall.

Der Unterschied besteht darin, dass unsere Ganoven, so scheint mir, keine Reformen in Angriff nehmen werden. Denn trotz der Warnungen von Sberbank-Chef German Gref […] sind sie zu sehr damit beschäftigt, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen – und merken kaum, wie die Krise näher und näher rückt.“

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