„So funktioniert weder das kluge noch das dumme Wählen“

Schon lange vor seiner Verhaftung im Januar 2021 warben Nawalny und sein Team für ein „kluges Wählen“: Diese Taktik sieht vor, dass jeweils dem aussichtsreichsten Kandidaten der Opposition die Stimme gegeben wird – egal, welcher Partei der Systemopposition er angehört. Ziel ist, so die verfassungsgebende Mehrheit der Regierungspartei Einiges Russland zu brechen.
Dann wurde Nawalny nach seiner Rückkehr aus Deutschland verhaftet, seine Organisationen – auch die russlandweiten Wahlkampfteams – für „extremistisch“ erklärt, zudem flohen zahlreiche führende Köpfe wie der Wahlkampfchef Leonid Wolkow oder die FBK-Juristin Ljubow Sobol ins Exil. Das „kluge Wählen“ jedoch ist theoretisch dennoch möglich – aus dem Exil versucht Nawalnys Team weiter dafür zu werben. Die Frage ist, wie gut dies gelingt, zumal Beobachter vor Ort aufgeben mussten und zahlreiche Websites der Nawalny-Organisationen blockiert sind – auch die App und die Website zum „klugen Wählen“.

Eine gewisse Nervosität seitens der russischen Behörden ist kurz vor der Wahl jedenfalls spürbar: In Umfragen liegt die Beliebtheit der Regierungspartei Einiges Russland unter 30 Prozent. Putin ordnete ein einmaliges Geldgeschenke an russische Rentner an – rund 115 Euro, die Durchschnittsrente liegt bei umgerechnet etwa 180 Euro. Zudem gilt die Rentenreform von 2018 als einer der Gründe für die Unzufriedenheit vieler Wählerinnen und Wähler. Videobeobachtung bei der Wahl wird es wegen potentieller „Cyberangriffe” aus dem Ausland nicht geben, die unabhängigen Wahlbeobachter von Golos sind als „ausländische Agenten“ diffamiert.

Seit Januar gehen die Behörden massiv gegen die Nicht-System-Opposition vor. Der Begriff umnoje golossowanije (kluges Wählen) darf auf Anordnung eines Moskauer Gerichts nicht in Suchergebnissen von Google und der in Russland populären Suchmaschine Yandex angezeigt werden. Und in Rostow-am-Don bekam die Aktivistin Bella Nassibjan zunächst eine fünftägige Haftstrafe (die später in eine Geldstrafe umgewandelt wurde) wegen „Propaganda extremistischer Symbolik”, weil sie in ihrer Instagram-Story ein Plakat geteilt hatte, das zum „klugen Wählen” aufruft.

Die Novaya Gazeta veröffentlichte nun den Audiomitschnitt einer Schulung für Wahlhelfer in Koroljow bei Moskau: Darin gibt mutmaßlich Shanna Prokofjewa, Beraterin des Bürgermeisters der Stadt, Instruktionen zur Wahlfälschung, damit „weder ein kluges noch ein dummes Wählen funktioniert”. Meduza hat den Mitschnitt – nicht immer streng wortwörtlich – zusammengefasst.

Von der Stadtregierung kam eine große Bitte: Alles so zu machen, dass es keine Beanstandungen und Beschwerden gebe. Wir selbst wollen uns nicht rechtfertigen oder Aussagen machen oder mit der Staatsanwaltschaft sprechen müssen. Uns interessiert nur eine konkrete Zahl und eine konkrete Partei [die Regierungspartei Einiges Russland – dek] – und 42 bis 45 Prozent für ihre Liste. Ich hoffe, [die unabhängigen Wahlbeobachter – dek] haben nicht genug Kraft, um uns zu überführen. Mit den Beobachtern von der LDPR sind wir auf einer Linie; was die Partija Rosta [Wachstumspartei – dek] angeht, machen wir uns keine Sorgen; mit den Kommunisten sollte auch alles klargehen: Wie auch immer die sind – sie gehören zu uns, zu uns aus Koroljow, und nicht zu denen aus Amiland. Man muss es so machen, dass im Wahllokal nur unsere Leute sind, keine anderen.

Ein Aufkleber wirbt in Moskau vor den Dumawahlen für „kluges Wählen" © Alexander Miridonow/Kommersant

Wenn Sie alles es richtig machen, dann wird weder kluges noch dummes noch sonst irgendein Wählen funktionieren. Wir machen zwei Listen, wer gewählt hat: eine für Wähler und eine für Beobachter. Ich empfehle, die Liste, die Sie abgeben werden, schon im Vorfeld anzulegen – schließlich gibt es bei 45 Prozent ja eine ganze Menge auszufüllen. Wenn der letzte Wähler gegangen ist, bleiben alle mit den Wahllisten sitzen. So lange bis der Moment kommt, um sie auszutauschen, wenn nötig bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. 


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